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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Begabungen der Reihe nach so an, daß jene über und diese unter dem Mittel
liegen. Und da findet er nun, daß die beiden Mittelschichten, die bessere und
die schlechtere, jede 256 791 Mann, zusammen also über eine halbe Million
zählen, während die höchste wie die niedrigste Begabung nur durch je eine
Person vertreten ist. Stellt man die Schichten als Rechtecke dar, so liegen
die mittleren quer und werden nach der Spitze zu immer kürzer; an irgend
einer Stelle erscheint ein Quadrat, und von da ab stehen die Rechtecke auf der
kürzern Seite und werden immer schmäler, bis das letzte zu einer senkrechten
Linie zusammenschrumpft. Die Verbindungslinie der Ecken dieser Figur er¬
giebt zwei Kurven, die eine Zwiebel bilden, aber sozusagen eine Doppelzwiebel,
deren Wurzelhälfte genau so gestaltet ist wie die obere Hälfte, sodaß einander
eine obere und eine untere Spitze gegenüberstehen.

Diese Darstellung enthält zwei uralte Wahrheiten und eine Menge neuer
Irrtümer. Jahrtausende vor Darwin und Weismann hat man gewußt, daß
die Anlagen der Eltern*) auf das mannigfachste gemischt in den Kindern vor¬
kommen, und daß bei allen Arten Wesen das Mittelgut überwiegt, das Außer¬
ordentliche eben außerordentlich und ungewöhnlich, mit einem andern Worte
selten ist. Das sind die zwei alten Wahrheiten. Irrtum dagegen ist es, daß
das Genie aus einer bloßen Mischung elterlicher Elemente erklärt werden könne;
es muß noch etwas andres hinzukommen; was das ist, wissen wir nicht, wir
glauben nur, daß es unmittelbar göttlichen Ursprungs sei. Mag sich auch
Goethe in dem bekannten Scherzgedichtchen selbst verspotten als einen bloßen
Komplex elterlicher und großelterlicher Elemente, so erkennen wir doch klar
genug, daß die Gleichung ^/z Herr Rat ^ Frau Rat -- 1 Johann Wolf¬
gang falsch ist und selbst dann falsch bleiben würde, wenn wir auf der linken
Seite noch ein paar Dutzend Ahnen, Muhmen und Urgroßmuhmen addirten.
Und nun gar einen Lionardo da Vinci aus den Idealen des unbedeutenden
Edelmanns und der Bauermagd erklären wollen, die ihm das Leben geschenkt
haben! Sodann: Es giebt keinen "Nummereinsmann," wie Ammon den an
der Spitze der Zwiebel nennt, weder einen positiven oben, noch einen negativen
unten. Ich habe bei einer andern Gelegenheit einmal bemerkt, daß es ein
Irrtum sei, wenn man Christus für den Idealmenschen in dem Sinne halte,
daß er alle menschlichen Vollkommenheiten in sich schließe, denn einen solchen
Idealmenschen könne es nicht geben, weil die verschiednen menschlichen Voll¬
kommenheiten einander widersprechen und unvereinbar mit einander sind:
Christus als weltlicher Fürst, oder als einsamer, mit mathematischen Formeln
beschäftigter Gelehrter, oder als siegreicher Feldherr und Eroberer, oder als
Geldfürst, oder als alles dieses zusammengenommen, das sind lauter unvoll-
ziehbare Begriffe, wie der Dogmatiker Lipsius sagen würde. Das Genie, die
höchste Spitze einer bestimmten Begabung, ist einseitig, oder es umfaßt,



*) Und Großeltern, dem, auch das hat schon Aristoteles bemerkt.

Begabungen der Reihe nach so an, daß jene über und diese unter dem Mittel
liegen. Und da findet er nun, daß die beiden Mittelschichten, die bessere und
die schlechtere, jede 256 791 Mann, zusammen also über eine halbe Million
zählen, während die höchste wie die niedrigste Begabung nur durch je eine
Person vertreten ist. Stellt man die Schichten als Rechtecke dar, so liegen
die mittleren quer und werden nach der Spitze zu immer kürzer; an irgend
einer Stelle erscheint ein Quadrat, und von da ab stehen die Rechtecke auf der
kürzern Seite und werden immer schmäler, bis das letzte zu einer senkrechten
Linie zusammenschrumpft. Die Verbindungslinie der Ecken dieser Figur er¬
giebt zwei Kurven, die eine Zwiebel bilden, aber sozusagen eine Doppelzwiebel,
deren Wurzelhälfte genau so gestaltet ist wie die obere Hälfte, sodaß einander
eine obere und eine untere Spitze gegenüberstehen.

Diese Darstellung enthält zwei uralte Wahrheiten und eine Menge neuer
Irrtümer. Jahrtausende vor Darwin und Weismann hat man gewußt, daß
die Anlagen der Eltern*) auf das mannigfachste gemischt in den Kindern vor¬
kommen, und daß bei allen Arten Wesen das Mittelgut überwiegt, das Außer¬
ordentliche eben außerordentlich und ungewöhnlich, mit einem andern Worte
selten ist. Das sind die zwei alten Wahrheiten. Irrtum dagegen ist es, daß
das Genie aus einer bloßen Mischung elterlicher Elemente erklärt werden könne;
es muß noch etwas andres hinzukommen; was das ist, wissen wir nicht, wir
glauben nur, daß es unmittelbar göttlichen Ursprungs sei. Mag sich auch
Goethe in dem bekannten Scherzgedichtchen selbst verspotten als einen bloßen
Komplex elterlicher und großelterlicher Elemente, so erkennen wir doch klar
genug, daß die Gleichung ^/z Herr Rat ^ Frau Rat — 1 Johann Wolf¬
gang falsch ist und selbst dann falsch bleiben würde, wenn wir auf der linken
Seite noch ein paar Dutzend Ahnen, Muhmen und Urgroßmuhmen addirten.
Und nun gar einen Lionardo da Vinci aus den Idealen des unbedeutenden
Edelmanns und der Bauermagd erklären wollen, die ihm das Leben geschenkt
haben! Sodann: Es giebt keinen „Nummereinsmann," wie Ammon den an
der Spitze der Zwiebel nennt, weder einen positiven oben, noch einen negativen
unten. Ich habe bei einer andern Gelegenheit einmal bemerkt, daß es ein
Irrtum sei, wenn man Christus für den Idealmenschen in dem Sinne halte,
daß er alle menschlichen Vollkommenheiten in sich schließe, denn einen solchen
Idealmenschen könne es nicht geben, weil die verschiednen menschlichen Voll¬
kommenheiten einander widersprechen und unvereinbar mit einander sind:
Christus als weltlicher Fürst, oder als einsamer, mit mathematischen Formeln
beschäftigter Gelehrter, oder als siegreicher Feldherr und Eroberer, oder als
Geldfürst, oder als alles dieses zusammengenommen, das sind lauter unvoll-
ziehbare Begriffe, wie der Dogmatiker Lipsius sagen würde. Das Genie, die
höchste Spitze einer bestimmten Begabung, ist einseitig, oder es umfaßt,



*) Und Großeltern, dem, auch das hat schon Aristoteles bemerkt.
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[0422] Begabungen der Reihe nach so an, daß jene über und diese unter dem Mittel liegen. Und da findet er nun, daß die beiden Mittelschichten, die bessere und die schlechtere, jede 256 791 Mann, zusammen also über eine halbe Million zählen, während die höchste wie die niedrigste Begabung nur durch je eine Person vertreten ist. Stellt man die Schichten als Rechtecke dar, so liegen die mittleren quer und werden nach der Spitze zu immer kürzer; an irgend einer Stelle erscheint ein Quadrat, und von da ab stehen die Rechtecke auf der kürzern Seite und werden immer schmäler, bis das letzte zu einer senkrechten Linie zusammenschrumpft. Die Verbindungslinie der Ecken dieser Figur er¬ giebt zwei Kurven, die eine Zwiebel bilden, aber sozusagen eine Doppelzwiebel, deren Wurzelhälfte genau so gestaltet ist wie die obere Hälfte, sodaß einander eine obere und eine untere Spitze gegenüberstehen. Diese Darstellung enthält zwei uralte Wahrheiten und eine Menge neuer Irrtümer. Jahrtausende vor Darwin und Weismann hat man gewußt, daß die Anlagen der Eltern*) auf das mannigfachste gemischt in den Kindern vor¬ kommen, und daß bei allen Arten Wesen das Mittelgut überwiegt, das Außer¬ ordentliche eben außerordentlich und ungewöhnlich, mit einem andern Worte selten ist. Das sind die zwei alten Wahrheiten. Irrtum dagegen ist es, daß das Genie aus einer bloßen Mischung elterlicher Elemente erklärt werden könne; es muß noch etwas andres hinzukommen; was das ist, wissen wir nicht, wir glauben nur, daß es unmittelbar göttlichen Ursprungs sei. Mag sich auch Goethe in dem bekannten Scherzgedichtchen selbst verspotten als einen bloßen Komplex elterlicher und großelterlicher Elemente, so erkennen wir doch klar genug, daß die Gleichung ^/z Herr Rat ^ Frau Rat — 1 Johann Wolf¬ gang falsch ist und selbst dann falsch bleiben würde, wenn wir auf der linken Seite noch ein paar Dutzend Ahnen, Muhmen und Urgroßmuhmen addirten. Und nun gar einen Lionardo da Vinci aus den Idealen des unbedeutenden Edelmanns und der Bauermagd erklären wollen, die ihm das Leben geschenkt haben! Sodann: Es giebt keinen „Nummereinsmann," wie Ammon den an der Spitze der Zwiebel nennt, weder einen positiven oben, noch einen negativen unten. Ich habe bei einer andern Gelegenheit einmal bemerkt, daß es ein Irrtum sei, wenn man Christus für den Idealmenschen in dem Sinne halte, daß er alle menschlichen Vollkommenheiten in sich schließe, denn einen solchen Idealmenschen könne es nicht geben, weil die verschiednen menschlichen Voll¬ kommenheiten einander widersprechen und unvereinbar mit einander sind: Christus als weltlicher Fürst, oder als einsamer, mit mathematischen Formeln beschäftigter Gelehrter, oder als siegreicher Feldherr und Eroberer, oder als Geldfürst, oder als alles dieses zusammengenommen, das sind lauter unvoll- ziehbare Begriffe, wie der Dogmatiker Lipsius sagen würde. Das Genie, die höchste Spitze einer bestimmten Begabung, ist einseitig, oder es umfaßt, *) Und Großeltern, dem, auch das hat schon Aristoteles bemerkt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/422>, abgerufen am 09.01.2025.