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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Zu dem Kampfe gegen die Unsittlichkeit

und den Weg der Tugend zu wandeln. Solange noch die Möglichkeit vor¬
handen ist, sich der Unsittlichkeit in die Arme zu werfen, wird kein noch so
strenger Strafgesetzbuchparagraph das stete Anwachsen der Zahl der sitten¬
losen verhindern. Die Thatsache, die auch wieder im Reichstage erwähnt
wurde, daß es überall und zu allen Zeiten Prostituirte gegeben habe, ist leider
richtig. Daraus aber zu folgern, daß es nun auch bis in alle Ewigkeit
diesen traurigen Stand geben müsse, ist ebenso unlogisch wie unsittlich: un¬
sittlich, weil es einer den höchsten ethischen Idealen zustrebenden menschlichen
Gesellschaft unwürdig ist, Mitglieder zu haben, die, selbst moralisch gesunken,
aus den sittlichen Fehlern der Mitmenschen ihren Lebensunterhalt ziehen. Un¬
logisch ist die Folgerung, weil kein noch so ehrwürdiges Alter imstande ist,
eine von jedem sittlich gesunden Mensche" als verwerflich bezeichnete Sache
zu heiligen.

Hatte etwa die Einrichtung der Sklaverei dadurch an sittlichem Werte
gewonnen, daß sie Jahrhunderte hindurch üblich war? Ist der Kanniba¬
lismus dadurch gcrechfertigt, daß er seit undenklichen Zeiten bei gewissen
wilden Völkerstämmen besteht? Nein! Was als unsittlich, als verwerflich,
als menschenunwürdig erkannt und empfunden wird, das hat kein Recht, auch
nur noch eine Stunde länger zu bestehen, das soll, das muß unterdrückt
werden. Aber wie? Kann durch ein gesetzliches Verbot, durch Strafandrohung
die Prostitution, das Kuppler- und Zuhälterwesen aufgehoben werden? Wir
haben vorher gesagt, und die Geschichte hat es bewiesen, daß dnrch ein bloßes
gesetzliches Einschreiten die Unsittlichkeit nicht beseitigt werden kann. Gesetzlich
verboten und mit schweren Strafen belegt sind Mord, Raub, Diebstahl,
Betrug und Wucher. Sind diese Vergehen von der Bildflüche verschwunden?
Jeder Tag beweist das Gegenteil. Auch in dem vorliegenden Fall ist mit
einem Gesetz, mit Androhung und Vollziehung von Strafen nichts gethan.
Die der Unzucht Verfallnen werden stets, bis auf eine kleine Anzahl, für die
menschliche Gesellschaft unwiederbringlich verloren sein; sie werden immer Mittel
und Wege finden, das Gesetz zu umgehen, dem Laster zu fröhnen und so eine
stete Gefahr für die heranwachsende Jugend sein. Es kann der Gesellschaft
nichts daran liegen, nur äußerlich, durch das Strafgesetzbuch, die Unsittlichkeit
zu bekämpfen, aber das gefährliche Feuer unter der Asche fortglimmen zu lassen:
auf moralischem Wege muß die Unzucht bekämpft werden; die Sitten müssen
von innen, nicht von außen gebessert werden. Hierfür giebt es nur einen
Weg -- den der Erziehung.

Die Kardinalfrage ist: Wie soll in Zukunft verhütet werden, daß sich
Mädchen der Prostitution, Frauen und Männer der Kuppelei oder dem Zu-
hältertum ergeben?

Die Vertreterinnen der Frauenbewegung haben wohl richtig gesagt: "Es
gäbe keine Sünderinnen, wenn es keine Sünder gäbe." Aber das gilt doch


Zu dem Kampfe gegen die Unsittlichkeit

und den Weg der Tugend zu wandeln. Solange noch die Möglichkeit vor¬
handen ist, sich der Unsittlichkeit in die Arme zu werfen, wird kein noch so
strenger Strafgesetzbuchparagraph das stete Anwachsen der Zahl der sitten¬
losen verhindern. Die Thatsache, die auch wieder im Reichstage erwähnt
wurde, daß es überall und zu allen Zeiten Prostituirte gegeben habe, ist leider
richtig. Daraus aber zu folgern, daß es nun auch bis in alle Ewigkeit
diesen traurigen Stand geben müsse, ist ebenso unlogisch wie unsittlich: un¬
sittlich, weil es einer den höchsten ethischen Idealen zustrebenden menschlichen
Gesellschaft unwürdig ist, Mitglieder zu haben, die, selbst moralisch gesunken,
aus den sittlichen Fehlern der Mitmenschen ihren Lebensunterhalt ziehen. Un¬
logisch ist die Folgerung, weil kein noch so ehrwürdiges Alter imstande ist,
eine von jedem sittlich gesunden Mensche» als verwerflich bezeichnete Sache
zu heiligen.

Hatte etwa die Einrichtung der Sklaverei dadurch an sittlichem Werte
gewonnen, daß sie Jahrhunderte hindurch üblich war? Ist der Kanniba¬
lismus dadurch gcrechfertigt, daß er seit undenklichen Zeiten bei gewissen
wilden Völkerstämmen besteht? Nein! Was als unsittlich, als verwerflich,
als menschenunwürdig erkannt und empfunden wird, das hat kein Recht, auch
nur noch eine Stunde länger zu bestehen, das soll, das muß unterdrückt
werden. Aber wie? Kann durch ein gesetzliches Verbot, durch Strafandrohung
die Prostitution, das Kuppler- und Zuhälterwesen aufgehoben werden? Wir
haben vorher gesagt, und die Geschichte hat es bewiesen, daß dnrch ein bloßes
gesetzliches Einschreiten die Unsittlichkeit nicht beseitigt werden kann. Gesetzlich
verboten und mit schweren Strafen belegt sind Mord, Raub, Diebstahl,
Betrug und Wucher. Sind diese Vergehen von der Bildflüche verschwunden?
Jeder Tag beweist das Gegenteil. Auch in dem vorliegenden Fall ist mit
einem Gesetz, mit Androhung und Vollziehung von Strafen nichts gethan.
Die der Unzucht Verfallnen werden stets, bis auf eine kleine Anzahl, für die
menschliche Gesellschaft unwiederbringlich verloren sein; sie werden immer Mittel
und Wege finden, das Gesetz zu umgehen, dem Laster zu fröhnen und so eine
stete Gefahr für die heranwachsende Jugend sein. Es kann der Gesellschaft
nichts daran liegen, nur äußerlich, durch das Strafgesetzbuch, die Unsittlichkeit
zu bekämpfen, aber das gefährliche Feuer unter der Asche fortglimmen zu lassen:
auf moralischem Wege muß die Unzucht bekämpft werden; die Sitten müssen
von innen, nicht von außen gebessert werden. Hierfür giebt es nur einen
Weg — den der Erziehung.

Die Kardinalfrage ist: Wie soll in Zukunft verhütet werden, daß sich
Mädchen der Prostitution, Frauen und Männer der Kuppelei oder dem Zu-
hältertum ergeben?

Die Vertreterinnen der Frauenbewegung haben wohl richtig gesagt: „Es
gäbe keine Sünderinnen, wenn es keine Sünder gäbe." Aber das gilt doch


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[0130] Zu dem Kampfe gegen die Unsittlichkeit und den Weg der Tugend zu wandeln. Solange noch die Möglichkeit vor¬ handen ist, sich der Unsittlichkeit in die Arme zu werfen, wird kein noch so strenger Strafgesetzbuchparagraph das stete Anwachsen der Zahl der sitten¬ losen verhindern. Die Thatsache, die auch wieder im Reichstage erwähnt wurde, daß es überall und zu allen Zeiten Prostituirte gegeben habe, ist leider richtig. Daraus aber zu folgern, daß es nun auch bis in alle Ewigkeit diesen traurigen Stand geben müsse, ist ebenso unlogisch wie unsittlich: un¬ sittlich, weil es einer den höchsten ethischen Idealen zustrebenden menschlichen Gesellschaft unwürdig ist, Mitglieder zu haben, die, selbst moralisch gesunken, aus den sittlichen Fehlern der Mitmenschen ihren Lebensunterhalt ziehen. Un¬ logisch ist die Folgerung, weil kein noch so ehrwürdiges Alter imstande ist, eine von jedem sittlich gesunden Mensche» als verwerflich bezeichnete Sache zu heiligen. Hatte etwa die Einrichtung der Sklaverei dadurch an sittlichem Werte gewonnen, daß sie Jahrhunderte hindurch üblich war? Ist der Kanniba¬ lismus dadurch gcrechfertigt, daß er seit undenklichen Zeiten bei gewissen wilden Völkerstämmen besteht? Nein! Was als unsittlich, als verwerflich, als menschenunwürdig erkannt und empfunden wird, das hat kein Recht, auch nur noch eine Stunde länger zu bestehen, das soll, das muß unterdrückt werden. Aber wie? Kann durch ein gesetzliches Verbot, durch Strafandrohung die Prostitution, das Kuppler- und Zuhälterwesen aufgehoben werden? Wir haben vorher gesagt, und die Geschichte hat es bewiesen, daß dnrch ein bloßes gesetzliches Einschreiten die Unsittlichkeit nicht beseitigt werden kann. Gesetzlich verboten und mit schweren Strafen belegt sind Mord, Raub, Diebstahl, Betrug und Wucher. Sind diese Vergehen von der Bildflüche verschwunden? Jeder Tag beweist das Gegenteil. Auch in dem vorliegenden Fall ist mit einem Gesetz, mit Androhung und Vollziehung von Strafen nichts gethan. Die der Unzucht Verfallnen werden stets, bis auf eine kleine Anzahl, für die menschliche Gesellschaft unwiederbringlich verloren sein; sie werden immer Mittel und Wege finden, das Gesetz zu umgehen, dem Laster zu fröhnen und so eine stete Gefahr für die heranwachsende Jugend sein. Es kann der Gesellschaft nichts daran liegen, nur äußerlich, durch das Strafgesetzbuch, die Unsittlichkeit zu bekämpfen, aber das gefährliche Feuer unter der Asche fortglimmen zu lassen: auf moralischem Wege muß die Unzucht bekämpft werden; die Sitten müssen von innen, nicht von außen gebessert werden. Hierfür giebt es nur einen Weg — den der Erziehung. Die Kardinalfrage ist: Wie soll in Zukunft verhütet werden, daß sich Mädchen der Prostitution, Frauen und Männer der Kuppelei oder dem Zu- hältertum ergeben? Die Vertreterinnen der Frauenbewegung haben wohl richtig gesagt: „Es gäbe keine Sünderinnen, wenn es keine Sünder gäbe." Aber das gilt doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/130>, abgerufen am 23.07.2024.