Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Sozicilauslese Zustand nicht für wünschenswert, wo von einer Obrigkeit jedem täglich sein Grenzlwten I 1898 (!?
Sozicilauslese Zustand nicht für wünschenswert, wo von einer Obrigkeit jedem täglich sein Grenzlwten I 1898 (!?
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0533" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227435"/> <fw type="header" place="top"> Sozicilauslese</fw><lb/> <p xml:id="ID_1938" prev="#ID_1937" next="#ID_1939"> Zustand nicht für wünschenswert, wo von einer Obrigkeit jedem täglich sein<lb/> Arbeitspensum und sein Futteranteil zugemessen würde und sein Unterhalt bis<lb/> zum Tode gesichert wäre; ich erkenne den Nutzen, ja die Notwendigkeit des<lb/> Konkurrenzkampfes an. Aber ich bestreite, daß der Konkurrenzkampf, wie er<lb/> heute geführt wird, in der Regel die Besten siegen läßt und die Rasse ver¬<lb/> bessert; ich beklage es, daß alljährlich tausende von Knaben und Mädchen<lb/> unter dem Namen von Lehrlingen und jugendlichen Arbeitern in Verhältnisse<lb/> gezwängt werden, wo sie an Leib und Seele zu Grunde gerichtet und kampf¬<lb/> unfähig gemacht werden, ehe sie in den Kampf eintreten können; ich erkläre<lb/> eine Weltwirtschaft für unsinnig und verderblich, die, den natürlichen Boden<lb/> der Volkswirtschaft preisgebend, das Dasein aller Völker auf die Export¬<lb/> industrie und auf das Unterbieten jedes durch jeden im Warenaustausch gründen<lb/> will, und ich halte an dem Smith-Careyschen Ideal fest, wonach die Land¬<lb/> wirtschaft die Grundlage der Volkswirtschaft und die Industrie der Hauptsache<lb/> nach auf den innern Markt angewiesen bleiben soll. Endlich verwerfe ich die<lb/> roh naturalistische Gesellschaftslehre nicht bloß, weil sie, wie ich bewiesen zu<lb/> haben glaube, wissenschaftlich unhaltbar ist, sondern weil sie die Menschen zu<lb/> Tieren erniedrigt; und daß dieser sogenannte Ausleseprozeß die Löwen zu<lb/> Füchsen, die Füchse zu Arbeitsameisen und wimmelndem Ungeziefer fortent¬<lb/> wickelt, ist wahrhaftig nicht geeignet, uns mit den Versuchen seiner theoretischen<lb/> Rechtfertigung zu versöhnen. Tille will eine Soziologie, die „statt ans luftige<lb/> Theoreme wie »Gerechtigkeit,« »Glücksteigerung,« »sittliche Forderung,« auf<lb/> Erfahrung und Beobachtung sich gründet." Nun, das allererste, was uns<lb/> Erfahrung und Beobachtung lehren, ist. daß der Mensch nach Glück verlangt,<lb/> und daß er sittliche Forderungen erhebt, darunter die der Gerechtigkeit. Wissen<lb/> wir erst einmal, daß das Verlangen nach Glück ungestillt und jede sittliche<lb/> Forderung unbefriedigt bleiben muß, daß das alles nur luftige Theoreme und<lb/> Einbildungen sind, dann kann uns die Soziologie und alle sonstige Wissen¬<lb/> schaft gestohlen werden; die Menschen sind dann nichts als abscheuliche, furcht¬<lb/> bare Raubtiere und Ungeziefer, und die Welt ist kein Kosmos, kein „Schmuck"<lb/> mehr, souderu eine Fratze. Ob ein Haufen Silberstücke so oder so in Häuf¬<lb/> lein geteilt wird, ist das gleichgiltigste von der Welt; Bedeutung für uns<lb/> erhält es ganz allein durch die Frage, ob die Teilung den Anforderungen der<lb/> Gerechtigkeit entspricht. Wie viel Centimeter die Oberflüchenpunkte eines<lb/> Steinblvcks von einander entfernt sind, ist an sich vollständig gleichgiltig;<lb/> Interesse aber bekommen die Maße für uns, wenn ihre Gesamtheit dem Steine<lb/> die Gestalt eines Apollo verleiht, weil dessen Anblick unser Glllcksgefühl erhöht.<lb/> Das ganze Weltall wäre für uns nichts als ein großer Haufen Kot und<lb/> könnte uns nicht veranlassen, darüber nachzudenken, und es zu untersuchen,<lb/> wenn nicht aus ihm selbst wie aus dem Nachdenken darüber Menschenglück<lb/> erblühte. In der Einleitung zu Hnxleys Essays schreibt Tille, an Goethes</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzlwten I 1898 (!?</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0533]
Sozicilauslese
Zustand nicht für wünschenswert, wo von einer Obrigkeit jedem täglich sein
Arbeitspensum und sein Futteranteil zugemessen würde und sein Unterhalt bis
zum Tode gesichert wäre; ich erkenne den Nutzen, ja die Notwendigkeit des
Konkurrenzkampfes an. Aber ich bestreite, daß der Konkurrenzkampf, wie er
heute geführt wird, in der Regel die Besten siegen läßt und die Rasse ver¬
bessert; ich beklage es, daß alljährlich tausende von Knaben und Mädchen
unter dem Namen von Lehrlingen und jugendlichen Arbeitern in Verhältnisse
gezwängt werden, wo sie an Leib und Seele zu Grunde gerichtet und kampf¬
unfähig gemacht werden, ehe sie in den Kampf eintreten können; ich erkläre
eine Weltwirtschaft für unsinnig und verderblich, die, den natürlichen Boden
der Volkswirtschaft preisgebend, das Dasein aller Völker auf die Export¬
industrie und auf das Unterbieten jedes durch jeden im Warenaustausch gründen
will, und ich halte an dem Smith-Careyschen Ideal fest, wonach die Land¬
wirtschaft die Grundlage der Volkswirtschaft und die Industrie der Hauptsache
nach auf den innern Markt angewiesen bleiben soll. Endlich verwerfe ich die
roh naturalistische Gesellschaftslehre nicht bloß, weil sie, wie ich bewiesen zu
haben glaube, wissenschaftlich unhaltbar ist, sondern weil sie die Menschen zu
Tieren erniedrigt; und daß dieser sogenannte Ausleseprozeß die Löwen zu
Füchsen, die Füchse zu Arbeitsameisen und wimmelndem Ungeziefer fortent¬
wickelt, ist wahrhaftig nicht geeignet, uns mit den Versuchen seiner theoretischen
Rechtfertigung zu versöhnen. Tille will eine Soziologie, die „statt ans luftige
Theoreme wie »Gerechtigkeit,« »Glücksteigerung,« »sittliche Forderung,« auf
Erfahrung und Beobachtung sich gründet." Nun, das allererste, was uns
Erfahrung und Beobachtung lehren, ist. daß der Mensch nach Glück verlangt,
und daß er sittliche Forderungen erhebt, darunter die der Gerechtigkeit. Wissen
wir erst einmal, daß das Verlangen nach Glück ungestillt und jede sittliche
Forderung unbefriedigt bleiben muß, daß das alles nur luftige Theoreme und
Einbildungen sind, dann kann uns die Soziologie und alle sonstige Wissen¬
schaft gestohlen werden; die Menschen sind dann nichts als abscheuliche, furcht¬
bare Raubtiere und Ungeziefer, und die Welt ist kein Kosmos, kein „Schmuck"
mehr, souderu eine Fratze. Ob ein Haufen Silberstücke so oder so in Häuf¬
lein geteilt wird, ist das gleichgiltigste von der Welt; Bedeutung für uns
erhält es ganz allein durch die Frage, ob die Teilung den Anforderungen der
Gerechtigkeit entspricht. Wie viel Centimeter die Oberflüchenpunkte eines
Steinblvcks von einander entfernt sind, ist an sich vollständig gleichgiltig;
Interesse aber bekommen die Maße für uns, wenn ihre Gesamtheit dem Steine
die Gestalt eines Apollo verleiht, weil dessen Anblick unser Glllcksgefühl erhöht.
Das ganze Weltall wäre für uns nichts als ein großer Haufen Kot und
könnte uns nicht veranlassen, darüber nachzudenken, und es zu untersuchen,
wenn nicht aus ihm selbst wie aus dem Nachdenken darüber Menschenglück
erblühte. In der Einleitung zu Hnxleys Essays schreibt Tille, an Goethes
Grenzlwten I 1898 (!?
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