Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Die Bibel keine Situation, keine Charaktergestalt, der nicht das angemessenste stilistische Ob es eine deutsche Übersetzung geben mag, die der majestätischen Schönheit des
Originals gerecht wird? Ich kenne keine und lese deshalb das Alte Testament, da ich des Hebräischen nicht hinreichend mächtig bin, in der lateinischen Vulgnta. Die Bibel keine Situation, keine Charaktergestalt, der nicht das angemessenste stilistische Ob es eine deutsche Übersetzung geben mag, die der majestätischen Schönheit des
Originals gerecht wird? Ich kenne keine und lese deshalb das Alte Testament, da ich des Hebräischen nicht hinreichend mächtig bin, in der lateinischen Vulgnta. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0610" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227512"/> <fw type="header" place="top"> Die Bibel</fw><lb/> <p xml:id="ID_2183" prev="#ID_2182" next="#ID_2184"> keine Situation, keine Charaktergestalt, der nicht das angemessenste stilistische<lb/> Gewand geliehen wäre. Was kann sich in der Weltlitteratur mit dem Lapidar-<lb/> stil vergleichen, in dem die großen Ereignisse des ersten Buches Mosis erzählt<lb/> und die erhabnen Gestalten der Patriarchen vorgeführt werden! Wie knapp<lb/> und vollkommen verstehen die Verfasser der biblischen Bücher Personen, Ver¬<lb/> hältnisse, Situationen zu charakterisiren! Man denke an die Stelle im Liede<lb/> der Deborah, wo die Heldin von dem gemeuchelte» Sisera singt: Durchs Fenster<lb/> blickend, heult seine Mutter und spricht, warum zögert sein Wagen zu kommen,<lb/> warum sind die Füße seines Viergespanns so langsam? Da antwortet eine<lb/> von seinen klugem Frauen: Vielleicht teilt er eben die Beute, und wird ihm<lb/> die schönste der Frauen auserlesen, dazu buntfarbige Gewänder und Schmuck<lb/> um den Hals — so mögen, o Herr, umkommen alle deine Feinde! Und<lb/> welche Fabel ließe sich in der Schönheit der Form und in der schlagenden<lb/> Übereinstimmung von Sinnbild und Gesinnbildetem mit der des Jotham ver¬<lb/> gleichen von den Bäumen, die einen von ihnen zum König wühlen wollten?<lb/> Alle Gestalten und Situationen sind in der Bibel so plastisch dargestellt, daß<lb/> der bildende Künstler nur zuzugreifen braucht. Den Stoff haben die Maler<lb/> noch lange nicht erschöpft. Oder sollte z. B. 2. Samuel 3, 14 schon einmal<lb/> gemalt sein? David schickte Boten zu Jsboseth, dem Sohne Sauls, und<lb/> ließ ihm sagen: Gieb mir mein Weib Michell wieder, das ich mir an¬<lb/> getraut habe. Jsboseth schickte hin und ließ sie ihrem Manne Paltiel<lb/> nehmen. Und dieser ihr Mann folgte ihr weinend bis Bahurim. Dort<lb/> sagte Abner: Geh und kehre zurück; da kehrte der Mann zurück. Im<lb/> 20. Kapitel desselben Buches wird erzählt, wie David den Abisai, Joabs<lb/> Bruder, zur Dämpfung eines Aufruhrs ausschickte, gleichzeitig aber dem Amasci<lb/> einen gesonderten Oberbefehl zum selben Zwecke erteilte. Die drei Feldherren<lb/> stießen zusammen. Joab war mit einem eng anliegenden Gewände bekleidet<lb/> und hatte sein Dolchmesser so an der Hüfte hängen, daß es ganz leicht aus<lb/> der Scheide gezogen und gebraucht werden konnte. Er rief dem Amasci zu:<lb/> Sei gegrüßt, mein Bruder! und faßte ihn mit der Rechten am Kinn, als wollte<lb/> er ihn küssen, dabei aber stieß er ihm das Dolchmesser in den Leib, sodaß<lb/> er starb. Joab und Abisai setzten nun dem Empörer nach, die Vorüber¬<lb/> gehenden aber, die den Leichnam sahen, sagten: Das ist nun der, der an<lb/> Joabs Statt Davids Leibwächter sein wollte! Kann das Verhältnis dieser<lb/> Männer zu einander, das Leben an Davids Hofe, überhaupt das orientalische<lb/> Veziratwesen kürzer und deutlicher charakterisirt werden? Oder man nehme<lb/> folgende Erzählung aus dem 9. Kapitel des 2. Buches der Könige. König<lb/> Joram von Israel liegt krank in Jesreel, und sein Vetter Ahasja von Juda<lb/> weilt zum Besuch bei ihm. Der Turmwächter sieht die Schar Jesus heran¬<lb/> rücken und meldet: Ich sehe einen Haufen Kriegsvolk. Joram befiehlt: Schicke<lb/> einen Wagen entgegen und laß fragen: Kommst du in friedlicher Absicht? Der<lb/> auf dem Wagen sagte also, als er ankam: Der König fragt: Kommst du in<lb/> Frieden? Jesu antwortete: Was geht dich der Frieden an! Fahre vorüber<lb/> und folge mir! Der Turmwächter meldete: Der Bote ist angekommen, kehrt<lb/> aber nicht zurück. Da schickte der König einen zweiten zu Wagen, der da</p><lb/> <note xml:id="FID_70" place="foot"> Ob es eine deutsche Übersetzung geben mag, die der majestätischen Schönheit des<lb/> Originals gerecht wird? Ich kenne keine und lese deshalb das Alte Testament, da ich des<lb/> Hebräischen nicht hinreichend mächtig bin, in der lateinischen Vulgnta.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0610]
Die Bibel
keine Situation, keine Charaktergestalt, der nicht das angemessenste stilistische
Gewand geliehen wäre. Was kann sich in der Weltlitteratur mit dem Lapidar-
stil vergleichen, in dem die großen Ereignisse des ersten Buches Mosis erzählt
und die erhabnen Gestalten der Patriarchen vorgeführt werden! Wie knapp
und vollkommen verstehen die Verfasser der biblischen Bücher Personen, Ver¬
hältnisse, Situationen zu charakterisiren! Man denke an die Stelle im Liede
der Deborah, wo die Heldin von dem gemeuchelte» Sisera singt: Durchs Fenster
blickend, heult seine Mutter und spricht, warum zögert sein Wagen zu kommen,
warum sind die Füße seines Viergespanns so langsam? Da antwortet eine
von seinen klugem Frauen: Vielleicht teilt er eben die Beute, und wird ihm
die schönste der Frauen auserlesen, dazu buntfarbige Gewänder und Schmuck
um den Hals — so mögen, o Herr, umkommen alle deine Feinde! Und
welche Fabel ließe sich in der Schönheit der Form und in der schlagenden
Übereinstimmung von Sinnbild und Gesinnbildetem mit der des Jotham ver¬
gleichen von den Bäumen, die einen von ihnen zum König wühlen wollten?
Alle Gestalten und Situationen sind in der Bibel so plastisch dargestellt, daß
der bildende Künstler nur zuzugreifen braucht. Den Stoff haben die Maler
noch lange nicht erschöpft. Oder sollte z. B. 2. Samuel 3, 14 schon einmal
gemalt sein? David schickte Boten zu Jsboseth, dem Sohne Sauls, und
ließ ihm sagen: Gieb mir mein Weib Michell wieder, das ich mir an¬
getraut habe. Jsboseth schickte hin und ließ sie ihrem Manne Paltiel
nehmen. Und dieser ihr Mann folgte ihr weinend bis Bahurim. Dort
sagte Abner: Geh und kehre zurück; da kehrte der Mann zurück. Im
20. Kapitel desselben Buches wird erzählt, wie David den Abisai, Joabs
Bruder, zur Dämpfung eines Aufruhrs ausschickte, gleichzeitig aber dem Amasci
einen gesonderten Oberbefehl zum selben Zwecke erteilte. Die drei Feldherren
stießen zusammen. Joab war mit einem eng anliegenden Gewände bekleidet
und hatte sein Dolchmesser so an der Hüfte hängen, daß es ganz leicht aus
der Scheide gezogen und gebraucht werden konnte. Er rief dem Amasci zu:
Sei gegrüßt, mein Bruder! und faßte ihn mit der Rechten am Kinn, als wollte
er ihn küssen, dabei aber stieß er ihm das Dolchmesser in den Leib, sodaß
er starb. Joab und Abisai setzten nun dem Empörer nach, die Vorüber¬
gehenden aber, die den Leichnam sahen, sagten: Das ist nun der, der an
Joabs Statt Davids Leibwächter sein wollte! Kann das Verhältnis dieser
Männer zu einander, das Leben an Davids Hofe, überhaupt das orientalische
Veziratwesen kürzer und deutlicher charakterisirt werden? Oder man nehme
folgende Erzählung aus dem 9. Kapitel des 2. Buches der Könige. König
Joram von Israel liegt krank in Jesreel, und sein Vetter Ahasja von Juda
weilt zum Besuch bei ihm. Der Turmwächter sieht die Schar Jesus heran¬
rücken und meldet: Ich sehe einen Haufen Kriegsvolk. Joram befiehlt: Schicke
einen Wagen entgegen und laß fragen: Kommst du in friedlicher Absicht? Der
auf dem Wagen sagte also, als er ankam: Der König fragt: Kommst du in
Frieden? Jesu antwortete: Was geht dich der Frieden an! Fahre vorüber
und folge mir! Der Turmwächter meldete: Der Bote ist angekommen, kehrt
aber nicht zurück. Da schickte der König einen zweiten zu Wagen, der da
Ob es eine deutsche Übersetzung geben mag, die der majestätischen Schönheit des
Originals gerecht wird? Ich kenne keine und lese deshalb das Alte Testament, da ich des
Hebräischen nicht hinreichend mächtig bin, in der lateinischen Vulgnta.
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