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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Bellamys Gleichheit

Arbeiter kaum Platz bleibt, sich unter den sausenden Armen und Klauen von
Stahl zu bewegen, jede falsche Bewegung mit Tod oder Verstümmlung bedroht,
die Luft ein Ausdünstnngsgemisch von Öl und Kehricht, von ungewaschnen
Körpern und schmutzigen Kleidern und bestündig erfüllt von dem ununter-
brochnem Donnern und Drohnen der Maschinen, wie von dem Getöse eines
Wirbelwinds, endlose Reihen von bleichen, hohlwangigen Frauen, die Gesichter
ausdruckslos bis auf den Zug des Elends, ihre Kleidung zerrissen, verschlissen
und schmutzig, unzählige Mengen von zerlumpten kleinen Kindern mit welken
Gesichtern, von Kindern, noch mit der Muttermilch im Blute und mit Knochen,
die noch nicht hart geworden sind. Dagegen nun diese schönen prächtigen
Menschen, denen die müßige Arbeit in den herrlichen Räumen eine Lust und
eine Freude ist! Die Arbeiter bestimmen eben selbst, wie das Werk gethan
werden soll, und es ist nicht zu verwundern, daß die Arbeitsbedingungen so
angenehm wie möglich sind.

Wohlverstanden, nicht die Arbeiter in einem Gewerbe setzen die Arbeits¬
bedingungen ihres besondern Berufs fest: der Lebensnerv unsrer Verwaltung
ist ihre Einheitlichkeit, ohne die sie sofort unmöglich werden würde. Wenn
die Mitglieder jedes einzelnen Berufs ihre Arbeitsbedingungen selbst anordneten,
so würde sofort die Versuchung da sein, diesen Beruf selbstsüchtig und den
allgemeinen Interessen der Gesamtheit entgegengesetzt einzurichten: sie würden,
wie früher die Kapitalisten, so viel als möglich zu bekommen und so wenig als
möglich zu geben suchen, und nicht nur jede Berufsgenossenschaft, sondern sogar
jede Unterabteilung in ein und demselben Berufe würde diese Politik verfolgen,
bis die ganze neue Ordnung zersetzt wäre und man die Kapitalisten wieder aus
ihren Gräbern zu Hilfe rufen müßte. Nicht gewisse Arbeiter, sondern die Arbeiter
als ein Ganzes, mit andern Worten das gesamte Volk, denn alle sind ja Arbeiter,
ordnet durch die Negierung die gegenseitige Anpassung aller Arbeitsbedingungen.
Aber gleichzeitig werden die Arbeitsbedingungen in jedem Berufe sehr wirksam,
wenn auch mittelbar, durch die darin beschäftigten Arbeiter beeinflußt: alle
Bürger und Bürgerinnen haben nämlich das Recht, ihre Beschäftigung selbst
zu wählen und zu ändern. Da aber niemand eine Beschäftigung wählen
würde, deren Bedingungen nicht zufriedenstellend sind, so müssen in allen Be¬
rufen die Arbeitsbedingungen befriedigend gemacht und erhalten werden.

Die Kleider sind, obgleich gar keine lange Dauer beabsichtigt wird, doch
ungemein haltbar und wetterbeständig bei außerordentlicher Leichtheit und
Zartheit des Gewebes, künstlerischem Reiz der Farben und erstaunlicher Schön¬
heit und Mannigfaltigkeit im Schnitt. Das, was wir Mode nennen, giebt es
nicht mehr. Die Diktatur gewisser Schneider und Fabrikanten hat aufgehört.
Man richtet sich weder nach dem Prinzen von Wales noch nach einem andern
Gentleman oder Gesellschaftsleiter, weder nach Modejournalen noch nach
Pariser Vorschriften. Die Regierung ist das Werkzeug des Volkswillens:
während sie sehr gebräuchliche und häufig geforderte Stoffe, Farben und


Bellamys Gleichheit

Arbeiter kaum Platz bleibt, sich unter den sausenden Armen und Klauen von
Stahl zu bewegen, jede falsche Bewegung mit Tod oder Verstümmlung bedroht,
die Luft ein Ausdünstnngsgemisch von Öl und Kehricht, von ungewaschnen
Körpern und schmutzigen Kleidern und bestündig erfüllt von dem ununter-
brochnem Donnern und Drohnen der Maschinen, wie von dem Getöse eines
Wirbelwinds, endlose Reihen von bleichen, hohlwangigen Frauen, die Gesichter
ausdruckslos bis auf den Zug des Elends, ihre Kleidung zerrissen, verschlissen
und schmutzig, unzählige Mengen von zerlumpten kleinen Kindern mit welken
Gesichtern, von Kindern, noch mit der Muttermilch im Blute und mit Knochen,
die noch nicht hart geworden sind. Dagegen nun diese schönen prächtigen
Menschen, denen die müßige Arbeit in den herrlichen Räumen eine Lust und
eine Freude ist! Die Arbeiter bestimmen eben selbst, wie das Werk gethan
werden soll, und es ist nicht zu verwundern, daß die Arbeitsbedingungen so
angenehm wie möglich sind.

Wohlverstanden, nicht die Arbeiter in einem Gewerbe setzen die Arbeits¬
bedingungen ihres besondern Berufs fest: der Lebensnerv unsrer Verwaltung
ist ihre Einheitlichkeit, ohne die sie sofort unmöglich werden würde. Wenn
die Mitglieder jedes einzelnen Berufs ihre Arbeitsbedingungen selbst anordneten,
so würde sofort die Versuchung da sein, diesen Beruf selbstsüchtig und den
allgemeinen Interessen der Gesamtheit entgegengesetzt einzurichten: sie würden,
wie früher die Kapitalisten, so viel als möglich zu bekommen und so wenig als
möglich zu geben suchen, und nicht nur jede Berufsgenossenschaft, sondern sogar
jede Unterabteilung in ein und demselben Berufe würde diese Politik verfolgen,
bis die ganze neue Ordnung zersetzt wäre und man die Kapitalisten wieder aus
ihren Gräbern zu Hilfe rufen müßte. Nicht gewisse Arbeiter, sondern die Arbeiter
als ein Ganzes, mit andern Worten das gesamte Volk, denn alle sind ja Arbeiter,
ordnet durch die Negierung die gegenseitige Anpassung aller Arbeitsbedingungen.
Aber gleichzeitig werden die Arbeitsbedingungen in jedem Berufe sehr wirksam,
wenn auch mittelbar, durch die darin beschäftigten Arbeiter beeinflußt: alle
Bürger und Bürgerinnen haben nämlich das Recht, ihre Beschäftigung selbst
zu wählen und zu ändern. Da aber niemand eine Beschäftigung wählen
würde, deren Bedingungen nicht zufriedenstellend sind, so müssen in allen Be¬
rufen die Arbeitsbedingungen befriedigend gemacht und erhalten werden.

Die Kleider sind, obgleich gar keine lange Dauer beabsichtigt wird, doch
ungemein haltbar und wetterbeständig bei außerordentlicher Leichtheit und
Zartheit des Gewebes, künstlerischem Reiz der Farben und erstaunlicher Schön¬
heit und Mannigfaltigkeit im Schnitt. Das, was wir Mode nennen, giebt es
nicht mehr. Die Diktatur gewisser Schneider und Fabrikanten hat aufgehört.
Man richtet sich weder nach dem Prinzen von Wales noch nach einem andern
Gentleman oder Gesellschaftsleiter, weder nach Modejournalen noch nach
Pariser Vorschriften. Die Regierung ist das Werkzeug des Volkswillens:
während sie sehr gebräuchliche und häufig geforderte Stoffe, Farben und


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[0367] Bellamys Gleichheit Arbeiter kaum Platz bleibt, sich unter den sausenden Armen und Klauen von Stahl zu bewegen, jede falsche Bewegung mit Tod oder Verstümmlung bedroht, die Luft ein Ausdünstnngsgemisch von Öl und Kehricht, von ungewaschnen Körpern und schmutzigen Kleidern und bestündig erfüllt von dem ununter- brochnem Donnern und Drohnen der Maschinen, wie von dem Getöse eines Wirbelwinds, endlose Reihen von bleichen, hohlwangigen Frauen, die Gesichter ausdruckslos bis auf den Zug des Elends, ihre Kleidung zerrissen, verschlissen und schmutzig, unzählige Mengen von zerlumpten kleinen Kindern mit welken Gesichtern, von Kindern, noch mit der Muttermilch im Blute und mit Knochen, die noch nicht hart geworden sind. Dagegen nun diese schönen prächtigen Menschen, denen die müßige Arbeit in den herrlichen Räumen eine Lust und eine Freude ist! Die Arbeiter bestimmen eben selbst, wie das Werk gethan werden soll, und es ist nicht zu verwundern, daß die Arbeitsbedingungen so angenehm wie möglich sind. Wohlverstanden, nicht die Arbeiter in einem Gewerbe setzen die Arbeits¬ bedingungen ihres besondern Berufs fest: der Lebensnerv unsrer Verwaltung ist ihre Einheitlichkeit, ohne die sie sofort unmöglich werden würde. Wenn die Mitglieder jedes einzelnen Berufs ihre Arbeitsbedingungen selbst anordneten, so würde sofort die Versuchung da sein, diesen Beruf selbstsüchtig und den allgemeinen Interessen der Gesamtheit entgegengesetzt einzurichten: sie würden, wie früher die Kapitalisten, so viel als möglich zu bekommen und so wenig als möglich zu geben suchen, und nicht nur jede Berufsgenossenschaft, sondern sogar jede Unterabteilung in ein und demselben Berufe würde diese Politik verfolgen, bis die ganze neue Ordnung zersetzt wäre und man die Kapitalisten wieder aus ihren Gräbern zu Hilfe rufen müßte. Nicht gewisse Arbeiter, sondern die Arbeiter als ein Ganzes, mit andern Worten das gesamte Volk, denn alle sind ja Arbeiter, ordnet durch die Negierung die gegenseitige Anpassung aller Arbeitsbedingungen. Aber gleichzeitig werden die Arbeitsbedingungen in jedem Berufe sehr wirksam, wenn auch mittelbar, durch die darin beschäftigten Arbeiter beeinflußt: alle Bürger und Bürgerinnen haben nämlich das Recht, ihre Beschäftigung selbst zu wählen und zu ändern. Da aber niemand eine Beschäftigung wählen würde, deren Bedingungen nicht zufriedenstellend sind, so müssen in allen Be¬ rufen die Arbeitsbedingungen befriedigend gemacht und erhalten werden. Die Kleider sind, obgleich gar keine lange Dauer beabsichtigt wird, doch ungemein haltbar und wetterbeständig bei außerordentlicher Leichtheit und Zartheit des Gewebes, künstlerischem Reiz der Farben und erstaunlicher Schön¬ heit und Mannigfaltigkeit im Schnitt. Das, was wir Mode nennen, giebt es nicht mehr. Die Diktatur gewisser Schneider und Fabrikanten hat aufgehört. Man richtet sich weder nach dem Prinzen von Wales noch nach einem andern Gentleman oder Gesellschaftsleiter, weder nach Modejournalen noch nach Pariser Vorschriften. Die Regierung ist das Werkzeug des Volkswillens: während sie sehr gebräuchliche und häufig geforderte Stoffe, Farben und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/367>, abgerufen am 09.01.2025.