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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Otto Gildemeisters Essays

haben. Er galt seit Cannings Tode, so oft er im Parlament auftrat, was
später nur noch selten geschah, für den besten Redner Englands, und doch war
er kein Staatsmann, kein Berufspolitiker, er verdankte diesen Ruhm der sprach-
lichen Vollendung seiner Gedanken, seinem cinfs äußerste gepflegten Talent.
Diese Grundlage machte denselben Mann zu dem ersten englischen Schriftsteller;
nach seinem Tode (1859) trat nach allgemeinem Urteil in diese Stelle Carlyle
ein. Macaulay aber ist nach Gildemeisters Ansicht nicht nur in England, sondern
in der ganzen gebildeten Welt der populärste, vom gebildetsten und vom
Durchschnittsleser gleich eifrig studirte Schriftsteller über Gegenstände der
Litteratur und der Geschichte, und doch -- so urteilt er -- ist er auf keinem
dieser Gebiete an Tiefe der Auffassung, Höhe des Blicks und Reichtum der
Forschung den erste" gleich. Seine Geschichte Englands hat einen Absatz
gehabt wie Goethes Werther oder Walter Scotts Romane, ihr Stoff war
nicht neu, und ihre Behandlung nicht richtiger als die seiner Vorgänger, aber
seine Darstellung, die Verbindung eines bedeutenden Inhalts mit einer Form¬
vollendung ersten Ranges, die Verschmelzung des Geistes mit der Schönheit
haben dem Werke die Stellung in der Litteratur gegeben, die ihm nach dem
übereinstimmenden Spruche des Zeitalters zukommt. Seine Kenntnis und seine
Belesenheit in allen Fächern der Geschichte und in den einzelnen Litteraturen
war vielleicht so groß, wie die keines zweiten Zeitgenossen, sein Gedächtnis so
stark, daß er z. V. Ilias und Odyssee von einem beliebigen Verse an aus dem
Kopfe rezitiren, daß er ganze Seiten von Prosaschriftstellern, an die er seit
Jahren nicht mehr gedacht hatte, wörtlich hersagen konnte, und dem Inhalte
nach hielt er überhaupt einmal gelesenes so fest, daß er es nicht wieder ver¬
gaß. Er brauchte kein Buch mehr, um das entlegenste Datum der englischen
Geschichte nachzuschlagen, ihm war das kleinste gegenwärtig. Solche Eigen¬
schaften sind das Erfordernis des Gelehrten, bei Mncaulay verband sich mit
ihnen die Begabung und das Interesse des Künstlers. Sein Ziel war, sich
klar zu werden über die Kulturentwicklung und das in klaren Bildern andern
darzustellen. Er hatte das Glück, als Schriftsteller "es nicht nötig" zu haben,
er konnte sich mit voller Muße seinen Bildungsplänen hingeben in Studien,
Weltverkehr und Reisen, er gehörte also zu der vornehmen Klasse von Litteraten,
die ihren Gedanken in einem saftlosen Leben die gehörige Reife geben können.
Zwischen dem dicken Buche aber, der Frucht jahrelanger Arbeit, und den
Jourualartikeln für heute und morgen gab es schon lange in England ein
mittleres, nicht schweres und auch nicht flüchtiges Gedankenfuhrwerk, die Viertel-
jahrsschrifteu, und deren Inhalt ist der Essay, dessen Kunstgesetz die geistreichen
Prosaiker aus der Zeit der Königin Anna gefunden hatten. Gildemeister
macht höchst anregende Bemerkungen, wie es komme, daß wir in Deutschland
diesen Essay nicht haben, der sich doch, wie gerade Maeaulays Beispiel zeigt,
inhaltlich so bedeutend steigern läßt. Er erkennt an, daß die Gelehrten sich


Otto Gildemeisters Essays

haben. Er galt seit Cannings Tode, so oft er im Parlament auftrat, was
später nur noch selten geschah, für den besten Redner Englands, und doch war
er kein Staatsmann, kein Berufspolitiker, er verdankte diesen Ruhm der sprach-
lichen Vollendung seiner Gedanken, seinem cinfs äußerste gepflegten Talent.
Diese Grundlage machte denselben Mann zu dem ersten englischen Schriftsteller;
nach seinem Tode (1859) trat nach allgemeinem Urteil in diese Stelle Carlyle
ein. Macaulay aber ist nach Gildemeisters Ansicht nicht nur in England, sondern
in der ganzen gebildeten Welt der populärste, vom gebildetsten und vom
Durchschnittsleser gleich eifrig studirte Schriftsteller über Gegenstände der
Litteratur und der Geschichte, und doch — so urteilt er — ist er auf keinem
dieser Gebiete an Tiefe der Auffassung, Höhe des Blicks und Reichtum der
Forschung den erste» gleich. Seine Geschichte Englands hat einen Absatz
gehabt wie Goethes Werther oder Walter Scotts Romane, ihr Stoff war
nicht neu, und ihre Behandlung nicht richtiger als die seiner Vorgänger, aber
seine Darstellung, die Verbindung eines bedeutenden Inhalts mit einer Form¬
vollendung ersten Ranges, die Verschmelzung des Geistes mit der Schönheit
haben dem Werke die Stellung in der Litteratur gegeben, die ihm nach dem
übereinstimmenden Spruche des Zeitalters zukommt. Seine Kenntnis und seine
Belesenheit in allen Fächern der Geschichte und in den einzelnen Litteraturen
war vielleicht so groß, wie die keines zweiten Zeitgenossen, sein Gedächtnis so
stark, daß er z. V. Ilias und Odyssee von einem beliebigen Verse an aus dem
Kopfe rezitiren, daß er ganze Seiten von Prosaschriftstellern, an die er seit
Jahren nicht mehr gedacht hatte, wörtlich hersagen konnte, und dem Inhalte
nach hielt er überhaupt einmal gelesenes so fest, daß er es nicht wieder ver¬
gaß. Er brauchte kein Buch mehr, um das entlegenste Datum der englischen
Geschichte nachzuschlagen, ihm war das kleinste gegenwärtig. Solche Eigen¬
schaften sind das Erfordernis des Gelehrten, bei Mncaulay verband sich mit
ihnen die Begabung und das Interesse des Künstlers. Sein Ziel war, sich
klar zu werden über die Kulturentwicklung und das in klaren Bildern andern
darzustellen. Er hatte das Glück, als Schriftsteller „es nicht nötig" zu haben,
er konnte sich mit voller Muße seinen Bildungsplänen hingeben in Studien,
Weltverkehr und Reisen, er gehörte also zu der vornehmen Klasse von Litteraten,
die ihren Gedanken in einem saftlosen Leben die gehörige Reife geben können.
Zwischen dem dicken Buche aber, der Frucht jahrelanger Arbeit, und den
Jourualartikeln für heute und morgen gab es schon lange in England ein
mittleres, nicht schweres und auch nicht flüchtiges Gedankenfuhrwerk, die Viertel-
jahrsschrifteu, und deren Inhalt ist der Essay, dessen Kunstgesetz die geistreichen
Prosaiker aus der Zeit der Königin Anna gefunden hatten. Gildemeister
macht höchst anregende Bemerkungen, wie es komme, daß wir in Deutschland
diesen Essay nicht haben, der sich doch, wie gerade Maeaulays Beispiel zeigt,
inhaltlich so bedeutend steigern läßt. Er erkennt an, daß die Gelehrten sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/94>, abgerufen am 23.07.2024.