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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Doktrinarismus in der Sozialpolitik

lichen Sinne allein als eine sittliche zu bezeichnen -- vollständig ein Herz und
eine Seele. Hier stehen die begeisterten Vertreter der verstaatlichter Sittlichkeit,
die Modesozialisten, ganz und gar auf dem Standpunkt der Herren Schulze-
Delitzsch und Genossen, und sie haben kein Recht, Herrn Professor Reinhold
einen Vorwurf zu machen.

Man mag die Jünger Schmollers oder Brentanos oder sonst eines dieser
Leuchten der modernen Staatswissenschaft ausforschen, wie man will, das
A und O ihrer Weisheit bleibt, daß von den Einzelnen nichts andres zu er¬
warten sei, als der kalte, wirtschaftliche Egoismus, und daß eben deshalb der
Staat durch Gesetzesparagraphen und Schutzleute die Sittlichkeit als seine Sache
in Regiebetrieb zu nehmen habe. Ja uns will scheinen, als ob selbst vor dreißig
Jahren, als das Manchestertum auch unter den Geheimräten noch die Herrschaft
hatte, d. h. eigentlich die Sozialpolitik überhaupt als wesenlos galt, unter den
Gebildeten wie in der Masse des Volks die Mißachtung der persönlichen Pflicht¬
erfüllung lange nicht so allgemein war und so fest saß wie heute, nachdem der
Staats- und Kathedersozialismus den Nachwuchs fünfundzwanzig Jahre lang zu
der neumodischen sozialen Gesinnung erzogen hat. Daß die einzelnen Menschen
daran schuld sein könnten, daß die Verhältnisse schlecht sind, oder daß sie selber
persönlich durch ihr Verhalten die Verhältnisse besser machen könnten, dafür fehlt
den Jüngern des Katheder- und Staatssozialismus das Verständnis fast noch
mehr als den Mauchesterleuten. Es war deshalb bei all der trostlosen Einseitig¬
keit und Oberflächlichkeit der Modestaatswissenschaft ebenso erquickend wie über¬
raschend zu hören, als auf dem letzten Evangelisch-sozialen Kongreß Adolf
Wagner endlich wieder einmal den Leuten "die Besserung von uns einzelnen
Menschen" als das wichtigste bezeichnete und die Anschauung, "die alle Schuld
wohlfeil auf die Verhältnisse schiebt," verwarf.

Scharf traf er damit den Grund- und Hauptfehler des modernen Staats¬
und Kathedersozialismus, auch wenn er vielleicht wieder nur die Sozial¬
demokraten treffen wollte. Es darf uns fortan nicht mehr täuschen, daß
Schmoller am Schluß seines Mittelstandsvortrags den üblichen Hymnus auf
die "sittlichen Kräfte der Nation" anstimmte. In Wirklichkeit kennt die herr¬
schende Schule eben nur eine Sittlichkeit der Nation, nicht die wahre Sittlich¬
keit des Einzelnen, abgesehen vielleicht von gelegentlichen Ansprüchen an die
Moral der Arbeitgeber. Bei der Masse der wirtschaftenden Personen hat diese
Schule das Gefühl der sittlichen Pflicht und Selbstverantwortlichkeit gerade
deshalb so gründlich verdorben, weil sie unter der Flagge ethischer Rücksichten
segelte.

Ohne eine Wiederbelebung des sittlichen Pflichtbewußtseins auch im
wirtschaftlichen Leben führt das Manchestertum mit dem Nachtwächtcrstaat
geradeso zum jämmerlichen Verfall unsrer Gesellschaftsordnung und Volks¬
kultur wie der Mvdesozialismus mit seinen sozialpolitisch-sittlichen Para-


Doktrinarismus in der Sozialpolitik

lichen Sinne allein als eine sittliche zu bezeichnen — vollständig ein Herz und
eine Seele. Hier stehen die begeisterten Vertreter der verstaatlichter Sittlichkeit,
die Modesozialisten, ganz und gar auf dem Standpunkt der Herren Schulze-
Delitzsch und Genossen, und sie haben kein Recht, Herrn Professor Reinhold
einen Vorwurf zu machen.

Man mag die Jünger Schmollers oder Brentanos oder sonst eines dieser
Leuchten der modernen Staatswissenschaft ausforschen, wie man will, das
A und O ihrer Weisheit bleibt, daß von den Einzelnen nichts andres zu er¬
warten sei, als der kalte, wirtschaftliche Egoismus, und daß eben deshalb der
Staat durch Gesetzesparagraphen und Schutzleute die Sittlichkeit als seine Sache
in Regiebetrieb zu nehmen habe. Ja uns will scheinen, als ob selbst vor dreißig
Jahren, als das Manchestertum auch unter den Geheimräten noch die Herrschaft
hatte, d. h. eigentlich die Sozialpolitik überhaupt als wesenlos galt, unter den
Gebildeten wie in der Masse des Volks die Mißachtung der persönlichen Pflicht¬
erfüllung lange nicht so allgemein war und so fest saß wie heute, nachdem der
Staats- und Kathedersozialismus den Nachwuchs fünfundzwanzig Jahre lang zu
der neumodischen sozialen Gesinnung erzogen hat. Daß die einzelnen Menschen
daran schuld sein könnten, daß die Verhältnisse schlecht sind, oder daß sie selber
persönlich durch ihr Verhalten die Verhältnisse besser machen könnten, dafür fehlt
den Jüngern des Katheder- und Staatssozialismus das Verständnis fast noch
mehr als den Mauchesterleuten. Es war deshalb bei all der trostlosen Einseitig¬
keit und Oberflächlichkeit der Modestaatswissenschaft ebenso erquickend wie über¬
raschend zu hören, als auf dem letzten Evangelisch-sozialen Kongreß Adolf
Wagner endlich wieder einmal den Leuten „die Besserung von uns einzelnen
Menschen" als das wichtigste bezeichnete und die Anschauung, „die alle Schuld
wohlfeil auf die Verhältnisse schiebt," verwarf.

Scharf traf er damit den Grund- und Hauptfehler des modernen Staats¬
und Kathedersozialismus, auch wenn er vielleicht wieder nur die Sozial¬
demokraten treffen wollte. Es darf uns fortan nicht mehr täuschen, daß
Schmoller am Schluß seines Mittelstandsvortrags den üblichen Hymnus auf
die „sittlichen Kräfte der Nation" anstimmte. In Wirklichkeit kennt die herr¬
schende Schule eben nur eine Sittlichkeit der Nation, nicht die wahre Sittlich¬
keit des Einzelnen, abgesehen vielleicht von gelegentlichen Ansprüchen an die
Moral der Arbeitgeber. Bei der Masse der wirtschaftenden Personen hat diese
Schule das Gefühl der sittlichen Pflicht und Selbstverantwortlichkeit gerade
deshalb so gründlich verdorben, weil sie unter der Flagge ethischer Rücksichten
segelte.

Ohne eine Wiederbelebung des sittlichen Pflichtbewußtseins auch im
wirtschaftlichen Leben führt das Manchestertum mit dem Nachtwächtcrstaat
geradeso zum jämmerlichen Verfall unsrer Gesellschaftsordnung und Volks¬
kultur wie der Mvdesozialismus mit seinen sozialpolitisch-sittlichen Para-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/580>, abgerufen am 09.01.2025.