Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.noch etwas höhere Leistungen darstellen als die Erledigung von Steuerrekla¬ Die Gesellschaft ist ein in bestündiger Wandlung begriffenes Gebilde, noch etwas höhere Leistungen darstellen als die Erledigung von Steuerrekla¬ Die Gesellschaft ist ein in bestündiger Wandlung begriffenes Gebilde, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0420" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227322"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1477" prev="#ID_1476"> noch etwas höhere Leistungen darstellen als die Erledigung von Steuerrekla¬<lb/> mationen und die Anfertigung statistischer Tabellen); kein Vernünftiger bestreitet<lb/> das — bewilligen doch auch die Sozialdemokraten ihrem Liebknecht 7000 Mark<lb/> Gehalt —, und Unvernünftige verdienen keine Antwort. Aber die Sache so<lb/> darstellen, als ob die Angehörigen der höhern Stände trotz dieser Vorteile,<lb/> die man ihnen willig einräumt, einem vorzeitigen Tode durch Überanstrengung<lb/> geweiht wären, das geht denn doch über den Spaß. Nicht einmal die geschäft¬<lb/> lichen Sorgen der Großindustriellen, das Spielsieber des Börsenjobbers und<lb/> die Aufregungen des politischen Parteiführers schädigen an sich die Gesundheit.<lb/> Wenn freilich der zweite zum Revolver greift, und der dritte bei einem Wahl¬<lb/> kampfe in New Jork oder in einer Wiener Reichsratsitzung mit Fünften bearbeitet<lb/> wird, so kann das nachteilige Folgen haben. Den Vater der Bodenbesitzreform<lb/> soll die Wahlaufregnng sogar ohne Anwendung gefährlicher Werkzeuge um¬<lb/> gebracht haben, aber das kommt doch nur felten vor. Wenn ein Rentner,<lb/> oder ein hoher Beamter, oder ein Magnat vor der Zeit stirbt, so ist gewöhnlich<lb/> der Zustand, den man in Marienbad kurirt, die Ursache, und der rührt weder<lb/> von Überanstrengung des Denkapparats, noch von Entbehrungen her. Unter<lb/> den akademischen Berufen ist nur einer ungesund, der der Ärzte; Ärzte werden<lb/> selten sehr alt. Wenn es also wahr sein sollte, daß die Familien der Höher¬<lb/> gestellten kurzlebig sind — ich glaube es vor der Hand nicht —, sei es, weil<lb/> das Familienhaupt jung stirbt, oder weil die Kinder degeneriren, so könnten<lb/> Überarbeit und eine vom Beruf geforderte ungesunde Lebensweise nicht daran<lb/> schuld sein. Wäre aber die geringe Kinderzahl daran schuld, so würde mit<lb/> der Erörterung dieser Ursache ein Gebiet betreten, auf das ich mich nicht<lb/> wagen mag.</p><lb/> <p xml:id="ID_1478" next="#ID_1479"> Die Gesellschaft ist ein in bestündiger Wandlung begriffenes Gebilde,<lb/> und zu diesem Wandel gehört, daß fortwährend aus den untern Schichten<lb/> Personen nach oben emporsteigen und aus den obern Schichten einzelne in<lb/> die Tiefe sinken, ja daß auch ganze Schichten ihre Lage vertauschen- In<lb/> diesem Vorgange wirken unzählige erforschbare und eine noch größere Zahl<lb/> unerforschlicher Kräfte zusammen. Wollen wir diesen Vorgang einmal mit<lb/> dem einen viel zu dürftigen Begriff ausdrückenden Modewort Auslese be¬<lb/> zeichnen, so müssen wir sagen, diese Auslese macht in dem eben besprochnen<lb/> Punkte ihre Sache gar nicht so schlecht, wie ihr sozusagen amtlicher Bewundrer<lb/> behauptet. Sie läßt die Begabten nicht in die Höhe steigen, um sie dort durch<lb/> allerlei qualvolle Prozeduren abzuschlachten, sondern die einmal oben sind,<lb/> lassen sichs wohl sein dort in der Höhe, werden alt, zeugen Kinder und be¬<lb/> gründen Geschlechter, deren manche ein halbes Jahrtausend im vollen Lichte<lb/> der Geschichte blühen, und wer sie unter- und hinnnterkricgen will, der<lb/> stellt sich eine harte Aufgabe. Aber das Bestreben, die Vornehmen als<lb/> Märtyrer des Gemeinwohls darzustellen, war nicht der einzige Grund für<lb/> Ammon, feine geliebte Auslese in Übeln Ruf zu bringen. Er wollte auch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0420]
noch etwas höhere Leistungen darstellen als die Erledigung von Steuerrekla¬
mationen und die Anfertigung statistischer Tabellen); kein Vernünftiger bestreitet
das — bewilligen doch auch die Sozialdemokraten ihrem Liebknecht 7000 Mark
Gehalt —, und Unvernünftige verdienen keine Antwort. Aber die Sache so
darstellen, als ob die Angehörigen der höhern Stände trotz dieser Vorteile,
die man ihnen willig einräumt, einem vorzeitigen Tode durch Überanstrengung
geweiht wären, das geht denn doch über den Spaß. Nicht einmal die geschäft¬
lichen Sorgen der Großindustriellen, das Spielsieber des Börsenjobbers und
die Aufregungen des politischen Parteiführers schädigen an sich die Gesundheit.
Wenn freilich der zweite zum Revolver greift, und der dritte bei einem Wahl¬
kampfe in New Jork oder in einer Wiener Reichsratsitzung mit Fünften bearbeitet
wird, so kann das nachteilige Folgen haben. Den Vater der Bodenbesitzreform
soll die Wahlaufregnng sogar ohne Anwendung gefährlicher Werkzeuge um¬
gebracht haben, aber das kommt doch nur felten vor. Wenn ein Rentner,
oder ein hoher Beamter, oder ein Magnat vor der Zeit stirbt, so ist gewöhnlich
der Zustand, den man in Marienbad kurirt, die Ursache, und der rührt weder
von Überanstrengung des Denkapparats, noch von Entbehrungen her. Unter
den akademischen Berufen ist nur einer ungesund, der der Ärzte; Ärzte werden
selten sehr alt. Wenn es also wahr sein sollte, daß die Familien der Höher¬
gestellten kurzlebig sind — ich glaube es vor der Hand nicht —, sei es, weil
das Familienhaupt jung stirbt, oder weil die Kinder degeneriren, so könnten
Überarbeit und eine vom Beruf geforderte ungesunde Lebensweise nicht daran
schuld sein. Wäre aber die geringe Kinderzahl daran schuld, so würde mit
der Erörterung dieser Ursache ein Gebiet betreten, auf das ich mich nicht
wagen mag.
Die Gesellschaft ist ein in bestündiger Wandlung begriffenes Gebilde,
und zu diesem Wandel gehört, daß fortwährend aus den untern Schichten
Personen nach oben emporsteigen und aus den obern Schichten einzelne in
die Tiefe sinken, ja daß auch ganze Schichten ihre Lage vertauschen- In
diesem Vorgange wirken unzählige erforschbare und eine noch größere Zahl
unerforschlicher Kräfte zusammen. Wollen wir diesen Vorgang einmal mit
dem einen viel zu dürftigen Begriff ausdrückenden Modewort Auslese be¬
zeichnen, so müssen wir sagen, diese Auslese macht in dem eben besprochnen
Punkte ihre Sache gar nicht so schlecht, wie ihr sozusagen amtlicher Bewundrer
behauptet. Sie läßt die Begabten nicht in die Höhe steigen, um sie dort durch
allerlei qualvolle Prozeduren abzuschlachten, sondern die einmal oben sind,
lassen sichs wohl sein dort in der Höhe, werden alt, zeugen Kinder und be¬
gründen Geschlechter, deren manche ein halbes Jahrtausend im vollen Lichte
der Geschichte blühen, und wer sie unter- und hinnnterkricgen will, der
stellt sich eine harte Aufgabe. Aber das Bestreben, die Vornehmen als
Märtyrer des Gemeinwohls darzustellen, war nicht der einzige Grund für
Ammon, feine geliebte Auslese in Übeln Ruf zu bringen. Er wollte auch
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