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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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teilweise bemühen, besser zu schreiben, als es früher geschah, aber daß dies
Bemühen so spät, lange nach Lessing, aufgetreten ist, unterscheidet unsre Zu¬
stände von denen der Engländer und Franzosen. Bei uns war lange Zeit
nur der Fachmann, der Gelehrte und der Beamte der Träger der höhern
Bildung, darum konnte diese äußerlich nicht so "vornehm" werden, sür ihre
eignen Kreise genügte ihr Äußeres, und die der Rangordnung nach vornehmen
Leute in Deutschland brauchten sie nicht. Unsre Aristokratie, sagt Gilde¬
meister, war gebildet nur im Mittelalter. Seit der Reformation sind alle
Schriftsteller ans den Bürgern und Bauern gekommen. Bis auf drei oder
Vier kann man die "Herren" aus unsrer Litteraturgeschichte wegstreichen, ohne
daß man ihre Abwesenheit bemerken wird. Die Kleist, Stolberg und Haller
sind zu den Bürgern herabgestiegen, haben diese aber nicht zu den Höhen der
Gesellschaft hinaufgezogen; sie wußten, wie öde es auf diesen Höhen aussieht.
Gildemeister weist auf glänzende Reihen von englischen Schriftstellern aus dem
Adel hin. bis zu dem höchsten der Lords hinauf. Hat wohl jemand einmal
ernstlich darüber nachgedacht, wie wenig der hohe deutsche Adel für die höhere
geistige Kultur ausmacht? Auch unsre "Gentry" kommt ja doch nur in der
Form der juristischen Beamtung dafür mit in Betracht. Also die vornehme
englische Welt ist und war schon lange viel, viel gebildeter als die unsre, und
so war und ist das Kleid unsrer Bildung weniger vornehm, worüber der Leser
das weitere in dem Essay über Macaulay nachlesen möge.

Wir geben noch einige Bemerkungen über einen gleich anziehenden, der
Lord Byron zum Gegenstande hat. Der Verfasser ist ja hier auf einem Ge¬
biete, in das er eingedrungen ist, wie wenige in Deutschland. Er schildert uns
zunächst die litterarische Atmosphäre Europas zur Zeit, als die zwei ersten
Gesänge des Childe Harold erschienen (1312), den Weltschmerz am Schluß der
Aufklärungsperiode, die Sentimentalität der Romantik in Deutschland, der See¬
schule in England. Es ist nicht möglich, ohne wörtlich abzuschreiben, eine
Borstellung zu geben von dem beispiellosen litterarischen Erfolge dieser Dichtung,
wie ihn Gildemeister beschreibt, von den einzelnen Umstünden, die es erklären,
dem genialen Ausdruck innerer Gefühle und ganz neuer äußerer Weltbilder,
der die Menschen gefangen nahm, von der ungewöhnlichen Person, die noch
wichtiger für sie wurde als ihre Dichtung. Denn Byrons Person hatte in
ihren Geschicken sowohl wie in ihrer äußern Erscheinung alles an sich, um
einen Autor interessant zu macheu. Auf die ersten Gesänge folgte 1816 der
dritte und dann der vierte, jeder immer schöner, strahlender als der vorher-
gegcmgne, und von einer Kraft des dichterischen Ausdrucks, wie er seit Shake¬
speare uicht mehr vernommen worden war. Childe Harold gilt für sein größtes
Werk; die in England den Don Juan höher stellen, sagen es nicht laut, um
nicht für unmoralisch gehalten zu werden. Die Gestalt der Poesie bleibt nun
zunächst bei Byron dieselbe: ein großer Mensch kämpft in seinem Unglück, über


teilweise bemühen, besser zu schreiben, als es früher geschah, aber daß dies
Bemühen so spät, lange nach Lessing, aufgetreten ist, unterscheidet unsre Zu¬
stände von denen der Engländer und Franzosen. Bei uns war lange Zeit
nur der Fachmann, der Gelehrte und der Beamte der Träger der höhern
Bildung, darum konnte diese äußerlich nicht so „vornehm" werden, sür ihre
eignen Kreise genügte ihr Äußeres, und die der Rangordnung nach vornehmen
Leute in Deutschland brauchten sie nicht. Unsre Aristokratie, sagt Gilde¬
meister, war gebildet nur im Mittelalter. Seit der Reformation sind alle
Schriftsteller ans den Bürgern und Bauern gekommen. Bis auf drei oder
Vier kann man die „Herren" aus unsrer Litteraturgeschichte wegstreichen, ohne
daß man ihre Abwesenheit bemerken wird. Die Kleist, Stolberg und Haller
sind zu den Bürgern herabgestiegen, haben diese aber nicht zu den Höhen der
Gesellschaft hinaufgezogen; sie wußten, wie öde es auf diesen Höhen aussieht.
Gildemeister weist auf glänzende Reihen von englischen Schriftstellern aus dem
Adel hin. bis zu dem höchsten der Lords hinauf. Hat wohl jemand einmal
ernstlich darüber nachgedacht, wie wenig der hohe deutsche Adel für die höhere
geistige Kultur ausmacht? Auch unsre „Gentry" kommt ja doch nur in der
Form der juristischen Beamtung dafür mit in Betracht. Also die vornehme
englische Welt ist und war schon lange viel, viel gebildeter als die unsre, und
so war und ist das Kleid unsrer Bildung weniger vornehm, worüber der Leser
das weitere in dem Essay über Macaulay nachlesen möge.

Wir geben noch einige Bemerkungen über einen gleich anziehenden, der
Lord Byron zum Gegenstande hat. Der Verfasser ist ja hier auf einem Ge¬
biete, in das er eingedrungen ist, wie wenige in Deutschland. Er schildert uns
zunächst die litterarische Atmosphäre Europas zur Zeit, als die zwei ersten
Gesänge des Childe Harold erschienen (1312), den Weltschmerz am Schluß der
Aufklärungsperiode, die Sentimentalität der Romantik in Deutschland, der See¬
schule in England. Es ist nicht möglich, ohne wörtlich abzuschreiben, eine
Borstellung zu geben von dem beispiellosen litterarischen Erfolge dieser Dichtung,
wie ihn Gildemeister beschreibt, von den einzelnen Umstünden, die es erklären,
dem genialen Ausdruck innerer Gefühle und ganz neuer äußerer Weltbilder,
der die Menschen gefangen nahm, von der ungewöhnlichen Person, die noch
wichtiger für sie wurde als ihre Dichtung. Denn Byrons Person hatte in
ihren Geschicken sowohl wie in ihrer äußern Erscheinung alles an sich, um
einen Autor interessant zu macheu. Auf die ersten Gesänge folgte 1816 der
dritte und dann der vierte, jeder immer schöner, strahlender als der vorher-
gegcmgne, und von einer Kraft des dichterischen Ausdrucks, wie er seit Shake¬
speare uicht mehr vernommen worden war. Childe Harold gilt für sein größtes
Werk; die in England den Don Juan höher stellen, sagen es nicht laut, um
nicht für unmoralisch gehalten zu werden. Die Gestalt der Poesie bleibt nun
zunächst bei Byron dieselbe: ein großer Mensch kämpft in seinem Unglück, über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/95>, abgerufen am 23.07.2024.