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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialauslese

Paar Jahrzehnte hindurch haben die englischen Fabrikanten den Satz BrafseyS
geglaubt, daß ein Kilometer Eisenbahn in allen Ländern der Erde gleich viel
kostet, indem mit dem Lohn die Arbeitsleistung steigt und fällt, und sie haben
sich in dieser Voraussetzung den Forderungen der Gewerkvereine gefügt. Aber
jetzt, wo die Konkurrenz Deutschlands drängt, werden sie ängstlich und gehen
darauf aus, die Gewerkvereine zu sprengen und die Arbeit wohlfeiler zu be¬
kommen; und vielleicht kehren schon recht bald die Zeiten wieder, wo der
starke Mann in der Konkurrenz geschlagen wurde nicht von dem stärkern
Manne, sondern von seinem fünfjährigen Kinde, das er des Morgens in die
Fabrik trug, dem er dann den Mittagbrei kochte, des Nachmittags die Strümpfe
und Hemden flickte, und das er abends wieder heimholte.

Nehmen wir aber einmal an, das Unwahrscheinliche geschähe, die Germanen
siegten in dieser Art Kampf ums Dasein, und es würden nicht allein die
Mongolen, die Neger und die Slawen, fondern auch die Romanen ausgerottet.
Was wäre damit gewonnen? Zunächst wären wir die ethnographische Mannig¬
faltigkeit los und hätten öde Einförmigkeit dafür eingetauscht; mit den Romanen
und Kelten wäre die größere Hälfte alles Formensinns, Kunstverstandes und
heitern Scherzes aus der Welt geschwunden. Dann: was für eine Art Ger¬
manen wäre denn übrig geblieben? Größtenteils verkümmerte Werkstättenhocker,
Fabrikler, Bergarbeiter und Schreiber. Ist nicht ein Lazzarone ein voll-
kommnerer Mensch als einer jener englischen Arbeiter, von denen vor einer
Parlamentskommission ausgesagt worden ist, daß sie keinen Begriff davon
hätten, was ein Witz oder ein Scherz sei, ehe sie in den Gewerkvereinen wieder
zu geistigem Leben erzogen würden? Der Lazzarone singt Lieder, macht Witze,
weiß ein Kunstwerk und eine schöne Landschaft zu würdigen, und das alles
sind Funktionen einer Menschenseele, ein Hund oder Pferd kaun es nicht, eine
Maschine, ein Automat kann es noch weniger. Dagegen können Tiere und
Automaten, was jene englischen Arbeiter zu leisten hatten. Kohlen schleppen
kann auch ein Hund oder Pferd, und eine Maschine bedienen kann eine andre
Maschine, oder die Maschine kann so eingerichtet werden, daß sie keiner Be¬
dienung bedarf. Besteht doch der Fortschritt der Maschinentechnik seit der Er¬
findung der Steuerung an der Dampfmaschine, die ursprünglich von Knaben
besorgt wurde, darin, daß den Menschen immer eine Verrichtung nach der
andern von der Maschine abgenommen wird. Daß der englische Arbeiter höher
stehe als der Lazzarone, weil er pflichtmäßige Selbstüberwindung übt, könnte
nur dann eingewendet werden, wenn die Selbstüberwindung freiwillig wäre.
Man nehme nur die Hungerpeitsche weg und sehe zu, wie viele englische
Arbeiter der beschriebnen Art bei solcher Arbeit bleiben, und wie viele ein
Lazzaroneleben -- ohne Poesie aber mit Branntweinflasche -- vorziehen werden.
Ein Künstler, ein Kunsthandwerker, ein Gelehrter, der Leiter eines Unter¬
nehmens bleibt auch bei scchzehnstündiger Arbeitszeit noch Mensch, denn eben


Sozialauslese

Paar Jahrzehnte hindurch haben die englischen Fabrikanten den Satz BrafseyS
geglaubt, daß ein Kilometer Eisenbahn in allen Ländern der Erde gleich viel
kostet, indem mit dem Lohn die Arbeitsleistung steigt und fällt, und sie haben
sich in dieser Voraussetzung den Forderungen der Gewerkvereine gefügt. Aber
jetzt, wo die Konkurrenz Deutschlands drängt, werden sie ängstlich und gehen
darauf aus, die Gewerkvereine zu sprengen und die Arbeit wohlfeiler zu be¬
kommen; und vielleicht kehren schon recht bald die Zeiten wieder, wo der
starke Mann in der Konkurrenz geschlagen wurde nicht von dem stärkern
Manne, sondern von seinem fünfjährigen Kinde, das er des Morgens in die
Fabrik trug, dem er dann den Mittagbrei kochte, des Nachmittags die Strümpfe
und Hemden flickte, und das er abends wieder heimholte.

Nehmen wir aber einmal an, das Unwahrscheinliche geschähe, die Germanen
siegten in dieser Art Kampf ums Dasein, und es würden nicht allein die
Mongolen, die Neger und die Slawen, fondern auch die Romanen ausgerottet.
Was wäre damit gewonnen? Zunächst wären wir die ethnographische Mannig¬
faltigkeit los und hätten öde Einförmigkeit dafür eingetauscht; mit den Romanen
und Kelten wäre die größere Hälfte alles Formensinns, Kunstverstandes und
heitern Scherzes aus der Welt geschwunden. Dann: was für eine Art Ger¬
manen wäre denn übrig geblieben? Größtenteils verkümmerte Werkstättenhocker,
Fabrikler, Bergarbeiter und Schreiber. Ist nicht ein Lazzarone ein voll-
kommnerer Mensch als einer jener englischen Arbeiter, von denen vor einer
Parlamentskommission ausgesagt worden ist, daß sie keinen Begriff davon
hätten, was ein Witz oder ein Scherz sei, ehe sie in den Gewerkvereinen wieder
zu geistigem Leben erzogen würden? Der Lazzarone singt Lieder, macht Witze,
weiß ein Kunstwerk und eine schöne Landschaft zu würdigen, und das alles
sind Funktionen einer Menschenseele, ein Hund oder Pferd kaun es nicht, eine
Maschine, ein Automat kann es noch weniger. Dagegen können Tiere und
Automaten, was jene englischen Arbeiter zu leisten hatten. Kohlen schleppen
kann auch ein Hund oder Pferd, und eine Maschine bedienen kann eine andre
Maschine, oder die Maschine kann so eingerichtet werden, daß sie keiner Be¬
dienung bedarf. Besteht doch der Fortschritt der Maschinentechnik seit der Er¬
findung der Steuerung an der Dampfmaschine, die ursprünglich von Knaben
besorgt wurde, darin, daß den Menschen immer eine Verrichtung nach der
andern von der Maschine abgenommen wird. Daß der englische Arbeiter höher
stehe als der Lazzarone, weil er pflichtmäßige Selbstüberwindung übt, könnte
nur dann eingewendet werden, wenn die Selbstüberwindung freiwillig wäre.
Man nehme nur die Hungerpeitsche weg und sehe zu, wie viele englische
Arbeiter der beschriebnen Art bei solcher Arbeit bleiben, und wie viele ein
Lazzaroneleben — ohne Poesie aber mit Branntweinflasche — vorziehen werden.
Ein Künstler, ein Kunsthandwerker, ein Gelehrter, der Leiter eines Unter¬
nehmens bleibt auch bei scchzehnstündiger Arbeitszeit noch Mensch, denn eben


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[0531] Sozialauslese Paar Jahrzehnte hindurch haben die englischen Fabrikanten den Satz BrafseyS geglaubt, daß ein Kilometer Eisenbahn in allen Ländern der Erde gleich viel kostet, indem mit dem Lohn die Arbeitsleistung steigt und fällt, und sie haben sich in dieser Voraussetzung den Forderungen der Gewerkvereine gefügt. Aber jetzt, wo die Konkurrenz Deutschlands drängt, werden sie ängstlich und gehen darauf aus, die Gewerkvereine zu sprengen und die Arbeit wohlfeiler zu be¬ kommen; und vielleicht kehren schon recht bald die Zeiten wieder, wo der starke Mann in der Konkurrenz geschlagen wurde nicht von dem stärkern Manne, sondern von seinem fünfjährigen Kinde, das er des Morgens in die Fabrik trug, dem er dann den Mittagbrei kochte, des Nachmittags die Strümpfe und Hemden flickte, und das er abends wieder heimholte. Nehmen wir aber einmal an, das Unwahrscheinliche geschähe, die Germanen siegten in dieser Art Kampf ums Dasein, und es würden nicht allein die Mongolen, die Neger und die Slawen, fondern auch die Romanen ausgerottet. Was wäre damit gewonnen? Zunächst wären wir die ethnographische Mannig¬ faltigkeit los und hätten öde Einförmigkeit dafür eingetauscht; mit den Romanen und Kelten wäre die größere Hälfte alles Formensinns, Kunstverstandes und heitern Scherzes aus der Welt geschwunden. Dann: was für eine Art Ger¬ manen wäre denn übrig geblieben? Größtenteils verkümmerte Werkstättenhocker, Fabrikler, Bergarbeiter und Schreiber. Ist nicht ein Lazzarone ein voll- kommnerer Mensch als einer jener englischen Arbeiter, von denen vor einer Parlamentskommission ausgesagt worden ist, daß sie keinen Begriff davon hätten, was ein Witz oder ein Scherz sei, ehe sie in den Gewerkvereinen wieder zu geistigem Leben erzogen würden? Der Lazzarone singt Lieder, macht Witze, weiß ein Kunstwerk und eine schöne Landschaft zu würdigen, und das alles sind Funktionen einer Menschenseele, ein Hund oder Pferd kaun es nicht, eine Maschine, ein Automat kann es noch weniger. Dagegen können Tiere und Automaten, was jene englischen Arbeiter zu leisten hatten. Kohlen schleppen kann auch ein Hund oder Pferd, und eine Maschine bedienen kann eine andre Maschine, oder die Maschine kann so eingerichtet werden, daß sie keiner Be¬ dienung bedarf. Besteht doch der Fortschritt der Maschinentechnik seit der Er¬ findung der Steuerung an der Dampfmaschine, die ursprünglich von Knaben besorgt wurde, darin, daß den Menschen immer eine Verrichtung nach der andern von der Maschine abgenommen wird. Daß der englische Arbeiter höher stehe als der Lazzarone, weil er pflichtmäßige Selbstüberwindung übt, könnte nur dann eingewendet werden, wenn die Selbstüberwindung freiwillig wäre. Man nehme nur die Hungerpeitsche weg und sehe zu, wie viele englische Arbeiter der beschriebnen Art bei solcher Arbeit bleiben, und wie viele ein Lazzaroneleben — ohne Poesie aber mit Branntweinflasche — vorziehen werden. Ein Künstler, ein Kunsthandwerker, ein Gelehrter, der Leiter eines Unter¬ nehmens bleibt auch bei scchzehnstündiger Arbeitszeit noch Mensch, denn eben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/531>, abgerufen am 09.01.2025.