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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialauslese

wenn mehrseitig, nur mehrere verwandte, bei weitem nicht alle Begabungen.
Schon der Polyhistor ist meistens kein Genie, obwohl das bloße Viel¬
wisser selbst nur etwas einseitiges ist. Und an welcher Stelle der Zwiebel
bringen wir Tiberius, Cesare Borgia, Napoleon I. unter? Oben oder unten?
Zu unterst stehen die Blödsinnigen und die Trottel (deren Zahl übrigens
leider, wie Ammon selbst bemerkt, bedeutend größer ist als einer auf eine
Million), aber jene Herren waren doch wahrhaftig nichts weniger als geistes¬
schwach. Und wo stellen wir die Pizarro und die übrigen Konquistadoren hin,
die durch Verbrechen ohne Zahl den landhungrigcn Europäern eine neue Welt
erschlossen und unterworfen haben? Wohin die gottesfürchtigen Seeräuber
und Sklavenhändler, die Psalmen singend mit Gewürzen, Gold und Silber
beladne Schiffe gekapert. Menschen geraubt, Mordthaten verübt und so ihr
Vaterland England groß und reich gemacht haben? (Über solche berichtet neuer¬
dings wieder einmal die Lawrcl^ Rizviöv vom 27. November v. I. nach einem
Buche über den Liverpooler Sklavenhandel unter der Überschrift: Patriotische
britische Seeräuber.) Und sind denn auch nur die gewöhnlichen Verbrecher
schwach begabte Menschen? Gehört nicht viel Begabung dazu, eine Räuberbande
zu befehligen, oder jahrelang als Hochstapler die Polizei nicht allein, sondern
auch die vornehmen Kreise zu täuschen, in die er sich einzuschmuggeln versteht?
Alle diese Leute sind vom Blödsinn viel weiter entfernt als ein rechtschaffner
Büreauchef, den Ammon sicher noch einige Stufen über das Mittelgut stellt,
und da das Urteil über Revolutionsmänner bekanntlich ausschließlich vom Erfolg
abhängt, sodaß die unterliegenden als Verbrecher verurteilt, die siegreichen als
Helden gepriesen werden -- ist doch ein von der Dichtung verklärter sagen¬
hafter Meuchelmörder Jahrzehnte hindurch der Abgott der gebildeten Jugend
Deutschlands gewesen -- so würde es gar nicht sinnwidrig sein, die großen
Despoten, Gottesgeißeln, Henker, Verbrecher, Umstürzler in die obern Stock¬
werke der Gesellschaftszwiebel einzuquartieren. Oder sollen wir sie in die Mitte
stecken, weil sie aus einer Mischung guter und schlechter Eigenschaften bestehen
und Negatives zu Positivem addirt eine mittlere, der Null sich nähernde Zahl
ergiebt? Ammon dürfte dazu geneigt sein, denn er rechnet, an der Würfel¬
augenanalogie festhaltend, zum Mittelgut nicht allein die Leute, die von allen
guten Gaben ihr bescheidnes Teil abbekommen haben (3 3 - >- 3 -> 3 ^ 12),
sondern auch solche, die im ganzen nur mit untermittelmäßigen Gaben aus¬
gestattet sind, aber durch eine einzelne Gabe glänzen, von der sie ein reichliches
Maß empfangen haben (2 ->- 2 2 6 ^ 12). Es giebt also darunter Leute,
die geistig hoch begabt sind, aber wegen schwacher sittlicher und wirtschaftlicher
Begabung nichts erreichen, ferner solche, die zwar einen guten Charakter haben,
aber in allem andern schwach sind, dann solche, die sehr wirtschaftlich, aber
geistig und körperlich schwach und schlechten Charakters sind, endlich körperlich
starke Leute, denen es an allem andern fehlt. "Fällt die 6 mit dem vierten,
die Körperkraft darstellenden Würfel, so bedeutet dies einen Herkules, der


Sozialauslese

wenn mehrseitig, nur mehrere verwandte, bei weitem nicht alle Begabungen.
Schon der Polyhistor ist meistens kein Genie, obwohl das bloße Viel¬
wisser selbst nur etwas einseitiges ist. Und an welcher Stelle der Zwiebel
bringen wir Tiberius, Cesare Borgia, Napoleon I. unter? Oben oder unten?
Zu unterst stehen die Blödsinnigen und die Trottel (deren Zahl übrigens
leider, wie Ammon selbst bemerkt, bedeutend größer ist als einer auf eine
Million), aber jene Herren waren doch wahrhaftig nichts weniger als geistes¬
schwach. Und wo stellen wir die Pizarro und die übrigen Konquistadoren hin,
die durch Verbrechen ohne Zahl den landhungrigcn Europäern eine neue Welt
erschlossen und unterworfen haben? Wohin die gottesfürchtigen Seeräuber
und Sklavenhändler, die Psalmen singend mit Gewürzen, Gold und Silber
beladne Schiffe gekapert. Menschen geraubt, Mordthaten verübt und so ihr
Vaterland England groß und reich gemacht haben? (Über solche berichtet neuer¬
dings wieder einmal die Lawrcl^ Rizviöv vom 27. November v. I. nach einem
Buche über den Liverpooler Sklavenhandel unter der Überschrift: Patriotische
britische Seeräuber.) Und sind denn auch nur die gewöhnlichen Verbrecher
schwach begabte Menschen? Gehört nicht viel Begabung dazu, eine Räuberbande
zu befehligen, oder jahrelang als Hochstapler die Polizei nicht allein, sondern
auch die vornehmen Kreise zu täuschen, in die er sich einzuschmuggeln versteht?
Alle diese Leute sind vom Blödsinn viel weiter entfernt als ein rechtschaffner
Büreauchef, den Ammon sicher noch einige Stufen über das Mittelgut stellt,
und da das Urteil über Revolutionsmänner bekanntlich ausschließlich vom Erfolg
abhängt, sodaß die unterliegenden als Verbrecher verurteilt, die siegreichen als
Helden gepriesen werden — ist doch ein von der Dichtung verklärter sagen¬
hafter Meuchelmörder Jahrzehnte hindurch der Abgott der gebildeten Jugend
Deutschlands gewesen — so würde es gar nicht sinnwidrig sein, die großen
Despoten, Gottesgeißeln, Henker, Verbrecher, Umstürzler in die obern Stock¬
werke der Gesellschaftszwiebel einzuquartieren. Oder sollen wir sie in die Mitte
stecken, weil sie aus einer Mischung guter und schlechter Eigenschaften bestehen
und Negatives zu Positivem addirt eine mittlere, der Null sich nähernde Zahl
ergiebt? Ammon dürfte dazu geneigt sein, denn er rechnet, an der Würfel¬
augenanalogie festhaltend, zum Mittelgut nicht allein die Leute, die von allen
guten Gaben ihr bescheidnes Teil abbekommen haben (3 3 - >- 3 -> 3 ^ 12),
sondern auch solche, die im ganzen nur mit untermittelmäßigen Gaben aus¬
gestattet sind, aber durch eine einzelne Gabe glänzen, von der sie ein reichliches
Maß empfangen haben (2 ->- 2 2 6 ^ 12). Es giebt also darunter Leute,
die geistig hoch begabt sind, aber wegen schwacher sittlicher und wirtschaftlicher
Begabung nichts erreichen, ferner solche, die zwar einen guten Charakter haben,
aber in allem andern schwach sind, dann solche, die sehr wirtschaftlich, aber
geistig und körperlich schwach und schlechten Charakters sind, endlich körperlich
starke Leute, denen es an allem andern fehlt. „Fällt die 6 mit dem vierten,
die Körperkraft darstellenden Würfel, so bedeutet dies einen Herkules, der


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[0423] Sozialauslese wenn mehrseitig, nur mehrere verwandte, bei weitem nicht alle Begabungen. Schon der Polyhistor ist meistens kein Genie, obwohl das bloße Viel¬ wisser selbst nur etwas einseitiges ist. Und an welcher Stelle der Zwiebel bringen wir Tiberius, Cesare Borgia, Napoleon I. unter? Oben oder unten? Zu unterst stehen die Blödsinnigen und die Trottel (deren Zahl übrigens leider, wie Ammon selbst bemerkt, bedeutend größer ist als einer auf eine Million), aber jene Herren waren doch wahrhaftig nichts weniger als geistes¬ schwach. Und wo stellen wir die Pizarro und die übrigen Konquistadoren hin, die durch Verbrechen ohne Zahl den landhungrigcn Europäern eine neue Welt erschlossen und unterworfen haben? Wohin die gottesfürchtigen Seeräuber und Sklavenhändler, die Psalmen singend mit Gewürzen, Gold und Silber beladne Schiffe gekapert. Menschen geraubt, Mordthaten verübt und so ihr Vaterland England groß und reich gemacht haben? (Über solche berichtet neuer¬ dings wieder einmal die Lawrcl^ Rizviöv vom 27. November v. I. nach einem Buche über den Liverpooler Sklavenhandel unter der Überschrift: Patriotische britische Seeräuber.) Und sind denn auch nur die gewöhnlichen Verbrecher schwach begabte Menschen? Gehört nicht viel Begabung dazu, eine Räuberbande zu befehligen, oder jahrelang als Hochstapler die Polizei nicht allein, sondern auch die vornehmen Kreise zu täuschen, in die er sich einzuschmuggeln versteht? Alle diese Leute sind vom Blödsinn viel weiter entfernt als ein rechtschaffner Büreauchef, den Ammon sicher noch einige Stufen über das Mittelgut stellt, und da das Urteil über Revolutionsmänner bekanntlich ausschließlich vom Erfolg abhängt, sodaß die unterliegenden als Verbrecher verurteilt, die siegreichen als Helden gepriesen werden — ist doch ein von der Dichtung verklärter sagen¬ hafter Meuchelmörder Jahrzehnte hindurch der Abgott der gebildeten Jugend Deutschlands gewesen — so würde es gar nicht sinnwidrig sein, die großen Despoten, Gottesgeißeln, Henker, Verbrecher, Umstürzler in die obern Stock¬ werke der Gesellschaftszwiebel einzuquartieren. Oder sollen wir sie in die Mitte stecken, weil sie aus einer Mischung guter und schlechter Eigenschaften bestehen und Negatives zu Positivem addirt eine mittlere, der Null sich nähernde Zahl ergiebt? Ammon dürfte dazu geneigt sein, denn er rechnet, an der Würfel¬ augenanalogie festhaltend, zum Mittelgut nicht allein die Leute, die von allen guten Gaben ihr bescheidnes Teil abbekommen haben (3 3 - >- 3 -> 3 ^ 12), sondern auch solche, die im ganzen nur mit untermittelmäßigen Gaben aus¬ gestattet sind, aber durch eine einzelne Gabe glänzen, von der sie ein reichliches Maß empfangen haben (2 ->- 2 2 6 ^ 12). Es giebt also darunter Leute, die geistig hoch begabt sind, aber wegen schwacher sittlicher und wirtschaftlicher Begabung nichts erreichen, ferner solche, die zwar einen guten Charakter haben, aber in allem andern schwach sind, dann solche, die sehr wirtschaftlich, aber geistig und körperlich schwach und schlechten Charakters sind, endlich körperlich starke Leute, denen es an allem andern fehlt. „Fällt die 6 mit dem vierten, die Körperkraft darstellenden Würfel, so bedeutet dies einen Herkules, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/423>, abgerufen am 09.01.2025.