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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialauslese

kommen soll. Im "Vvlksdieust" erscheinen die Deutschen als das Herrenvolk,
das berufen sei, die andern Völker teils aus ihren Wohnsitzen zu verdrängen,
teils zu beherrschen und zu Schmutzarbeiten zu verwenden. In der Polemik
gegen die Arbeiterbewegung hingegen will er die Deutschen bereden, ein Volk
von Arbeitsameisen zu werden. Diese Polemik gipfelt in den Behauptungen:
das einzige Mittel, wodurch die Arbeiter ihre Lage verbessern konnten, sei die
Erhöhung ihrer Leistungen, ein tüchtiger Arbeiter könne niemals von Konkur¬
renten unterboten werden, und die weniger Leistungsfähigen müßten zu Grunde
gehen, weil ihnen von den Leistungsfähigern die Nahrung weggenommen werde;
daß sich diese langsamer vermehre als die Bevölkerung, sei von Malthus richtig
erkannt worden; diese Einrichtung habe die Natur eben zu dem Zwecke ge¬
troffen, um die Minderwertigen zu vernichten. Der letzte dieser drei Sätze
wird in unsrer Zeit offenbar zu schänden; vergebens mühen sich die Agrarier
aller Staaten ab, entweder ihren eignen Getreideüberfluß loszuwerden oder den
aus andern Ländern einströmenden abzuwehren. Der zweite Satz gilt nur für
Künstler -- lassen Euer Majestät Ihre Generale singen, wenn Ihnen meine
Forderung zu hoch ist -- durfte eine berühmte Sängerin dem Herrscher oder
der Beherrscherin aller Reußen sagen --, aber niemals sür Industriearbeiter.
Ist die Forderung der wenigen, die zu einer bestimmten Leistung befähigt sind,
nach den Weltmarktverhältnissen zu hoch, so wird eine neue Maschine erfunden,
die auch von weniger Leistungsfähigen bedient werden kann. Die Steigerung
der Leistungen aber nützt nur dem ersten, der sich dazu versteht, um dann zu
guterletzt den ganzen Stand desto empfindlicher zu schädigen. Das hat Ammon
mit Beziehung auf die höhern Stände erkannt und zugestanden. Wo er von
deren Schädigung durch sitzende Lebensweise und einseitige Gehirnanstrcngung
spricht, bemerkt er (S. 150), die schädlichen Wirkungen dieser Lebensweise
würden vielleicht in Zukunft durch hhgienische Maßregeln abgewendet werden
können. "Aber was wird die Folge sein? Wie man stets bei zunehmendem
Einkommen mehr ausgiebt, so wird man die Verbesserung in der Lebenslage
nur dazu benützen, die Anstrengung des Geistes noch höher zu treiben, und
dann halten die nämlichen Schädlichkeiten, die man soeben beseitigt hat, auf
Umwegen wiederum ihren Einzug. Ich möchte den Leser zu der Erkenntnis
führen, daß die geistige Ausbildung der höhern Klassen durch die Ansprüche
des Gesellschaftslebens jederzeit bis zu dem Grade gesteigert wird, wo ihre
Nachteile für das Individuum in die Augen springen. . . . Man stelle sich
vor, daß wir vermöge irgend welcher Vorkehrungen mit einemmale imstande
wären, die Schädlichkeiten des höhern Berufslebens viel bester zu ertragen;
würden wir uns dabei beruhigen? Mit Nichten; wir würden uns nur desto
größere Leistungen zumuten." Ich will nicht noch einmal auf die Frage
zurückkommen, ob in der That die höhern Stände durch Überanstrengung zu
Grunde gehen, aber das ist richtig, daß in unsrer Welt der Konkurrenz jede


Sozialauslese

kommen soll. Im „Vvlksdieust" erscheinen die Deutschen als das Herrenvolk,
das berufen sei, die andern Völker teils aus ihren Wohnsitzen zu verdrängen,
teils zu beherrschen und zu Schmutzarbeiten zu verwenden. In der Polemik
gegen die Arbeiterbewegung hingegen will er die Deutschen bereden, ein Volk
von Arbeitsameisen zu werden. Diese Polemik gipfelt in den Behauptungen:
das einzige Mittel, wodurch die Arbeiter ihre Lage verbessern konnten, sei die
Erhöhung ihrer Leistungen, ein tüchtiger Arbeiter könne niemals von Konkur¬
renten unterboten werden, und die weniger Leistungsfähigen müßten zu Grunde
gehen, weil ihnen von den Leistungsfähigern die Nahrung weggenommen werde;
daß sich diese langsamer vermehre als die Bevölkerung, sei von Malthus richtig
erkannt worden; diese Einrichtung habe die Natur eben zu dem Zwecke ge¬
troffen, um die Minderwertigen zu vernichten. Der letzte dieser drei Sätze
wird in unsrer Zeit offenbar zu schänden; vergebens mühen sich die Agrarier
aller Staaten ab, entweder ihren eignen Getreideüberfluß loszuwerden oder den
aus andern Ländern einströmenden abzuwehren. Der zweite Satz gilt nur für
Künstler — lassen Euer Majestät Ihre Generale singen, wenn Ihnen meine
Forderung zu hoch ist — durfte eine berühmte Sängerin dem Herrscher oder
der Beherrscherin aller Reußen sagen —, aber niemals sür Industriearbeiter.
Ist die Forderung der wenigen, die zu einer bestimmten Leistung befähigt sind,
nach den Weltmarktverhältnissen zu hoch, so wird eine neue Maschine erfunden,
die auch von weniger Leistungsfähigen bedient werden kann. Die Steigerung
der Leistungen aber nützt nur dem ersten, der sich dazu versteht, um dann zu
guterletzt den ganzen Stand desto empfindlicher zu schädigen. Das hat Ammon
mit Beziehung auf die höhern Stände erkannt und zugestanden. Wo er von
deren Schädigung durch sitzende Lebensweise und einseitige Gehirnanstrcngung
spricht, bemerkt er (S. 150), die schädlichen Wirkungen dieser Lebensweise
würden vielleicht in Zukunft durch hhgienische Maßregeln abgewendet werden
können. „Aber was wird die Folge sein? Wie man stets bei zunehmendem
Einkommen mehr ausgiebt, so wird man die Verbesserung in der Lebenslage
nur dazu benützen, die Anstrengung des Geistes noch höher zu treiben, und
dann halten die nämlichen Schädlichkeiten, die man soeben beseitigt hat, auf
Umwegen wiederum ihren Einzug. Ich möchte den Leser zu der Erkenntnis
führen, daß die geistige Ausbildung der höhern Klassen durch die Ansprüche
des Gesellschaftslebens jederzeit bis zu dem Grade gesteigert wird, wo ihre
Nachteile für das Individuum in die Augen springen. . . . Man stelle sich
vor, daß wir vermöge irgend welcher Vorkehrungen mit einemmale imstande
wären, die Schädlichkeiten des höhern Berufslebens viel bester zu ertragen;
würden wir uns dabei beruhigen? Mit Nichten; wir würden uns nur desto
größere Leistungen zumuten." Ich will nicht noch einmal auf die Frage
zurückkommen, ob in der That die höhern Stände durch Überanstrengung zu
Grunde gehen, aber das ist richtig, daß in unsrer Welt der Konkurrenz jede


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/527>, abgerufen am 09.01.2025.