Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Sozialauslese ist aber auch die Gefahr, daß die eine der beiden Parteien von der andern Aber, meint Ammon: "Die gewöhnlichsten Schreier und Schwätzer sind Sozialauslese ist aber auch die Gefahr, daß die eine der beiden Parteien von der andern Aber, meint Ammon: „Die gewöhnlichsten Schreier und Schwätzer sind <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0484" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227386"/> <fw type="header" place="top"> Sozialauslese</fw><lb/> <p xml:id="ID_1742" prev="#ID_1741"> ist aber auch die Gefahr, daß die eine der beiden Parteien von der andern<lb/> vollständig unterdrückt werde, und das Stück Gescheitheit, das in ihr verkörpert<lb/> ist, dem Vaterlande verloren gehe.</p><lb/> <p xml:id="ID_1743" next="#ID_1744"> Aber, meint Ammon: „Die gewöhnlichsten Schreier und Schwätzer sind<lb/> die Bevorzugten des allgemeinen Stimmrechts; ja, wir haben Radaubrüder<lb/> mit dem Siegeslorbeer geschmückt aus der Urne hervorgehen sehen, deren Wahl<lb/> man für eine moralische Unmöglichkeit hielt." Dagegen fragen wir: kann uns<lb/> Ammon beweisen, daß bei den Neichstagswahlen Männer von hervorragender<lb/> Intelligenz regelmäßig unwissenden Schwätzern und Schreiern unterliegen?<lb/> Und verstehen etwa die agrarischen Mitglieder der konservativen Partei das<lb/> Schreien nicht? Verkündigen nicht gerade sie die Losung: nur schreien, schreien !<lb/> Artige Kinder kriegen nichts? Und wie viel Radaubrüder haben wir denn<lb/> im Reichstage? Zwei: Ahlwcirdt und Sigl. Jener vertritt das Urteutonen-<lb/> tum und ist von zwei Landräten in dem Kreise herumgeführt worden, der ihm<lb/> den Siegeslorbeer gereicht hat. Dieser ist ein Produkt eigentümlicher bairischer<lb/> Verhältnisse und hat sein Mandat nicht von Proletariern, sondern von Bauern<lb/> empfangen. Ammon lobt das Dreiklassenwahlsystem (natürlich, denn was hat<lb/> man sonst für eins, wenn man das allgemeine gleiche Wahlrecht nicht will,<lb/> da die Künsteleien, die E. von Hartmann und andre vorgeschlagen haben, doch<lb/> nun einmal undurchführbar sind) und findet, daß es sich besonders in der<lb/> städtischen Verwaltung sehr schön bewähre. Daß unter Umständen ein Gro߬<lb/> industrieller allein die erste Klasse bildet, will freilich auch Ammon nicht ge¬<lb/> fallen. Wenn es nur wenigstens immer ein hochgebildeter Großindustrieller<lb/> wäre! Aber manchmal ists ein dicker Schlächtermeister. Und was sagt Ammon<lb/> zu folgender Vertretung der Intelligenz? In Neustadt in Oberschlesien bilden<lb/> die Herren Abraham Fränkel, Hermann Frünkel und Emanuel Fränkel die<lb/> erste, die Herren Josef Plutus, Albert Fränkel, Max Plutus und August<lb/> Schneider die zweite Abteilung; die vier Fränkel und die zwei Plutus sind<lb/> Inhaber einer und derselben Firma, einer großen Leinenwarenfabrik; diese eine<lb/> Firma wählt oder ernennt vielmehr vierundzwanzig Stadtverordnete, alle andern<lb/> Bürger zusammen, einschließlich der Justizbeamten und Gymnasiallehrer, haben<lb/> nur zwölf zu wählen. Ist das Arierherrschaft? In einer andern Stadt, die<lb/> wir nicht nennen wollen — es ist leine preußische —, wählt ein Bordellwirt<lb/> in der ersten und die gesamte Intelligenz in der dritten Klasse. Ob, wie<lb/> Ammon behauptet, das badische Dreiklassenwahlsystem so arge Übelstände nicht<lb/> erzeuge, vermögen wir nicht zu prüfen; ganz zu vermeiden sind sie bei keiner<lb/> Einrichtung dieses Systems, und jedenfalls bestehen sie in dem größten, dem<lb/> ausschlaggebenden deutschen Vundesstaate. Dessen Abgeordnetenhaus, meint<lb/> Ammon, bilde dank dem Dreiklassenwahlsystem „eine würdige Vertretung" und<lb/> sei dem Reichstag an Ansehen überlegen. Was soll das „würdig" bedeuten?<lb/> Daß es einer Volksvertretung unwürdig sei, einen Drechslermeister, einen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0484]
Sozialauslese
ist aber auch die Gefahr, daß die eine der beiden Parteien von der andern
vollständig unterdrückt werde, und das Stück Gescheitheit, das in ihr verkörpert
ist, dem Vaterlande verloren gehe.
Aber, meint Ammon: „Die gewöhnlichsten Schreier und Schwätzer sind
die Bevorzugten des allgemeinen Stimmrechts; ja, wir haben Radaubrüder
mit dem Siegeslorbeer geschmückt aus der Urne hervorgehen sehen, deren Wahl
man für eine moralische Unmöglichkeit hielt." Dagegen fragen wir: kann uns
Ammon beweisen, daß bei den Neichstagswahlen Männer von hervorragender
Intelligenz regelmäßig unwissenden Schwätzern und Schreiern unterliegen?
Und verstehen etwa die agrarischen Mitglieder der konservativen Partei das
Schreien nicht? Verkündigen nicht gerade sie die Losung: nur schreien, schreien !
Artige Kinder kriegen nichts? Und wie viel Radaubrüder haben wir denn
im Reichstage? Zwei: Ahlwcirdt und Sigl. Jener vertritt das Urteutonen-
tum und ist von zwei Landräten in dem Kreise herumgeführt worden, der ihm
den Siegeslorbeer gereicht hat. Dieser ist ein Produkt eigentümlicher bairischer
Verhältnisse und hat sein Mandat nicht von Proletariern, sondern von Bauern
empfangen. Ammon lobt das Dreiklassenwahlsystem (natürlich, denn was hat
man sonst für eins, wenn man das allgemeine gleiche Wahlrecht nicht will,
da die Künsteleien, die E. von Hartmann und andre vorgeschlagen haben, doch
nun einmal undurchführbar sind) und findet, daß es sich besonders in der
städtischen Verwaltung sehr schön bewähre. Daß unter Umständen ein Gro߬
industrieller allein die erste Klasse bildet, will freilich auch Ammon nicht ge¬
fallen. Wenn es nur wenigstens immer ein hochgebildeter Großindustrieller
wäre! Aber manchmal ists ein dicker Schlächtermeister. Und was sagt Ammon
zu folgender Vertretung der Intelligenz? In Neustadt in Oberschlesien bilden
die Herren Abraham Fränkel, Hermann Frünkel und Emanuel Fränkel die
erste, die Herren Josef Plutus, Albert Fränkel, Max Plutus und August
Schneider die zweite Abteilung; die vier Fränkel und die zwei Plutus sind
Inhaber einer und derselben Firma, einer großen Leinenwarenfabrik; diese eine
Firma wählt oder ernennt vielmehr vierundzwanzig Stadtverordnete, alle andern
Bürger zusammen, einschließlich der Justizbeamten und Gymnasiallehrer, haben
nur zwölf zu wählen. Ist das Arierherrschaft? In einer andern Stadt, die
wir nicht nennen wollen — es ist leine preußische —, wählt ein Bordellwirt
in der ersten und die gesamte Intelligenz in der dritten Klasse. Ob, wie
Ammon behauptet, das badische Dreiklassenwahlsystem so arge Übelstände nicht
erzeuge, vermögen wir nicht zu prüfen; ganz zu vermeiden sind sie bei keiner
Einrichtung dieses Systems, und jedenfalls bestehen sie in dem größten, dem
ausschlaggebenden deutschen Vundesstaate. Dessen Abgeordnetenhaus, meint
Ammon, bilde dank dem Dreiklassenwahlsystem „eine würdige Vertretung" und
sei dem Reichstag an Ansehen überlegen. Was soll das „würdig" bedeuten?
Daß es einer Volksvertretung unwürdig sei, einen Drechslermeister, einen
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