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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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eingefallnen erdfahlen Gesichtern, wobei es gar keinen Unterschied macht, ob
sie auf dem Lande wohnen oder in der Stadt. Übermäßig lange Sitzarbeit
mit andern Gesundheitsschädlichkeiten verbunden ist das Los der Schneider
und der kleinen Büreaubeamten, aber nicht der hochstehenden Beamten, die alle¬
samt in der Lage sind, ein zeitweiliges Übermaß von Sitzstunden dnrch Spazier¬
gänge und Spazierritte, Bergtouren, Badereisen, Jagd und andern Sport
auszugleichen. Und geistige Anstrengung an sich ist, wenn nur nicht ungünstige
Nebenumstände wie schlechte Ernährung und ungesunde Wohnung hinzutreten,
so wenig schädlich wie stramme körperliche Arbeit; im Gegenteil konserviren
beide gleich gut. Die berühmten Gelehrten und großen Künstler werden ebenso
wie die englischen Lords und die großen Staatsmänner steinalt; nur die länd¬
lichen Tagelöhnerinnen und die Bettelweiber können mit ihnen konkurriren.
Wer hat mehr gearbeitet als Mommsen? Und der ist mit achtzig Jahren
noch ganz frisch, der Kohlenhäuer dagegen mit fünfundvierzig Jahren durch¬
schnittlich ein Arbeitsinvalide. Und ist denn wirklich die Thätigkeit der höhern
Beamten gar so nervcnnufreibcnd? Ein paar Jahre lang hatte ich Verkehr
mit einigen Regierungsräten und erfuhr dadurch ganz genau, wie die Herren
lebten. Am meisten hatten die Schulrüte zu thu". Der eine arbeitete täglich
vier Stunden: von morgens acht bis zwölf. Nachmittags, hat er mir wieder¬
holt gesagt, muß man nicht arbeiten. Nach dem Mittagsschlaf ging er spazieren
und machte Besuche, und abends las er. Sein Nachfolger hatte allerdings,
bis er eingearbeitet war, noch ein paar Nachmittagsstunden zu thun. Der
eine Abteilungsdirigent bekannte offen, daß er nur eine Stunde täglich arbeite.
Zwischen jenem Höchst- und diesem Mindestmaß bewegte sich die Arbeitszeit
der übrigen Herren. Dazu kamen dann noch wöchentlich eine Sitzung und
bei den Schulräten die Visitationsreisen, die jedoch als angenehme Abwechslung
empfunden wurden. Mit Richtern habe ich an drei Orten nähern Verkehr
gehabt; über andre als gesellige Strapazen hatte keiner von ihnen zu klagen.
Nun liegen diese Erfahrungen allerdings um einige Jahrzehnte zurück, und ich
weiß wohl, daß nach 1870 für die meisten Beamtenklasfen eine Zeit der Über¬
bürdung und der ungemütlichen Hetze angegangen ist; infolge des ganz über¬
flüssigen Kulturkampfes sollen einige von Falls Mitarbeitern den Verstand
verloren haben. Aber das liegt doch eben nur an der Zeit und ist nicht der
normale Zustand; die Regierten werden herzlich froh sein, wenn die Gesetz-
macherei und die Vielregiererei einmal ein Ende haben, und wenn es sich die
Negierungsräte, namentlich aber die Staatsanwälte und die Richter wieder
bequem machen werden. Ammon hätte sich die Mühe ersparen können, weit¬
läufig zu beweisen, daß die höhern Beamten und die Leiter großer Unter¬
nehmungen gute Nahrung und eine gesunde Wohnung brauchen und der Sorge
um das tägliche Brot überhoben sein müssen (obwohl in Dachkammern von
hungernden Dichtern unsterbliche Werke geschaffen worden sind, die denn doch


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eingefallnen erdfahlen Gesichtern, wobei es gar keinen Unterschied macht, ob
sie auf dem Lande wohnen oder in der Stadt. Übermäßig lange Sitzarbeit
mit andern Gesundheitsschädlichkeiten verbunden ist das Los der Schneider
und der kleinen Büreaubeamten, aber nicht der hochstehenden Beamten, die alle¬
samt in der Lage sind, ein zeitweiliges Übermaß von Sitzstunden dnrch Spazier¬
gänge und Spazierritte, Bergtouren, Badereisen, Jagd und andern Sport
auszugleichen. Und geistige Anstrengung an sich ist, wenn nur nicht ungünstige
Nebenumstände wie schlechte Ernährung und ungesunde Wohnung hinzutreten,
so wenig schädlich wie stramme körperliche Arbeit; im Gegenteil konserviren
beide gleich gut. Die berühmten Gelehrten und großen Künstler werden ebenso
wie die englischen Lords und die großen Staatsmänner steinalt; nur die länd¬
lichen Tagelöhnerinnen und die Bettelweiber können mit ihnen konkurriren.
Wer hat mehr gearbeitet als Mommsen? Und der ist mit achtzig Jahren
noch ganz frisch, der Kohlenhäuer dagegen mit fünfundvierzig Jahren durch¬
schnittlich ein Arbeitsinvalide. Und ist denn wirklich die Thätigkeit der höhern
Beamten gar so nervcnnufreibcnd? Ein paar Jahre lang hatte ich Verkehr
mit einigen Regierungsräten und erfuhr dadurch ganz genau, wie die Herren
lebten. Am meisten hatten die Schulrüte zu thu«. Der eine arbeitete täglich
vier Stunden: von morgens acht bis zwölf. Nachmittags, hat er mir wieder¬
holt gesagt, muß man nicht arbeiten. Nach dem Mittagsschlaf ging er spazieren
und machte Besuche, und abends las er. Sein Nachfolger hatte allerdings,
bis er eingearbeitet war, noch ein paar Nachmittagsstunden zu thun. Der
eine Abteilungsdirigent bekannte offen, daß er nur eine Stunde täglich arbeite.
Zwischen jenem Höchst- und diesem Mindestmaß bewegte sich die Arbeitszeit
der übrigen Herren. Dazu kamen dann noch wöchentlich eine Sitzung und
bei den Schulräten die Visitationsreisen, die jedoch als angenehme Abwechslung
empfunden wurden. Mit Richtern habe ich an drei Orten nähern Verkehr
gehabt; über andre als gesellige Strapazen hatte keiner von ihnen zu klagen.
Nun liegen diese Erfahrungen allerdings um einige Jahrzehnte zurück, und ich
weiß wohl, daß nach 1870 für die meisten Beamtenklasfen eine Zeit der Über¬
bürdung und der ungemütlichen Hetze angegangen ist; infolge des ganz über¬
flüssigen Kulturkampfes sollen einige von Falls Mitarbeitern den Verstand
verloren haben. Aber das liegt doch eben nur an der Zeit und ist nicht der
normale Zustand; die Regierten werden herzlich froh sein, wenn die Gesetz-
macherei und die Vielregiererei einmal ein Ende haben, und wenn es sich die
Negierungsräte, namentlich aber die Staatsanwälte und die Richter wieder
bequem machen werden. Ammon hätte sich die Mühe ersparen können, weit¬
läufig zu beweisen, daß die höhern Beamten und die Leiter großer Unter¬
nehmungen gute Nahrung und eine gesunde Wohnung brauchen und der Sorge
um das tägliche Brot überhoben sein müssen (obwohl in Dachkammern von
hungernden Dichtern unsterbliche Werke geschaffen worden sind, die denn doch


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[0419] Sozialauslese eingefallnen erdfahlen Gesichtern, wobei es gar keinen Unterschied macht, ob sie auf dem Lande wohnen oder in der Stadt. Übermäßig lange Sitzarbeit mit andern Gesundheitsschädlichkeiten verbunden ist das Los der Schneider und der kleinen Büreaubeamten, aber nicht der hochstehenden Beamten, die alle¬ samt in der Lage sind, ein zeitweiliges Übermaß von Sitzstunden dnrch Spazier¬ gänge und Spazierritte, Bergtouren, Badereisen, Jagd und andern Sport auszugleichen. Und geistige Anstrengung an sich ist, wenn nur nicht ungünstige Nebenumstände wie schlechte Ernährung und ungesunde Wohnung hinzutreten, so wenig schädlich wie stramme körperliche Arbeit; im Gegenteil konserviren beide gleich gut. Die berühmten Gelehrten und großen Künstler werden ebenso wie die englischen Lords und die großen Staatsmänner steinalt; nur die länd¬ lichen Tagelöhnerinnen und die Bettelweiber können mit ihnen konkurriren. Wer hat mehr gearbeitet als Mommsen? Und der ist mit achtzig Jahren noch ganz frisch, der Kohlenhäuer dagegen mit fünfundvierzig Jahren durch¬ schnittlich ein Arbeitsinvalide. Und ist denn wirklich die Thätigkeit der höhern Beamten gar so nervcnnufreibcnd? Ein paar Jahre lang hatte ich Verkehr mit einigen Regierungsräten und erfuhr dadurch ganz genau, wie die Herren lebten. Am meisten hatten die Schulrüte zu thu«. Der eine arbeitete täglich vier Stunden: von morgens acht bis zwölf. Nachmittags, hat er mir wieder¬ holt gesagt, muß man nicht arbeiten. Nach dem Mittagsschlaf ging er spazieren und machte Besuche, und abends las er. Sein Nachfolger hatte allerdings, bis er eingearbeitet war, noch ein paar Nachmittagsstunden zu thun. Der eine Abteilungsdirigent bekannte offen, daß er nur eine Stunde täglich arbeite. Zwischen jenem Höchst- und diesem Mindestmaß bewegte sich die Arbeitszeit der übrigen Herren. Dazu kamen dann noch wöchentlich eine Sitzung und bei den Schulräten die Visitationsreisen, die jedoch als angenehme Abwechslung empfunden wurden. Mit Richtern habe ich an drei Orten nähern Verkehr gehabt; über andre als gesellige Strapazen hatte keiner von ihnen zu klagen. Nun liegen diese Erfahrungen allerdings um einige Jahrzehnte zurück, und ich weiß wohl, daß nach 1870 für die meisten Beamtenklasfen eine Zeit der Über¬ bürdung und der ungemütlichen Hetze angegangen ist; infolge des ganz über¬ flüssigen Kulturkampfes sollen einige von Falls Mitarbeitern den Verstand verloren haben. Aber das liegt doch eben nur an der Zeit und ist nicht der normale Zustand; die Regierten werden herzlich froh sein, wenn die Gesetz- macherei und die Vielregiererei einmal ein Ende haben, und wenn es sich die Negierungsräte, namentlich aber die Staatsanwälte und die Richter wieder bequem machen werden. Ammon hätte sich die Mühe ersparen können, weit¬ läufig zu beweisen, daß die höhern Beamten und die Leiter großer Unter¬ nehmungen gute Nahrung und eine gesunde Wohnung brauchen und der Sorge um das tägliche Brot überhoben sein müssen (obwohl in Dachkammern von hungernden Dichtern unsterbliche Werke geschaffen worden sind, die denn doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/419>, abgerufen am 09.01.2025.