Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Sozialauslese Sattlergesellen und einen Schlossergesellen unter seinen Mitgliedern zu zählen? Grenzboten I 1898 en
Sozialauslese Sattlergesellen und einen Schlossergesellen unter seinen Mitgliedern zu zählen? Grenzboten I 1898 en
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0485" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227387"/> <fw type="header" place="top"> Sozialauslese</fw><lb/> <p xml:id="ID_1744" prev="#ID_1743" next="#ID_1745"> Sattlergesellen und einen Schlossergesellen unter seinen Mitgliedern zu zählen?<lb/> Darin ist der Geschmack verschieden. Es sind nicht durchweg die schlechtesten<lb/> Männer, die meinen, ein Handwerker, der manchem Grafen geistig überlegen<lb/> sei, verunziere den Reichstag durchaus nicht. Oder findet Ammon die lang¬<lb/> weilige Ruhe, die gewöhnlich im preußischen Abgeordnetenhause herrscht, so<lb/> würdig? Nun die kommt davon, daß die aufregenden Gegenstände auf den<lb/> Reichstag übergegangen sind. In der preußischen Konfliktszeit ist es auch in<lb/> jenem würdigen Hause recht lebhaft zugegangen, und dann noch einmal in der<lb/> Zeit des Kulturkampfes, und — als Bismarck gegen den Willen der national¬<lb/> liberalen Mehrheit die Maigesetze rückwärts revidirte. Auch im vorigen Sommer<lb/> hat man noch ein paar Aufwallungen erlebt, als das kleine Umsturzgesetz zu<lb/> Falle gebracht wurde — von den Nationalliberalen. Die Parteien pflegen<lb/> jedes Wahlsystem gut zu finden, bei dem sie gute Geschäfte machen, sobald<lb/> sie aber unterliegen, finden sie dasselbe Wahlsystem schlecht. Dieser ganz ge¬<lb/> wöhnliche Parteiärger ist es, der aus der natur- und Sozialwissenschaftlichen<lb/> Hülle von Ammons Buche hervorschaut. Und schließlich ist Ammon auch nicht<lb/> einmal mit den Einrichtungen zufrieden, die der Aristokratie eine Vertretung<lb/> sichern, und von denen man annehmen müßte, daß sie ihn mit hoher Be¬<lb/> friedigung erfüllen sollte. Er schreibt S. 374: „Die geschichtlichen Macht-<lb/> und Besitzverhältnisfe finden ihren Ausdruck in den Rechten des Kaisers und<lb/> des Bundesrath. Der Wille der Massen des geistigen Mittelgutes bis zum<lb/> Schwachsinn herab bestimmt die Zusammensetzung des Reichstags und der<lb/> Abgeordnetenhäuser Sta wird also das der Zensuswahl erteilte Lob zurück¬<lb/> genommen^. Hier, an den Stätten der Gesetzgebung und der Lastenverteilung<lb/> kann die Bildungsaristokratie ihre Einsicht und ihre sozialen Instinkte leider<lb/> nicht genügend zur Geltung bringen. In den Oberhäusern der Bundesstaaten<lb/> giebt es entweder keine oder nur einzelne Mitglieder, die Vildungsinteressen,<lb/> und dann nur solche einer umschriebnen Art (Kirchen, Hochschulen) amtlich<lb/> vertreten; die gebildeten Klassen als solche haben weder Sitz noch Stimme und<lb/> werden nur so weit berücksichtigt, als ihre Überzeugungen zwingende Gewalt<lb/> über die öffentliche Meinung zu gewinnen vermögen. Für die gesamte außer¬<lb/> halb des Beamtentums stehende höhere Begabung, Bildung und Lebens¬<lb/> erfahrung, die an Umfang und Gewicht sehr bedeutend ist, besitzt unsre Gesell¬<lb/> schaft kein Organ. . . . Gerade die jetzt mundtot gemachten Klassen gehören zu<lb/> den von Natur und Rechts wegen berufnen Leitern der Gesellschaft usw."<lb/> Diesem Erguß des Partciärgers halten wir nur die Fragen entgegen: Wer<lb/> macht denn die Gebildeten von Ammons Partei mundtot? Der Staatsanwalt<lb/> doch gewiß nicht! Und wie denkt er sich denn eine Vertretung der höhern<lb/> Begabung, Bildung und Lebenserfahrung? Will er eine Wahlkurie für sie<lb/> einrichten? Und wer soll die Leute nach der Begabung, Bildung und Lebens¬<lb/> erfahrung einteilen? Endlich, weiß er nicht, daß dem Manne, den er über</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1898 en</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0485]
Sozialauslese
Sattlergesellen und einen Schlossergesellen unter seinen Mitgliedern zu zählen?
Darin ist der Geschmack verschieden. Es sind nicht durchweg die schlechtesten
Männer, die meinen, ein Handwerker, der manchem Grafen geistig überlegen
sei, verunziere den Reichstag durchaus nicht. Oder findet Ammon die lang¬
weilige Ruhe, die gewöhnlich im preußischen Abgeordnetenhause herrscht, so
würdig? Nun die kommt davon, daß die aufregenden Gegenstände auf den
Reichstag übergegangen sind. In der preußischen Konfliktszeit ist es auch in
jenem würdigen Hause recht lebhaft zugegangen, und dann noch einmal in der
Zeit des Kulturkampfes, und — als Bismarck gegen den Willen der national¬
liberalen Mehrheit die Maigesetze rückwärts revidirte. Auch im vorigen Sommer
hat man noch ein paar Aufwallungen erlebt, als das kleine Umsturzgesetz zu
Falle gebracht wurde — von den Nationalliberalen. Die Parteien pflegen
jedes Wahlsystem gut zu finden, bei dem sie gute Geschäfte machen, sobald
sie aber unterliegen, finden sie dasselbe Wahlsystem schlecht. Dieser ganz ge¬
wöhnliche Parteiärger ist es, der aus der natur- und Sozialwissenschaftlichen
Hülle von Ammons Buche hervorschaut. Und schließlich ist Ammon auch nicht
einmal mit den Einrichtungen zufrieden, die der Aristokratie eine Vertretung
sichern, und von denen man annehmen müßte, daß sie ihn mit hoher Be¬
friedigung erfüllen sollte. Er schreibt S. 374: „Die geschichtlichen Macht-
und Besitzverhältnisfe finden ihren Ausdruck in den Rechten des Kaisers und
des Bundesrath. Der Wille der Massen des geistigen Mittelgutes bis zum
Schwachsinn herab bestimmt die Zusammensetzung des Reichstags und der
Abgeordnetenhäuser Sta wird also das der Zensuswahl erteilte Lob zurück¬
genommen^. Hier, an den Stätten der Gesetzgebung und der Lastenverteilung
kann die Bildungsaristokratie ihre Einsicht und ihre sozialen Instinkte leider
nicht genügend zur Geltung bringen. In den Oberhäusern der Bundesstaaten
giebt es entweder keine oder nur einzelne Mitglieder, die Vildungsinteressen,
und dann nur solche einer umschriebnen Art (Kirchen, Hochschulen) amtlich
vertreten; die gebildeten Klassen als solche haben weder Sitz noch Stimme und
werden nur so weit berücksichtigt, als ihre Überzeugungen zwingende Gewalt
über die öffentliche Meinung zu gewinnen vermögen. Für die gesamte außer¬
halb des Beamtentums stehende höhere Begabung, Bildung und Lebens¬
erfahrung, die an Umfang und Gewicht sehr bedeutend ist, besitzt unsre Gesell¬
schaft kein Organ. . . . Gerade die jetzt mundtot gemachten Klassen gehören zu
den von Natur und Rechts wegen berufnen Leitern der Gesellschaft usw."
Diesem Erguß des Partciärgers halten wir nur die Fragen entgegen: Wer
macht denn die Gebildeten von Ammons Partei mundtot? Der Staatsanwalt
doch gewiß nicht! Und wie denkt er sich denn eine Vertretung der höhern
Begabung, Bildung und Lebenserfahrung? Will er eine Wahlkurie für sie
einrichten? Und wer soll die Leute nach der Begabung, Bildung und Lebens¬
erfahrung einteilen? Endlich, weiß er nicht, daß dem Manne, den er über
Grenzboten I 1898 en
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