Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.alles verehrt, schon zu viel reiner Geist in den Parlamenten sitzt, und daß er Das andre, wodurch Ammon, wenn er Einfluß gewönne, eine verkehrte *) Weiter oben hat er erklärt: "Was man oft den Daseinskampf in der Gesellschaft nennt
(ich bekenne mich schuldig, den Ausdruck selbst zu nachlässig gebraucht zu haben), das ist ein Wettbewerb nicht um die Daseinsmittel, sondern um die Mittel zum Genuß." alles verehrt, schon zu viel reiner Geist in den Parlamenten sitzt, und daß er Das andre, wodurch Ammon, wenn er Einfluß gewönne, eine verkehrte *) Weiter oben hat er erklärt: „Was man oft den Daseinskampf in der Gesellschaft nennt
(ich bekenne mich schuldig, den Ausdruck selbst zu nachlässig gebraucht zu haben), das ist ein Wettbewerb nicht um die Daseinsmittel, sondern um die Mittel zum Genuß." <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0486" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227388"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1745" prev="#ID_1744"> alles verehrt, schon zu viel reiner Geist in den Parlamenten sitzt, und daß er<lb/> ausschließlich die „produktiven Stände" darin vertreten haben will?</p><lb/> <p xml:id="ID_1746"> Das andre, wodurch Ammon, wenn er Einfluß gewönne, eine verkehrte<lb/> Richtung der Politik befördern würde, ist die entschiedn? Zurückweisung jeder<lb/> Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung. Ich meine nicht, daß er die<lb/> Standesunterschiede für notwendig, Gleichheit der Anlagen, der Vermögen, der<lb/> Bildung, der sozialen Lage für eine Utopie erklärt. Darin bin ich nicht allein<lb/> vollkommen einverstanden mit ihm, sondern gehe noch ein gutes Stück über<lb/> ihn hinaus, indem ich z. B. auch die Sklaverei nicht grundsätzlich ablehne.<lb/> Aber entschieden bekämpfen muß man eine Darstellung, worin unser gegen¬<lb/> wärtiger Zustand als ein unübertreffliches Meisterstück der Entwicklung erscheint,<lb/> an den die bessernde Hand anlegen zu wollen ein Frevel gegen die Natur sei<lb/> (was ihn, wie schon eingangs erwähnt wurde, nicht abhält, selbst Vcrbesserungs-<lb/> vorschlüge zu machen). Was die Natur thut, und worauf die Entwicklungs¬<lb/> theorie beruht, das ist eben, daß sie den Gesellschaftszustand keinen Augenblick<lb/> unverändert läßt, und eine der Bedingungen der Gesundheit jedes nicht ab¬<lb/> gestorbnen Gesellschaftskörpers besteht in der fortwährenden Umbildung seiner<lb/> Organe durch Anpassung an die sich stetig ändernden Verhältnisse wie seiner<lb/> feinern Gewebschichten, der höhern Stände, durch die Zufuhr frischen Blutes<lb/> von unten. Ammon behauptet nun, diese zweite Bedingung sei vollkommen<lb/> erfüllt. Niemals sei den Untern das Aufsteigen so leicht gemacht worden wie<lb/> heute, und in den obern Schichten könne sich keiner auf andre Weise halten<lb/> als durch eigne Tüchtigkeit. Ich verzichte darauf, durch Fälle aus dem Leben,<lb/> die mir in Menge zur Verfügung stehen, das Gegenteil zu beweisen; ich er¬<lb/> innere nur an einen einzigen, der ungeheures Aufsehen erregt hat. Ein tüch¬<lb/> tiger Beamter wird von der Kreisvertretung einstimmig zum Landrat gewühlt;<lb/> die Regierung versagt die Bestätigung. Eine Deputation des Kreises begiebt<lb/> sich nach Berlin und bittet den Minister des Innern, doch seine Entscheidung<lb/> zurücknehmen zu wollen, niemand erfreue sich in dem Grade wie der Erwählte<lb/> des Vertrauens des ganzen Kreises. Seine Exzellenz aber erklärt, das gehe<lb/> nicht, weil — der Erwählte nur einen kleinen Besitzer zum Vater habe.<lb/> Huxleh, dessen Essays Alexander Tille übersetzt und mit begeisterten Worten<lb/> eingeleitet hat, was ihm in Ammons Augen Autorität verleihen muß, Huxleh<lb/> schreibt S. 253 dieses Bändchens: „Gäbe es keine künstlichen Einrichtungen,<lb/> mittels deren Esel und Schurken auf dem Gipfel der Gesellschaft erhalten<lb/> werden, so würde der Kampf um die Mittel zum Genuß^) einen beharrlichen<lb/> Kreislauf der menschlichen Einheiten des sozialen Ganzen vom Gipfel nach dem<lb/> Boden und vom Boden nach dem Gipfel sichern."</p><lb/> <note xml:id="FID_54" place="foot"> *) Weiter oben hat er erklärt: „Was man oft den Daseinskampf in der Gesellschaft nennt<lb/> (ich bekenne mich schuldig, den Ausdruck selbst zu nachlässig gebraucht zu haben), das ist ein<lb/> Wettbewerb nicht um die Daseinsmittel, sondern um die Mittel zum Genuß."</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0486]
alles verehrt, schon zu viel reiner Geist in den Parlamenten sitzt, und daß er
ausschließlich die „produktiven Stände" darin vertreten haben will?
Das andre, wodurch Ammon, wenn er Einfluß gewönne, eine verkehrte
Richtung der Politik befördern würde, ist die entschiedn? Zurückweisung jeder
Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung. Ich meine nicht, daß er die
Standesunterschiede für notwendig, Gleichheit der Anlagen, der Vermögen, der
Bildung, der sozialen Lage für eine Utopie erklärt. Darin bin ich nicht allein
vollkommen einverstanden mit ihm, sondern gehe noch ein gutes Stück über
ihn hinaus, indem ich z. B. auch die Sklaverei nicht grundsätzlich ablehne.
Aber entschieden bekämpfen muß man eine Darstellung, worin unser gegen¬
wärtiger Zustand als ein unübertreffliches Meisterstück der Entwicklung erscheint,
an den die bessernde Hand anlegen zu wollen ein Frevel gegen die Natur sei
(was ihn, wie schon eingangs erwähnt wurde, nicht abhält, selbst Vcrbesserungs-
vorschlüge zu machen). Was die Natur thut, und worauf die Entwicklungs¬
theorie beruht, das ist eben, daß sie den Gesellschaftszustand keinen Augenblick
unverändert läßt, und eine der Bedingungen der Gesundheit jedes nicht ab¬
gestorbnen Gesellschaftskörpers besteht in der fortwährenden Umbildung seiner
Organe durch Anpassung an die sich stetig ändernden Verhältnisse wie seiner
feinern Gewebschichten, der höhern Stände, durch die Zufuhr frischen Blutes
von unten. Ammon behauptet nun, diese zweite Bedingung sei vollkommen
erfüllt. Niemals sei den Untern das Aufsteigen so leicht gemacht worden wie
heute, und in den obern Schichten könne sich keiner auf andre Weise halten
als durch eigne Tüchtigkeit. Ich verzichte darauf, durch Fälle aus dem Leben,
die mir in Menge zur Verfügung stehen, das Gegenteil zu beweisen; ich er¬
innere nur an einen einzigen, der ungeheures Aufsehen erregt hat. Ein tüch¬
tiger Beamter wird von der Kreisvertretung einstimmig zum Landrat gewühlt;
die Regierung versagt die Bestätigung. Eine Deputation des Kreises begiebt
sich nach Berlin und bittet den Minister des Innern, doch seine Entscheidung
zurücknehmen zu wollen, niemand erfreue sich in dem Grade wie der Erwählte
des Vertrauens des ganzen Kreises. Seine Exzellenz aber erklärt, das gehe
nicht, weil — der Erwählte nur einen kleinen Besitzer zum Vater habe.
Huxleh, dessen Essays Alexander Tille übersetzt und mit begeisterten Worten
eingeleitet hat, was ihm in Ammons Augen Autorität verleihen muß, Huxleh
schreibt S. 253 dieses Bändchens: „Gäbe es keine künstlichen Einrichtungen,
mittels deren Esel und Schurken auf dem Gipfel der Gesellschaft erhalten
werden, so würde der Kampf um die Mittel zum Genuß^) einen beharrlichen
Kreislauf der menschlichen Einheiten des sozialen Ganzen vom Gipfel nach dem
Boden und vom Boden nach dem Gipfel sichern."
*) Weiter oben hat er erklärt: „Was man oft den Daseinskampf in der Gesellschaft nennt
(ich bekenne mich schuldig, den Ausdruck selbst zu nachlässig gebraucht zu haben), das ist ein
Wettbewerb nicht um die Daseinsmittel, sondern um die Mittel zum Genuß."
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