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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Die Kunst für das Volk

hier gemachte Versuch eines volkstümlichen Unterrichts im Kunstverstehen ist
viel ernsthafter, durchdachter und interessanter als alles, was uns sonst in
dieser Richtung entgegengetreten ist, und darum wird seine Methode auch mehr
erreichen als alle früheren Lichtwark spricht sich mit Recht gegen das Heran¬
schleppen von Photographien oder Gipsabgüssen aus, mit denen der Schul¬
unterricht jetzt manchmal, was ihm an Gedanken fehlt, ersetzen zu wollen scheint.
An Stelle massenhafter Anschauung, die nur verwirrt, soll man wenig, aber
Charakteristisches geben. "Von Gipsabgüssen und Photographien erwarte ich
für die künstlerische Erziehung nicht viel gutes und sehr große Nachteile. Ihre
Massenhaftigkeit und Unzulänglichkeit verführt zur oberflächlichen Betrachtung.
Es ist ein trauriges Schauspiel, eine Mädchenklasse oder eine Gymnasialklasse
vor einer Aufstellung von Photographien der Hauptwerke Raffaels oder Michel¬
angelos zu sehen. Die Flut von Reproduktionen droht die Keime einer künst¬
lerischen Bildung zu ertränken, wo sie sich zeigen." Die Hamburger Kunst¬
freunde wollen Faksimilereproduktionen deutscher Holzschnitte und Kupferstiche
für Schulzwccke, zunächst Holbeins Totentanz, herstellen lassen, die den Wert
von Originalen haben und doch so billig sein sollen, daß jedes Kind beim
Unterricht ein Exemplar in der Hand haben kann. Das ist sehr löblich. Ob
es aber viel helfen wird, solange man in den Gymnasien den Knaben durch
cmtikisirende Bilder von klein auf die Köpfe verdreht? Ich habe schon oft
gedacht: Sind denn Dürer und Rembrandt erst verständlich, wenn man das
Abiturientenexamen hinter sich hat?

Lichtwark giebt aber seinem Unterricht in der Kunstanschauung, der kaum
noch etwas mit den heute in Mode stehenden kunstgeschichtlichen Kursen gemein
hat, einen viel größern Hintergrund. Er zeigt, daß wir Deutschen im Sehen,
im Beobachten und Auffassen zurück sind, z. B. hinter den Engländern. Es
fehlt dein modernen Deutschen an "äußerer Kultur und Festigkeit der Form."
Am Engländer fallen die starken Seiten seiner Erziehung zuerst in die Augen;
einen so festen Typus, wie den des weltbeherrschenden englischen Gentleman,
hat Deutschland nur in seinem Offizierstande hervorgebracht. "Im Zivil sind
die Herrscher aller Kulturstaaten englische Gentlemen, in Uniform deutsche
Offiziere. Der englische Gentleman und der deutsche Offizier wirken als Vor¬
bild durch dieselben ästhetischen Qualitäten der Korrektheit und der strengen
äußern Zucht." Weil aber der typische Deutsche in seiner unzulänglichen
formalen Bildung schwach gegen fremden, namentlich englischen Einfluß ist, so
muß er die künstlerische Erziehung des Auges und der Empfindung bei sich
erhöhen. Er wird daraus einen höhern Ausdruck seiner Persönlichkeit ge¬
winnen. Vielleicht erscheint das manchem unsrer Leser weit hergeholt. Aber
liegt nicht in der großen und sehr weit verbreiteten Schätzung der Kunstwerke
bei den Engländern, die selbst gar kein Kunstvolk sind, liegt nicht in ihrem


Die Kunst für das Volk

hier gemachte Versuch eines volkstümlichen Unterrichts im Kunstverstehen ist
viel ernsthafter, durchdachter und interessanter als alles, was uns sonst in
dieser Richtung entgegengetreten ist, und darum wird seine Methode auch mehr
erreichen als alle früheren Lichtwark spricht sich mit Recht gegen das Heran¬
schleppen von Photographien oder Gipsabgüssen aus, mit denen der Schul¬
unterricht jetzt manchmal, was ihm an Gedanken fehlt, ersetzen zu wollen scheint.
An Stelle massenhafter Anschauung, die nur verwirrt, soll man wenig, aber
Charakteristisches geben. „Von Gipsabgüssen und Photographien erwarte ich
für die künstlerische Erziehung nicht viel gutes und sehr große Nachteile. Ihre
Massenhaftigkeit und Unzulänglichkeit verführt zur oberflächlichen Betrachtung.
Es ist ein trauriges Schauspiel, eine Mädchenklasse oder eine Gymnasialklasse
vor einer Aufstellung von Photographien der Hauptwerke Raffaels oder Michel¬
angelos zu sehen. Die Flut von Reproduktionen droht die Keime einer künst¬
lerischen Bildung zu ertränken, wo sie sich zeigen." Die Hamburger Kunst¬
freunde wollen Faksimilereproduktionen deutscher Holzschnitte und Kupferstiche
für Schulzwccke, zunächst Holbeins Totentanz, herstellen lassen, die den Wert
von Originalen haben und doch so billig sein sollen, daß jedes Kind beim
Unterricht ein Exemplar in der Hand haben kann. Das ist sehr löblich. Ob
es aber viel helfen wird, solange man in den Gymnasien den Knaben durch
cmtikisirende Bilder von klein auf die Köpfe verdreht? Ich habe schon oft
gedacht: Sind denn Dürer und Rembrandt erst verständlich, wenn man das
Abiturientenexamen hinter sich hat?

Lichtwark giebt aber seinem Unterricht in der Kunstanschauung, der kaum
noch etwas mit den heute in Mode stehenden kunstgeschichtlichen Kursen gemein
hat, einen viel größern Hintergrund. Er zeigt, daß wir Deutschen im Sehen,
im Beobachten und Auffassen zurück sind, z. B. hinter den Engländern. Es
fehlt dein modernen Deutschen an „äußerer Kultur und Festigkeit der Form."
Am Engländer fallen die starken Seiten seiner Erziehung zuerst in die Augen;
einen so festen Typus, wie den des weltbeherrschenden englischen Gentleman,
hat Deutschland nur in seinem Offizierstande hervorgebracht. „Im Zivil sind
die Herrscher aller Kulturstaaten englische Gentlemen, in Uniform deutsche
Offiziere. Der englische Gentleman und der deutsche Offizier wirken als Vor¬
bild durch dieselben ästhetischen Qualitäten der Korrektheit und der strengen
äußern Zucht." Weil aber der typische Deutsche in seiner unzulänglichen
formalen Bildung schwach gegen fremden, namentlich englischen Einfluß ist, so
muß er die künstlerische Erziehung des Auges und der Empfindung bei sich
erhöhen. Er wird daraus einen höhern Ausdruck seiner Persönlichkeit ge¬
winnen. Vielleicht erscheint das manchem unsrer Leser weit hergeholt. Aber
liegt nicht in der großen und sehr weit verbreiteten Schätzung der Kunstwerke
bei den Engländern, die selbst gar kein Kunstvolk sind, liegt nicht in ihrem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/273>, abgerufen am 09.01.2025.