Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Reichsländische Zeitfragen wegen der bevorstehenden Reichstagswahlen wie wegen der Wichtigkeit und Wir haben überhaupt im Reichslande und mit dem Reichslande zu viel Grenzboten I 18!"8 81
Reichsländische Zeitfragen wegen der bevorstehenden Reichstagswahlen wie wegen der Wichtigkeit und Wir haben überhaupt im Reichslande und mit dem Reichslande zu viel Grenzboten I 18!»8 81
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0645" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227547"/> <fw type="header" place="top"> Reichsländische Zeitfragen</fw><lb/> <p xml:id="ID_2338" prev="#ID_2337"> wegen der bevorstehenden Reichstagswahlen wie wegen der Wichtigkeit und<lb/> Gerechtigkeit der diesmal in Frage stehenden Steuerreform. Unser „Rentner-<lb/> Parlament" wird in den sauern Apfel beißen müssen. Es ist nicht zufällig,<lb/> daß in den diesjährigen Verhandlungen gar keine Frische und Lebendigkeit<lb/> aufkommen will: die herannahende Entscheidung lastet schwer auf deu Gemütern.<lb/> Der Laudesausschuß hat ja nicht bloß mit der gefurchteren Wahlreform, sondern<lb/> auch mit der konkurrirenden Gesetzgebung des Reichstags zu rechnen; bei dieser<lb/> würden das Zentrum und die Demokratie die Hilfe versagen müssen, die sie<lb/> in der üblichen Sedezausgabe von Reichstag zu einem Entrüstungssturm auf<lb/> die „Ausuahmegesetzgebuug" gern hergebe». Das weiß die Opposition gegen<lb/> die Steuerreform sehr genau. Wenn diese trotzdem fallen sollte, so trügt die<lb/> stets gezeigte Überschätzung einen großen Teil der Schuld daran, weil sie als<lb/> Schwäche gedeutet wird. Als Schwäche werden auch solche Konzessionen wie<lb/> die Petrische Ernennung und die Mitwirkung von Abgeordneten bei der Gesetzes¬<lb/> ausführung angesehen. Sie hemmen, statt vorwärts zu helfen. Vorwärts<lb/> bringt uns nur gleichmäßige und sich immer gleichbleibende Festigkeit, ver¬<lb/> bunden mit der bestimmten Erklärung, daß wir in Deutschland nur deutsche<lb/> Interessen kennen. Das allein wirkt auf die „Einheimischen" und wird sie in<lb/> Deutschland einheimisch machen-</p><lb/> <p xml:id="ID_2339" next="#ID_2340"> Wir haben überhaupt im Reichslande und mit dem Reichslande zu viel<lb/> Gefühlspolitik getrieben. Da unser Gefühl uicht das allein zulässige stark¬<lb/> herzigen Wohlwollens war, so haben wir zu Surrogaten gegriffen. Zweierlei<lb/> vornehmlich ist immer im Schwange gewesen und hat darum einen dauernden<lb/> Niederschlag abgesetzt: niisre Volksschmeichelei an die „einheimische" Adresse,<lb/> und für unser eigenes Teil eine Selbstbescheidung, die Wohl noch nie an einem<lb/> Eroberer erlebt worden ist. Es fällt einem schwer, es zu sagen, aber unsre<lb/> Selbstbescheidung hat sich oft zu nationaler Selbstverleugnung gesteigert, die<lb/> Vvlksschmeichelei dagegen traf auf einen dafür nur zu wohl vorbereiteten Boden,<lb/> denn in der Selbstüberschätzung waren die Elsaß-Lothringer echte Franzosen<lb/> geworden. So haben wir denn dnrch die Volksschmeichelei die Elsaß-Lothringer<lb/> in der Meinung bestärkt, sie wären etwas besseres als andre, und sie könnten<lb/> immer beanspruchen, ohne etwas dafür zu leisten, während wir dnrch den<lb/> andern Fehler uns selber der gepriesenen Vortrefflichkeit zum abschätzigen Ver¬<lb/> gleich angeboten haben- Wir sind es, und von uns untrennbar das deutsche<lb/> Wesen, wogegen man sich besser dünkt. Das ist in der langen Zeit zur zweiten<lb/> Natur geworden, und um so mehr, als das -innere Deutschland nur sehr<lb/> wenigen genauer bekannt wird. Es handelt sich auch um keine mehr oder<lb/> weniger häufige Erscheinung, sondern um eine Volkseigenschaft und um ein<lb/> Stück von Gemeingefühl. Darin stimmen Kompatrioten und wirkliche Lands¬<lb/> leute vollständig überein, mag anch die Äußerung der übereinstimmenden<lb/> Empfindung Abstufungen zeigen und je nach Umständen größere oder geringere</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 18!»8 81</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0645]
Reichsländische Zeitfragen
wegen der bevorstehenden Reichstagswahlen wie wegen der Wichtigkeit und
Gerechtigkeit der diesmal in Frage stehenden Steuerreform. Unser „Rentner-
Parlament" wird in den sauern Apfel beißen müssen. Es ist nicht zufällig,
daß in den diesjährigen Verhandlungen gar keine Frische und Lebendigkeit
aufkommen will: die herannahende Entscheidung lastet schwer auf deu Gemütern.
Der Laudesausschuß hat ja nicht bloß mit der gefurchteren Wahlreform, sondern
auch mit der konkurrirenden Gesetzgebung des Reichstags zu rechnen; bei dieser
würden das Zentrum und die Demokratie die Hilfe versagen müssen, die sie
in der üblichen Sedezausgabe von Reichstag zu einem Entrüstungssturm auf
die „Ausuahmegesetzgebuug" gern hergebe». Das weiß die Opposition gegen
die Steuerreform sehr genau. Wenn diese trotzdem fallen sollte, so trügt die
stets gezeigte Überschätzung einen großen Teil der Schuld daran, weil sie als
Schwäche gedeutet wird. Als Schwäche werden auch solche Konzessionen wie
die Petrische Ernennung und die Mitwirkung von Abgeordneten bei der Gesetzes¬
ausführung angesehen. Sie hemmen, statt vorwärts zu helfen. Vorwärts
bringt uns nur gleichmäßige und sich immer gleichbleibende Festigkeit, ver¬
bunden mit der bestimmten Erklärung, daß wir in Deutschland nur deutsche
Interessen kennen. Das allein wirkt auf die „Einheimischen" und wird sie in
Deutschland einheimisch machen-
Wir haben überhaupt im Reichslande und mit dem Reichslande zu viel
Gefühlspolitik getrieben. Da unser Gefühl uicht das allein zulässige stark¬
herzigen Wohlwollens war, so haben wir zu Surrogaten gegriffen. Zweierlei
vornehmlich ist immer im Schwange gewesen und hat darum einen dauernden
Niederschlag abgesetzt: niisre Volksschmeichelei an die „einheimische" Adresse,
und für unser eigenes Teil eine Selbstbescheidung, die Wohl noch nie an einem
Eroberer erlebt worden ist. Es fällt einem schwer, es zu sagen, aber unsre
Selbstbescheidung hat sich oft zu nationaler Selbstverleugnung gesteigert, die
Vvlksschmeichelei dagegen traf auf einen dafür nur zu wohl vorbereiteten Boden,
denn in der Selbstüberschätzung waren die Elsaß-Lothringer echte Franzosen
geworden. So haben wir denn dnrch die Volksschmeichelei die Elsaß-Lothringer
in der Meinung bestärkt, sie wären etwas besseres als andre, und sie könnten
immer beanspruchen, ohne etwas dafür zu leisten, während wir dnrch den
andern Fehler uns selber der gepriesenen Vortrefflichkeit zum abschätzigen Ver¬
gleich angeboten haben- Wir sind es, und von uns untrennbar das deutsche
Wesen, wogegen man sich besser dünkt. Das ist in der langen Zeit zur zweiten
Natur geworden, und um so mehr, als das -innere Deutschland nur sehr
wenigen genauer bekannt wird. Es handelt sich auch um keine mehr oder
weniger häufige Erscheinung, sondern um eine Volkseigenschaft und um ein
Stück von Gemeingefühl. Darin stimmen Kompatrioten und wirkliche Lands¬
leute vollständig überein, mag anch die Äußerung der übereinstimmenden
Empfindung Abstufungen zeigen und je nach Umständen größere oder geringere
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