Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Gespräche nimmt das Proletarierkiud während seiner nächtlichen Wanderung
in sich auf. Wie oft mag es sogar Zeuge abscheulicher Handlungen sein!
Und da soll es nicht sittlich erkranken, wenn es so direkt und schutzlos der
Pestluft ausgesetzt ist, die dem unzüchtigen Treiben des nächtlichen Großstadt¬
lebens entsteigt?

Wer sind die besten Freundinnen der kleinen Blumenverkäuferinnen, wer
wirft ihnen mitleidig einen Nickel zu, wer spricht zu ihnen im Vorübergehen
einige freundliche Worte -- die einzigen vielleicht, die diese unglücklichen Kinder
überhaupt zu hören bekommen? Es sind die Dirnen der Straße, die dieselbe
Zeit zu ihrem traurigen Gewerbe benützen. Dann sieht wohl so ein armes
Blumenmädchen mit sehnsüchtigen Blicken der im Vergleich zu ihm selbst vor¬
nehm gekleideten "Dame" nach: ja, wer es auch so gut haben könnte! Aber
noch zwei, drei Jahre -- arme Kinder, ihr seid die Kadetten zu dem großen
Heere der Prostituirten und ihrer Zuhälter! Denn auch der Knabe, der dem
nächtliche" Straßenhandel obliegen muß, sieht zumeist in der Eleganz und in
dem Treiben des auf seinen nächtlichen Beutezug streifenden Ronv, in der
gewaltthätigen Kraft des Zuhälters, deren Proben er gewiß nicht selten zu
sehen bekommt, ein trauriges Ideal, dem er in Ermanglung eines bessern
zustrebt.

Unter solchen Eindrücken und Einflüssen wachsen diese Kinder, deren Zahl
nicht gering ist, heran. Die Schule vermag in den wenigen Stunden des
Tages nicht die Mächte, die während der Nacht die Herrschaft über die Seele
des Kindes gewonnen haben, zu besiegen, zu vertreiben. Und sind erst einmal
diese Kinder der Zucht der Schule entwachsen, ist erst einmal die Zeit der
"Freiheit" über sie gekommen, dann hindert die Physisch und seelisch hernnter-
gckommnen Wesen nichts mehr, den Weg des Lasters zu beschreiten, den sie
ja nur zu gut vou Kindheit an kennen gelernt haben. Vielleicht versuchen die
einen oder andern, sich durch ehrliche Arbeit zu ernähren, aber den Unglück¬
lichen fehlt meistens die sittliche Spannkraft, die erforderlich ist, um für das
tägliche Brot ehrlich zu arbeiten. Die meisten haben diese sittliche Kraft schon
verloren, als sie auf der Straße den Angriffen auf ihr unschuldiges Kinder¬
gemüt schutzlos und wehrlos gegenüberstanden.

So wird denn nach einem schwachen mißlungnen Versuch die Arbeit aus¬
gegeben, und die Gescheiterem folgen dem Beispiel der alten Bekannten von
der Straße. Die neue Beschäftigung, der sie von jenen zugeführt werden, ist
müheloser und einträglicher. Für den Nachwuchs der Prostitution und ihres
Anhangs ist also gesorgt.

Man wird einwenden, daß sich nicht alle Prostituirten und Zuhälter aus
diesen Unglücklichen rekrutiren, daß auch Mädchen und Knaben, die keinen
Straßenverkauf treiben oder getrieben haben, der Prostitution und den mit ihr
zusammenhängenden unzüchtigen Gewerben anheimfallen. Ganz recht, aber be-


Gespräche nimmt das Proletarierkiud während seiner nächtlichen Wanderung
in sich auf. Wie oft mag es sogar Zeuge abscheulicher Handlungen sein!
Und da soll es nicht sittlich erkranken, wenn es so direkt und schutzlos der
Pestluft ausgesetzt ist, die dem unzüchtigen Treiben des nächtlichen Großstadt¬
lebens entsteigt?

Wer sind die besten Freundinnen der kleinen Blumenverkäuferinnen, wer
wirft ihnen mitleidig einen Nickel zu, wer spricht zu ihnen im Vorübergehen
einige freundliche Worte — die einzigen vielleicht, die diese unglücklichen Kinder
überhaupt zu hören bekommen? Es sind die Dirnen der Straße, die dieselbe
Zeit zu ihrem traurigen Gewerbe benützen. Dann sieht wohl so ein armes
Blumenmädchen mit sehnsüchtigen Blicken der im Vergleich zu ihm selbst vor¬
nehm gekleideten „Dame" nach: ja, wer es auch so gut haben könnte! Aber
noch zwei, drei Jahre — arme Kinder, ihr seid die Kadetten zu dem großen
Heere der Prostituirten und ihrer Zuhälter! Denn auch der Knabe, der dem
nächtliche» Straßenhandel obliegen muß, sieht zumeist in der Eleganz und in
dem Treiben des auf seinen nächtlichen Beutezug streifenden Ronv, in der
gewaltthätigen Kraft des Zuhälters, deren Proben er gewiß nicht selten zu
sehen bekommt, ein trauriges Ideal, dem er in Ermanglung eines bessern
zustrebt.

Unter solchen Eindrücken und Einflüssen wachsen diese Kinder, deren Zahl
nicht gering ist, heran. Die Schule vermag in den wenigen Stunden des
Tages nicht die Mächte, die während der Nacht die Herrschaft über die Seele
des Kindes gewonnen haben, zu besiegen, zu vertreiben. Und sind erst einmal
diese Kinder der Zucht der Schule entwachsen, ist erst einmal die Zeit der
„Freiheit" über sie gekommen, dann hindert die Physisch und seelisch hernnter-
gckommnen Wesen nichts mehr, den Weg des Lasters zu beschreiten, den sie
ja nur zu gut vou Kindheit an kennen gelernt haben. Vielleicht versuchen die
einen oder andern, sich durch ehrliche Arbeit zu ernähren, aber den Unglück¬
lichen fehlt meistens die sittliche Spannkraft, die erforderlich ist, um für das
tägliche Brot ehrlich zu arbeiten. Die meisten haben diese sittliche Kraft schon
verloren, als sie auf der Straße den Angriffen auf ihr unschuldiges Kinder¬
gemüt schutzlos und wehrlos gegenüberstanden.

So wird denn nach einem schwachen mißlungnen Versuch die Arbeit aus¬
gegeben, und die Gescheiterem folgen dem Beispiel der alten Bekannten von
der Straße. Die neue Beschäftigung, der sie von jenen zugeführt werden, ist
müheloser und einträglicher. Für den Nachwuchs der Prostitution und ihres
Anhangs ist also gesorgt.

Man wird einwenden, daß sich nicht alle Prostituirten und Zuhälter aus
diesen Unglücklichen rekrutiren, daß auch Mädchen und Knaben, die keinen
Straßenverkauf treiben oder getrieben haben, der Prostitution und den mit ihr
zusammenhängenden unzüchtigen Gewerben anheimfallen. Ganz recht, aber be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0132" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227768"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_337" prev="#ID_336"> Gespräche nimmt das Proletarierkiud während seiner nächtlichen Wanderung<lb/>
in sich auf. Wie oft mag es sogar Zeuge abscheulicher Handlungen sein!<lb/>
Und da soll es nicht sittlich erkranken, wenn es so direkt und schutzlos der<lb/>
Pestluft ausgesetzt ist, die dem unzüchtigen Treiben des nächtlichen Großstadt¬<lb/>
lebens entsteigt?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_338"> Wer sind die besten Freundinnen der kleinen Blumenverkäuferinnen, wer<lb/>
wirft ihnen mitleidig einen Nickel zu, wer spricht zu ihnen im Vorübergehen<lb/>
einige freundliche Worte &#x2014; die einzigen vielleicht, die diese unglücklichen Kinder<lb/>
überhaupt zu hören bekommen? Es sind die Dirnen der Straße, die dieselbe<lb/>
Zeit zu ihrem traurigen Gewerbe benützen. Dann sieht wohl so ein armes<lb/>
Blumenmädchen mit sehnsüchtigen Blicken der im Vergleich zu ihm selbst vor¬<lb/>
nehm gekleideten &#x201E;Dame" nach: ja, wer es auch so gut haben könnte! Aber<lb/>
noch zwei, drei Jahre &#x2014; arme Kinder, ihr seid die Kadetten zu dem großen<lb/>
Heere der Prostituirten und ihrer Zuhälter! Denn auch der Knabe, der dem<lb/>
nächtliche» Straßenhandel obliegen muß, sieht zumeist in der Eleganz und in<lb/>
dem Treiben des auf seinen nächtlichen Beutezug streifenden Ronv, in der<lb/>
gewaltthätigen Kraft des Zuhälters, deren Proben er gewiß nicht selten zu<lb/>
sehen bekommt, ein trauriges Ideal, dem er in Ermanglung eines bessern<lb/>
zustrebt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_339"> Unter solchen Eindrücken und Einflüssen wachsen diese Kinder, deren Zahl<lb/>
nicht gering ist, heran. Die Schule vermag in den wenigen Stunden des<lb/>
Tages nicht die Mächte, die während der Nacht die Herrschaft über die Seele<lb/>
des Kindes gewonnen haben, zu besiegen, zu vertreiben. Und sind erst einmal<lb/>
diese Kinder der Zucht der Schule entwachsen, ist erst einmal die Zeit der<lb/>
&#x201E;Freiheit" über sie gekommen, dann hindert die Physisch und seelisch hernnter-<lb/>
gckommnen Wesen nichts mehr, den Weg des Lasters zu beschreiten, den sie<lb/>
ja nur zu gut vou Kindheit an kennen gelernt haben. Vielleicht versuchen die<lb/>
einen oder andern, sich durch ehrliche Arbeit zu ernähren, aber den Unglück¬<lb/>
lichen fehlt meistens die sittliche Spannkraft, die erforderlich ist, um für das<lb/>
tägliche Brot ehrlich zu arbeiten. Die meisten haben diese sittliche Kraft schon<lb/>
verloren, als sie auf der Straße den Angriffen auf ihr unschuldiges Kinder¬<lb/>
gemüt schutzlos und wehrlos gegenüberstanden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_340"> So wird denn nach einem schwachen mißlungnen Versuch die Arbeit aus¬<lb/>
gegeben, und die Gescheiterem folgen dem Beispiel der alten Bekannten von<lb/>
der Straße. Die neue Beschäftigung, der sie von jenen zugeführt werden, ist<lb/>
müheloser und einträglicher. Für den Nachwuchs der Prostitution und ihres<lb/>
Anhangs ist also gesorgt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_341" next="#ID_342"> Man wird einwenden, daß sich nicht alle Prostituirten und Zuhälter aus<lb/>
diesen Unglücklichen rekrutiren, daß auch Mädchen und Knaben, die keinen<lb/>
Straßenverkauf treiben oder getrieben haben, der Prostitution und den mit ihr<lb/>
zusammenhängenden unzüchtigen Gewerben anheimfallen. Ganz recht, aber be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0132] Gespräche nimmt das Proletarierkiud während seiner nächtlichen Wanderung in sich auf. Wie oft mag es sogar Zeuge abscheulicher Handlungen sein! Und da soll es nicht sittlich erkranken, wenn es so direkt und schutzlos der Pestluft ausgesetzt ist, die dem unzüchtigen Treiben des nächtlichen Großstadt¬ lebens entsteigt? Wer sind die besten Freundinnen der kleinen Blumenverkäuferinnen, wer wirft ihnen mitleidig einen Nickel zu, wer spricht zu ihnen im Vorübergehen einige freundliche Worte — die einzigen vielleicht, die diese unglücklichen Kinder überhaupt zu hören bekommen? Es sind die Dirnen der Straße, die dieselbe Zeit zu ihrem traurigen Gewerbe benützen. Dann sieht wohl so ein armes Blumenmädchen mit sehnsüchtigen Blicken der im Vergleich zu ihm selbst vor¬ nehm gekleideten „Dame" nach: ja, wer es auch so gut haben könnte! Aber noch zwei, drei Jahre — arme Kinder, ihr seid die Kadetten zu dem großen Heere der Prostituirten und ihrer Zuhälter! Denn auch der Knabe, der dem nächtliche» Straßenhandel obliegen muß, sieht zumeist in der Eleganz und in dem Treiben des auf seinen nächtlichen Beutezug streifenden Ronv, in der gewaltthätigen Kraft des Zuhälters, deren Proben er gewiß nicht selten zu sehen bekommt, ein trauriges Ideal, dem er in Ermanglung eines bessern zustrebt. Unter solchen Eindrücken und Einflüssen wachsen diese Kinder, deren Zahl nicht gering ist, heran. Die Schule vermag in den wenigen Stunden des Tages nicht die Mächte, die während der Nacht die Herrschaft über die Seele des Kindes gewonnen haben, zu besiegen, zu vertreiben. Und sind erst einmal diese Kinder der Zucht der Schule entwachsen, ist erst einmal die Zeit der „Freiheit" über sie gekommen, dann hindert die Physisch und seelisch hernnter- gckommnen Wesen nichts mehr, den Weg des Lasters zu beschreiten, den sie ja nur zu gut vou Kindheit an kennen gelernt haben. Vielleicht versuchen die einen oder andern, sich durch ehrliche Arbeit zu ernähren, aber den Unglück¬ lichen fehlt meistens die sittliche Spannkraft, die erforderlich ist, um für das tägliche Brot ehrlich zu arbeiten. Die meisten haben diese sittliche Kraft schon verloren, als sie auf der Straße den Angriffen auf ihr unschuldiges Kinder¬ gemüt schutzlos und wehrlos gegenüberstanden. So wird denn nach einem schwachen mißlungnen Versuch die Arbeit aus¬ gegeben, und die Gescheiterem folgen dem Beispiel der alten Bekannten von der Straße. Die neue Beschäftigung, der sie von jenen zugeführt werden, ist müheloser und einträglicher. Für den Nachwuchs der Prostitution und ihres Anhangs ist also gesorgt. Man wird einwenden, daß sich nicht alle Prostituirten und Zuhälter aus diesen Unglücklichen rekrutiren, daß auch Mädchen und Knaben, die keinen Straßenverkauf treiben oder getrieben haben, der Prostitution und den mit ihr zusammenhängenden unzüchtigen Gewerben anheimfallen. Ganz recht, aber be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/132
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/132>, abgerufen am 23.07.2024.