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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Doktrinarismus in der Sozialpolitik

noch nicht zu der Erkenntnis aufgeschwungen hätten, gerade das Gegenteil sei
das Gesetz der bürgerlichen Wirtschaftsordnung, nämlich daß der Reiche ärmer
und der Arme reicher werde. Dann folgt ein Vorstoß gegen die "Illusion
von der providentiellen Rolle und der Leistungsfähigkeit der Sozialreform."
Schmoller habe kurz nach der Gründung des Vereins für Sozialpolitik gemeint,
die Sozialreform solle die Brücke schlagen über die gähnende Kluft, und es
sei auch weiter die Meinung der Kathedersozialisten geblieben, daß die sogenannte
gerechte Verteilung nicht erreicht werden könne durch die Wirkung der Freiheit
oder sogenannter natürlicher Gesetze, sondern durch die Thätigkeit des ge-
schriebnen, politischen Gesetzes, das heißt des Staats. Wolf spricht dieser
Sozialreform keineswegs jede Bedeutung ab, er meint nur: was die auf sich
gestellte Sozialreform vermöge im Vergleich zu dem, was die in der bürger¬
lichen Wirtschaftsordnung wirksamen Kräfte des technischen Fortschritts durch
das Mittel des freien Markes auf dem sozialen Gebiete leisteten, sei gering
und unbedeutend. Zur Voraussetzung habe jede Sozialresorm die vermehrte
Gütererzeugung, d. h. die durch das Erfindergenie, das Unternehmertaleut
und die steigende technische Leistungsfähigkeit der Arbeiter erhöhte Produktivität
der Arbeit. Diese Gütererzeugung sei die schöpferische Kraft, nicht der Appell
an Sittlichkeit und Bravheit, und das auch dann nicht, wenn er durch die
Thore der Parlamente dringe und sich hier zu Gesetzen verdichte. Unberechtigt
sei dieser Appell deshalb freilich nicht, nur unwesentlich.

Das ist in der Hauptsache Wolfs neuester Vorstoß gegen die herrschende
Schule., Es wird abzuwarten sein, was der Gegner antwortet. Zur Abfuhr
wird es bei dem ganzen Kampf schwerlich kommen. Wenn man darüber
disputirt, was mehr "hebt" -- denn die "Hebung" der arbeitenden Klassen
und Schichten ist ja das, worum es sich handelt --, die Sozialreform oder
die vermehrte Gütererzeugung, so fehlt der geeichte Maßstab zum Messen, und
keiner der Kämpfer braucht sich für besiegt zu erklären. Die Statistik hilft
dabei gar nichts. Was soll also überhaupt bei diesen Auseinandersetzungen
herauskommen? Solange der Begriff der "Hebung" nicht klar gemacht ist, gar
nichts. Und damit sind wir bei dem Punkte angelangt, wo die Katheder¬
sozialisten die unverantwortlichste, ärgste und nachhaltigste Verwirrung und
Unklarheit in den Köpfen der Gebildeten, namentlich auch der Beamten, und
der halbgebildeter Arbeiter angerichtet haben, zugleich bei der Frage, auf der
uns in der sozialen Praxis alles ankommt: Was thut not im Interesse des
wahren Wohls der Arbeiter und damit zugleich im Interesse der Gesamtheit?
Wir wollen die Frage hier nicht beantworten, sondern wir wollen nur fordern,
daß sie bestimmt, klar und praktisch gestellt werde. Möchten die Straf-
prvfessoren dazu wenigstens etwas beitragen. Es ist hohe Zeit, denn der
Doktrinarismus der herrschenden Schule droht allmählich jede praktische Arbeit
zur Heilung der Schäden, zur Schlichtung des Streits, zur Wiederherstellung
des Friedens zu lähmen. Wir glauben den Ernst der Lage nicht besser klar


Doktrinarismus in der Sozialpolitik

noch nicht zu der Erkenntnis aufgeschwungen hätten, gerade das Gegenteil sei
das Gesetz der bürgerlichen Wirtschaftsordnung, nämlich daß der Reiche ärmer
und der Arme reicher werde. Dann folgt ein Vorstoß gegen die „Illusion
von der providentiellen Rolle und der Leistungsfähigkeit der Sozialreform."
Schmoller habe kurz nach der Gründung des Vereins für Sozialpolitik gemeint,
die Sozialreform solle die Brücke schlagen über die gähnende Kluft, und es
sei auch weiter die Meinung der Kathedersozialisten geblieben, daß die sogenannte
gerechte Verteilung nicht erreicht werden könne durch die Wirkung der Freiheit
oder sogenannter natürlicher Gesetze, sondern durch die Thätigkeit des ge-
schriebnen, politischen Gesetzes, das heißt des Staats. Wolf spricht dieser
Sozialreform keineswegs jede Bedeutung ab, er meint nur: was die auf sich
gestellte Sozialreform vermöge im Vergleich zu dem, was die in der bürger¬
lichen Wirtschaftsordnung wirksamen Kräfte des technischen Fortschritts durch
das Mittel des freien Markes auf dem sozialen Gebiete leisteten, sei gering
und unbedeutend. Zur Voraussetzung habe jede Sozialresorm die vermehrte
Gütererzeugung, d. h. die durch das Erfindergenie, das Unternehmertaleut
und die steigende technische Leistungsfähigkeit der Arbeiter erhöhte Produktivität
der Arbeit. Diese Gütererzeugung sei die schöpferische Kraft, nicht der Appell
an Sittlichkeit und Bravheit, und das auch dann nicht, wenn er durch die
Thore der Parlamente dringe und sich hier zu Gesetzen verdichte. Unberechtigt
sei dieser Appell deshalb freilich nicht, nur unwesentlich.

Das ist in der Hauptsache Wolfs neuester Vorstoß gegen die herrschende
Schule., Es wird abzuwarten sein, was der Gegner antwortet. Zur Abfuhr
wird es bei dem ganzen Kampf schwerlich kommen. Wenn man darüber
disputirt, was mehr „hebt" — denn die „Hebung" der arbeitenden Klassen
und Schichten ist ja das, worum es sich handelt —, die Sozialreform oder
die vermehrte Gütererzeugung, so fehlt der geeichte Maßstab zum Messen, und
keiner der Kämpfer braucht sich für besiegt zu erklären. Die Statistik hilft
dabei gar nichts. Was soll also überhaupt bei diesen Auseinandersetzungen
herauskommen? Solange der Begriff der „Hebung" nicht klar gemacht ist, gar
nichts. Und damit sind wir bei dem Punkte angelangt, wo die Katheder¬
sozialisten die unverantwortlichste, ärgste und nachhaltigste Verwirrung und
Unklarheit in den Köpfen der Gebildeten, namentlich auch der Beamten, und
der halbgebildeter Arbeiter angerichtet haben, zugleich bei der Frage, auf der
uns in der sozialen Praxis alles ankommt: Was thut not im Interesse des
wahren Wohls der Arbeiter und damit zugleich im Interesse der Gesamtheit?
Wir wollen die Frage hier nicht beantworten, sondern wir wollen nur fordern,
daß sie bestimmt, klar und praktisch gestellt werde. Möchten die Straf-
prvfessoren dazu wenigstens etwas beitragen. Es ist hohe Zeit, denn der
Doktrinarismus der herrschenden Schule droht allmählich jede praktische Arbeit
zur Heilung der Schäden, zur Schlichtung des Streits, zur Wiederherstellung
des Friedens zu lähmen. Wir glauben den Ernst der Lage nicht besser klar


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[0582] Doktrinarismus in der Sozialpolitik noch nicht zu der Erkenntnis aufgeschwungen hätten, gerade das Gegenteil sei das Gesetz der bürgerlichen Wirtschaftsordnung, nämlich daß der Reiche ärmer und der Arme reicher werde. Dann folgt ein Vorstoß gegen die „Illusion von der providentiellen Rolle und der Leistungsfähigkeit der Sozialreform." Schmoller habe kurz nach der Gründung des Vereins für Sozialpolitik gemeint, die Sozialreform solle die Brücke schlagen über die gähnende Kluft, und es sei auch weiter die Meinung der Kathedersozialisten geblieben, daß die sogenannte gerechte Verteilung nicht erreicht werden könne durch die Wirkung der Freiheit oder sogenannter natürlicher Gesetze, sondern durch die Thätigkeit des ge- schriebnen, politischen Gesetzes, das heißt des Staats. Wolf spricht dieser Sozialreform keineswegs jede Bedeutung ab, er meint nur: was die auf sich gestellte Sozialreform vermöge im Vergleich zu dem, was die in der bürger¬ lichen Wirtschaftsordnung wirksamen Kräfte des technischen Fortschritts durch das Mittel des freien Markes auf dem sozialen Gebiete leisteten, sei gering und unbedeutend. Zur Voraussetzung habe jede Sozialresorm die vermehrte Gütererzeugung, d. h. die durch das Erfindergenie, das Unternehmertaleut und die steigende technische Leistungsfähigkeit der Arbeiter erhöhte Produktivität der Arbeit. Diese Gütererzeugung sei die schöpferische Kraft, nicht der Appell an Sittlichkeit und Bravheit, und das auch dann nicht, wenn er durch die Thore der Parlamente dringe und sich hier zu Gesetzen verdichte. Unberechtigt sei dieser Appell deshalb freilich nicht, nur unwesentlich. Das ist in der Hauptsache Wolfs neuester Vorstoß gegen die herrschende Schule., Es wird abzuwarten sein, was der Gegner antwortet. Zur Abfuhr wird es bei dem ganzen Kampf schwerlich kommen. Wenn man darüber disputirt, was mehr „hebt" — denn die „Hebung" der arbeitenden Klassen und Schichten ist ja das, worum es sich handelt —, die Sozialreform oder die vermehrte Gütererzeugung, so fehlt der geeichte Maßstab zum Messen, und keiner der Kämpfer braucht sich für besiegt zu erklären. Die Statistik hilft dabei gar nichts. Was soll also überhaupt bei diesen Auseinandersetzungen herauskommen? Solange der Begriff der „Hebung" nicht klar gemacht ist, gar nichts. Und damit sind wir bei dem Punkte angelangt, wo die Katheder¬ sozialisten die unverantwortlichste, ärgste und nachhaltigste Verwirrung und Unklarheit in den Köpfen der Gebildeten, namentlich auch der Beamten, und der halbgebildeter Arbeiter angerichtet haben, zugleich bei der Frage, auf der uns in der sozialen Praxis alles ankommt: Was thut not im Interesse des wahren Wohls der Arbeiter und damit zugleich im Interesse der Gesamtheit? Wir wollen die Frage hier nicht beantworten, sondern wir wollen nur fordern, daß sie bestimmt, klar und praktisch gestellt werde. Möchten die Straf- prvfessoren dazu wenigstens etwas beitragen. Es ist hohe Zeit, denn der Doktrinarismus der herrschenden Schule droht allmählich jede praktische Arbeit zur Heilung der Schäden, zur Schlichtung des Streits, zur Wiederherstellung des Friedens zu lähmen. Wir glauben den Ernst der Lage nicht besser klar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/582>, abgerufen am 09.01.2025.