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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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denen Bartels noch mit kritischem Bemühen Fehler sammelt, erteilt er die
denkbar höchsten Lobsprüche. Die Versunlne Glocke als Ganzes befriedigt ihn
aber womöglich noch weniger als Bartels.

Viele Leser und Hörer hat darin rührend angesprochen ein oft anklingender
Ton, der aus dem alten Kirchenglauben kommt. Gerade so war es auch schon
in "Hammelef Himmelfahrt," und nun meinten die Leute, daß der Dichter sich
nach seinem frühern schärfen, herzlosen Naturalisiren auf etwas besseres be¬
sonnen habe und umgekehrt sei zu einer idealen Auffassung der Lebensverhält¬
nisse, die ihn nun auch für anständige Christenmenschen genießbar macht. Wer
so empfindet, der denkt natürlich kaum darüber nach, welche Rolle denu eigentlich
dem Christentum in diesen Stücken zugewiesen ist. Es siegt nicht, es entscheidet
nichts, es wirkt nnr auf die Sinne als bewegliche Nebendekoration. Wem
die Nietzschesche Herrenmoral nicht zusagt, der mag sich anch einmal an einem
Zipfel vom Sternenmantel des lieben Gottes freuen, das verpflichtet zu nichts
weiter. Grvtthuß nennt den Dichter einen Halben, der ans beiden Seiten ficht,
Bartels erinnert an den Pantheismus, den einst Heine dem Christentum ent¬
gegenstellte. Aber die Sache liegt noch einfacher, meint ein Pseudonymus
(W. Freimuth) in einer kurzen, klar geschriebnen Broschüre, die Nickelmanns:
"Bim dann, Heise dir Gott aus deinem Traum" als Titel trügt (Berlin,
Fußinger) -- dies ganze "idealistische Experiment" sei kluge Berechnung.
Warum sollten auch bei Hauptmann die Leute mit frommer und ernster Ge¬
sinnung allein leer ausgehen?

Daß jede größere dramatische Dichtung, auch wenn sie sich als Märchen¬
dichtung der Rechenschaft zu entziehen und unter eigne Gesetze zu stellen sucht,
irgeud ein ernsthaft zu nehmendes allgemeines oder größeres Ziel haben muß,
ist wohl zugestanden unter allen Menschen, die Dramen lesen oder aufführen
sehen. Daß aber der Glockengießer dieses Dramas ein alberner, weinerlicher
Tropf, und die ganze Handlung ein großes Nichts ist, legen unsre Kritiker
einstimmig dar. Wir wollen uns dabei nicht länger aufhalten, denn für uns
hat es dazu überhaupt niemals eines Wortes bedurft. Wir für unsre Person
können der Glocke sowohl wie dem Hannele höchstens den Rang eines guten
Opernlibrettos zuerkennen, für dessen Schwächen die Musik zu entschädigen
hat. Einen höhern Maßstab vertragen sie nicht. Mögen sie sich Jahrzehnte
auf der Bühne halten, das hängt von andern Umstünden ab, als von dem
innern Werte einer Dichtung -- als wirkliche Dichtung, als Bücher, die man
liest, werden sie kein langes Leben haben.

Wir können es darum auch ganz Bartels nachfühlen, wenn er in dem
visiouüren Hauuele und dem neuen Zaubermürchen aus dem Lande Rübezahls
nicht das Letzte und Beste seines Dichters sehen will. Auf keinen Fall, meint
er, ist die Glocke ein Produkt freier und ursprünglich schaffender Phantasie,
sondern eher ein Gewebe aus lauter fremden Motiven. Überall in unsrer


denen Bartels noch mit kritischem Bemühen Fehler sammelt, erteilt er die
denkbar höchsten Lobsprüche. Die Versunlne Glocke als Ganzes befriedigt ihn
aber womöglich noch weniger als Bartels.

Viele Leser und Hörer hat darin rührend angesprochen ein oft anklingender
Ton, der aus dem alten Kirchenglauben kommt. Gerade so war es auch schon
in „Hammelef Himmelfahrt," und nun meinten die Leute, daß der Dichter sich
nach seinem frühern schärfen, herzlosen Naturalisiren auf etwas besseres be¬
sonnen habe und umgekehrt sei zu einer idealen Auffassung der Lebensverhält¬
nisse, die ihn nun auch für anständige Christenmenschen genießbar macht. Wer
so empfindet, der denkt natürlich kaum darüber nach, welche Rolle denu eigentlich
dem Christentum in diesen Stücken zugewiesen ist. Es siegt nicht, es entscheidet
nichts, es wirkt nnr auf die Sinne als bewegliche Nebendekoration. Wem
die Nietzschesche Herrenmoral nicht zusagt, der mag sich anch einmal an einem
Zipfel vom Sternenmantel des lieben Gottes freuen, das verpflichtet zu nichts
weiter. Grvtthuß nennt den Dichter einen Halben, der ans beiden Seiten ficht,
Bartels erinnert an den Pantheismus, den einst Heine dem Christentum ent¬
gegenstellte. Aber die Sache liegt noch einfacher, meint ein Pseudonymus
(W. Freimuth) in einer kurzen, klar geschriebnen Broschüre, die Nickelmanns:
„Bim dann, Heise dir Gott aus deinem Traum" als Titel trügt (Berlin,
Fußinger) — dies ganze „idealistische Experiment" sei kluge Berechnung.
Warum sollten auch bei Hauptmann die Leute mit frommer und ernster Ge¬
sinnung allein leer ausgehen?

Daß jede größere dramatische Dichtung, auch wenn sie sich als Märchen¬
dichtung der Rechenschaft zu entziehen und unter eigne Gesetze zu stellen sucht,
irgeud ein ernsthaft zu nehmendes allgemeines oder größeres Ziel haben muß,
ist wohl zugestanden unter allen Menschen, die Dramen lesen oder aufführen
sehen. Daß aber der Glockengießer dieses Dramas ein alberner, weinerlicher
Tropf, und die ganze Handlung ein großes Nichts ist, legen unsre Kritiker
einstimmig dar. Wir wollen uns dabei nicht länger aufhalten, denn für uns
hat es dazu überhaupt niemals eines Wortes bedurft. Wir für unsre Person
können der Glocke sowohl wie dem Hannele höchstens den Rang eines guten
Opernlibrettos zuerkennen, für dessen Schwächen die Musik zu entschädigen
hat. Einen höhern Maßstab vertragen sie nicht. Mögen sie sich Jahrzehnte
auf der Bühne halten, das hängt von andern Umstünden ab, als von dem
innern Werte einer Dichtung — als wirkliche Dichtung, als Bücher, die man
liest, werden sie kein langes Leben haben.

Wir können es darum auch ganz Bartels nachfühlen, wenn er in dem
visiouüren Hauuele und dem neuen Zaubermürchen aus dem Lande Rübezahls
nicht das Letzte und Beste seines Dichters sehen will. Auf keinen Fall, meint
er, ist die Glocke ein Produkt freier und ursprünglich schaffender Phantasie,
sondern eher ein Gewebe aus lauter fremden Motiven. Überall in unsrer


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[0320] denen Bartels noch mit kritischem Bemühen Fehler sammelt, erteilt er die denkbar höchsten Lobsprüche. Die Versunlne Glocke als Ganzes befriedigt ihn aber womöglich noch weniger als Bartels. Viele Leser und Hörer hat darin rührend angesprochen ein oft anklingender Ton, der aus dem alten Kirchenglauben kommt. Gerade so war es auch schon in „Hammelef Himmelfahrt," und nun meinten die Leute, daß der Dichter sich nach seinem frühern schärfen, herzlosen Naturalisiren auf etwas besseres be¬ sonnen habe und umgekehrt sei zu einer idealen Auffassung der Lebensverhält¬ nisse, die ihn nun auch für anständige Christenmenschen genießbar macht. Wer so empfindet, der denkt natürlich kaum darüber nach, welche Rolle denu eigentlich dem Christentum in diesen Stücken zugewiesen ist. Es siegt nicht, es entscheidet nichts, es wirkt nnr auf die Sinne als bewegliche Nebendekoration. Wem die Nietzschesche Herrenmoral nicht zusagt, der mag sich anch einmal an einem Zipfel vom Sternenmantel des lieben Gottes freuen, das verpflichtet zu nichts weiter. Grvtthuß nennt den Dichter einen Halben, der ans beiden Seiten ficht, Bartels erinnert an den Pantheismus, den einst Heine dem Christentum ent¬ gegenstellte. Aber die Sache liegt noch einfacher, meint ein Pseudonymus (W. Freimuth) in einer kurzen, klar geschriebnen Broschüre, die Nickelmanns: „Bim dann, Heise dir Gott aus deinem Traum" als Titel trügt (Berlin, Fußinger) — dies ganze „idealistische Experiment" sei kluge Berechnung. Warum sollten auch bei Hauptmann die Leute mit frommer und ernster Ge¬ sinnung allein leer ausgehen? Daß jede größere dramatische Dichtung, auch wenn sie sich als Märchen¬ dichtung der Rechenschaft zu entziehen und unter eigne Gesetze zu stellen sucht, irgeud ein ernsthaft zu nehmendes allgemeines oder größeres Ziel haben muß, ist wohl zugestanden unter allen Menschen, die Dramen lesen oder aufführen sehen. Daß aber der Glockengießer dieses Dramas ein alberner, weinerlicher Tropf, und die ganze Handlung ein großes Nichts ist, legen unsre Kritiker einstimmig dar. Wir wollen uns dabei nicht länger aufhalten, denn für uns hat es dazu überhaupt niemals eines Wortes bedurft. Wir für unsre Person können der Glocke sowohl wie dem Hannele höchstens den Rang eines guten Opernlibrettos zuerkennen, für dessen Schwächen die Musik zu entschädigen hat. Einen höhern Maßstab vertragen sie nicht. Mögen sie sich Jahrzehnte auf der Bühne halten, das hängt von andern Umstünden ab, als von dem innern Werte einer Dichtung — als wirkliche Dichtung, als Bücher, die man liest, werden sie kein langes Leben haben. Wir können es darum auch ganz Bartels nachfühlen, wenn er in dem visiouüren Hauuele und dem neuen Zaubermürchen aus dem Lande Rübezahls nicht das Letzte und Beste seines Dichters sehen will. Auf keinen Fall, meint er, ist die Glocke ein Produkt freier und ursprünglich schaffender Phantasie, sondern eher ein Gewebe aus lauter fremden Motiven. Überall in unsrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/320>, abgerufen am 09.01.2025.