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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialdemokratie und Flotte

man durch eine Beschneidung des Vereinsgesetzes zu begegnen suche, sei es,
wenn sich die der Zahl nach am stärksten wachsende, zukunftsreichste Klasse
der Nation, die sich heute noch als nationale Outsiäers empfinde, von der
Flottenfrage gar nicht berührt fühle. Auf die Dauer sei dieses Verhältnis
ganz unmöglich, und ein Umschwung nur denkbar, wenn auch diese Kreise all¬
mählich zu einer nationalen Gesinnung emporgezogen würden.

Welch ungeheurer Kontrast zwischen dem gereiften, abgeklärten, milden,
bescheidnen, wahrhaft vornehmen Urteil des Geschlechts politischer Professoren,
die vor einem Menschenalter -- als Herr von Schutze-Gaevernitz in Breslau
geboren wurde -- ihre vielleicht weniger zahlreichen Schüler für die Höhe
und Freiheit der Wissenschaft zu begeistern wußten, und dieser modernen
Staatsweisheit ihrer Sohne! Wenn -- und es ist wohl kaum daran zu
zweifeln -- Herr Professor von Schulze das wirklich gesagt hat, was wir
gelesen haben, so müssen wir offen bekennen, daß wenige Auslassungen deutscher
Universitätsprofessoren seit dreißig Jahren uns zu solchem Bedauern Ver¬
anlassung gegeben haben wie diese. Was in aller Welt soll das ostensible
Eintreten für die Flottengegnerschaft der Sozialdemokraten in diesem Augenblick
im "akademischen" Vortrage eines Professors? Von einer Flottengegnerschaft
oder Vaterlandslosigkeit der "Arbeiter" ist überhaupt nicht geredet worden, ist
gar nicht zu reden. Sie zu "konstatiren" und sie sogar zu rechtfertigen ist
das traurige "wissenschaftliche" Verdienst des Herrn von Schulze. Daß er
nicht weiß, was er thut, daß er von deutschen Arbeitern spricht, von denen
er nur Ausnahmen auf seinem kurzen Lebenswege gesehen hat, dient ihm zur
Entschuldigung, aber der Schade, den er als Anwalt der vaterlandslosen Ge¬
sellen anrichtet, wird dadurch nicht gemildet. Klar und greifbar springt in
diesem Falle der pseudowissenschaftliche Charakter des modernen Kathedcr-
sozialismus in die Augen: die politische Agitation, die parteiische, einseitige
Arbeiterfreundlichkeit als Tendenz. Dieser agitatorische, tendenziöse Charakter
wird durch die zünftigen Kathedersozialisten viel mehr als durch die Angehörigen
andrer Fakultäten oder Wissenschaften auch den neumodischen "akademischen"
Vorträgen und "volkstümlichen Hochschulkursen" aufgeprägt. Er ist es auch, der
die Privatdozentenfrage überhaupt politisch wichtig macht. Für diese agitatorische
und tendenziöse Wirksamkeit die Freiheit der Wissenschaft in Anspruch zu nehmen,
ist eine Herabsetzung der Wissenschaft selbst. Mit staatlichen Repressalien
dagegen vorzugehen, würde das Übel nur schlimmer machen, auch würden sich
die meisten dieser jungen Herren in der Märtyrerrolle ganz wohl fühlen. Nur
langsam wird diese in langer Zeit erzeugte und gepflegte krankhafte Strömung
in den Staatswissenschaften einer gesunden Auffassung weichen, umso langsamer,
je jünger die privilegirten Inhaber der akademischen Lehrstühle heute find.
Helfen kann nur ein regeres und gründlicheres Interesse und Verständnis der
gebildeten Kreise der Nation für diese Verirrungen in unsrer staatswissen^


Sozialdemokratie und Flotte

man durch eine Beschneidung des Vereinsgesetzes zu begegnen suche, sei es,
wenn sich die der Zahl nach am stärksten wachsende, zukunftsreichste Klasse
der Nation, die sich heute noch als nationale Outsiäers empfinde, von der
Flottenfrage gar nicht berührt fühle. Auf die Dauer sei dieses Verhältnis
ganz unmöglich, und ein Umschwung nur denkbar, wenn auch diese Kreise all¬
mählich zu einer nationalen Gesinnung emporgezogen würden.

Welch ungeheurer Kontrast zwischen dem gereiften, abgeklärten, milden,
bescheidnen, wahrhaft vornehmen Urteil des Geschlechts politischer Professoren,
die vor einem Menschenalter — als Herr von Schutze-Gaevernitz in Breslau
geboren wurde — ihre vielleicht weniger zahlreichen Schüler für die Höhe
und Freiheit der Wissenschaft zu begeistern wußten, und dieser modernen
Staatsweisheit ihrer Sohne! Wenn — und es ist wohl kaum daran zu
zweifeln — Herr Professor von Schulze das wirklich gesagt hat, was wir
gelesen haben, so müssen wir offen bekennen, daß wenige Auslassungen deutscher
Universitätsprofessoren seit dreißig Jahren uns zu solchem Bedauern Ver¬
anlassung gegeben haben wie diese. Was in aller Welt soll das ostensible
Eintreten für die Flottengegnerschaft der Sozialdemokraten in diesem Augenblick
im „akademischen" Vortrage eines Professors? Von einer Flottengegnerschaft
oder Vaterlandslosigkeit der „Arbeiter" ist überhaupt nicht geredet worden, ist
gar nicht zu reden. Sie zu „konstatiren" und sie sogar zu rechtfertigen ist
das traurige „wissenschaftliche" Verdienst des Herrn von Schulze. Daß er
nicht weiß, was er thut, daß er von deutschen Arbeitern spricht, von denen
er nur Ausnahmen auf seinem kurzen Lebenswege gesehen hat, dient ihm zur
Entschuldigung, aber der Schade, den er als Anwalt der vaterlandslosen Ge¬
sellen anrichtet, wird dadurch nicht gemildet. Klar und greifbar springt in
diesem Falle der pseudowissenschaftliche Charakter des modernen Kathedcr-
sozialismus in die Augen: die politische Agitation, die parteiische, einseitige
Arbeiterfreundlichkeit als Tendenz. Dieser agitatorische, tendenziöse Charakter
wird durch die zünftigen Kathedersozialisten viel mehr als durch die Angehörigen
andrer Fakultäten oder Wissenschaften auch den neumodischen „akademischen"
Vorträgen und „volkstümlichen Hochschulkursen" aufgeprägt. Er ist es auch, der
die Privatdozentenfrage überhaupt politisch wichtig macht. Für diese agitatorische
und tendenziöse Wirksamkeit die Freiheit der Wissenschaft in Anspruch zu nehmen,
ist eine Herabsetzung der Wissenschaft selbst. Mit staatlichen Repressalien
dagegen vorzugehen, würde das Übel nur schlimmer machen, auch würden sich
die meisten dieser jungen Herren in der Märtyrerrolle ganz wohl fühlen. Nur
langsam wird diese in langer Zeit erzeugte und gepflegte krankhafte Strömung
in den Staatswissenschaften einer gesunden Auffassung weichen, umso langsamer,
je jünger die privilegirten Inhaber der akademischen Lehrstühle heute find.
Helfen kann nur ein regeres und gründlicheres Interesse und Verständnis der
gebildeten Kreise der Nation für diese Verirrungen in unsrer staatswissen^


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[0355] Sozialdemokratie und Flotte man durch eine Beschneidung des Vereinsgesetzes zu begegnen suche, sei es, wenn sich die der Zahl nach am stärksten wachsende, zukunftsreichste Klasse der Nation, die sich heute noch als nationale Outsiäers empfinde, von der Flottenfrage gar nicht berührt fühle. Auf die Dauer sei dieses Verhältnis ganz unmöglich, und ein Umschwung nur denkbar, wenn auch diese Kreise all¬ mählich zu einer nationalen Gesinnung emporgezogen würden. Welch ungeheurer Kontrast zwischen dem gereiften, abgeklärten, milden, bescheidnen, wahrhaft vornehmen Urteil des Geschlechts politischer Professoren, die vor einem Menschenalter — als Herr von Schutze-Gaevernitz in Breslau geboren wurde — ihre vielleicht weniger zahlreichen Schüler für die Höhe und Freiheit der Wissenschaft zu begeistern wußten, und dieser modernen Staatsweisheit ihrer Sohne! Wenn — und es ist wohl kaum daran zu zweifeln — Herr Professor von Schulze das wirklich gesagt hat, was wir gelesen haben, so müssen wir offen bekennen, daß wenige Auslassungen deutscher Universitätsprofessoren seit dreißig Jahren uns zu solchem Bedauern Ver¬ anlassung gegeben haben wie diese. Was in aller Welt soll das ostensible Eintreten für die Flottengegnerschaft der Sozialdemokraten in diesem Augenblick im „akademischen" Vortrage eines Professors? Von einer Flottengegnerschaft oder Vaterlandslosigkeit der „Arbeiter" ist überhaupt nicht geredet worden, ist gar nicht zu reden. Sie zu „konstatiren" und sie sogar zu rechtfertigen ist das traurige „wissenschaftliche" Verdienst des Herrn von Schulze. Daß er nicht weiß, was er thut, daß er von deutschen Arbeitern spricht, von denen er nur Ausnahmen auf seinem kurzen Lebenswege gesehen hat, dient ihm zur Entschuldigung, aber der Schade, den er als Anwalt der vaterlandslosen Ge¬ sellen anrichtet, wird dadurch nicht gemildet. Klar und greifbar springt in diesem Falle der pseudowissenschaftliche Charakter des modernen Kathedcr- sozialismus in die Augen: die politische Agitation, die parteiische, einseitige Arbeiterfreundlichkeit als Tendenz. Dieser agitatorische, tendenziöse Charakter wird durch die zünftigen Kathedersozialisten viel mehr als durch die Angehörigen andrer Fakultäten oder Wissenschaften auch den neumodischen „akademischen" Vorträgen und „volkstümlichen Hochschulkursen" aufgeprägt. Er ist es auch, der die Privatdozentenfrage überhaupt politisch wichtig macht. Für diese agitatorische und tendenziöse Wirksamkeit die Freiheit der Wissenschaft in Anspruch zu nehmen, ist eine Herabsetzung der Wissenschaft selbst. Mit staatlichen Repressalien dagegen vorzugehen, würde das Übel nur schlimmer machen, auch würden sich die meisten dieser jungen Herren in der Märtyrerrolle ganz wohl fühlen. Nur langsam wird diese in langer Zeit erzeugte und gepflegte krankhafte Strömung in den Staatswissenschaften einer gesunden Auffassung weichen, umso langsamer, je jünger die privilegirten Inhaber der akademischen Lehrstühle heute find. Helfen kann nur ein regeres und gründlicheres Interesse und Verständnis der gebildeten Kreise der Nation für diese Verirrungen in unsrer staatswissen^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/355>, abgerufen am 08.01.2025.