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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Zwei philosophische Systeme

Die Verbindlichkeit der Pflicht aus dem höchsten Zweck abzuleiten ist aus
dem einfachen Grunde nicht möglich, weil wir den Weltzweck nicht kennen.
Der Weltzweck. den Hartmann offenbart hat, daß die vernünftigen Wesen
durch ihre Unglückseligkcit zur Einsicht in die Unvernunft des Wollens er¬
zogen und schließlich zu dem Entschluß gebracht werden sollen, allem Wollen
zu entsagen und dadurch die Welt zu vernichten, ist eine Lächerlichkeit, die
keine ernsthafte Diskussion zuläßt; kein Mensch glaubt daran. Und selbst
wenn einer daran glaubte, würde dieser sein Glaube ohnmächtig sein, ihm anch
nur einen Finger zu einer Gutthat zu bewegen oder ihm den Verzicht auf
einen sündhaften Genuß abzuringen. Was nach Millionen Jahren geschehen
wird, das rührt uns nicht, und sür die Wesen, die nach Millionen Jahren
leben werden, ein Opfer zu bringen, das wäre eine wirkliche Dummheit,
während die, deren Hartmaim das Absolute beschuldigt, keine ist, denn einen
so gescheiten Mann und glücklichen Familienvater hervorzubringen, wie er selber
einer ist, das war doch vom Absoluten wahrhaftig keine Dummheit. Was
der altgläubige Christ hofft und fürchtet, Himmel und Hölle, das hat Kraft
zu bewegen und zurückzuhalten, weil es nicht nach Millionen Jahren, sondern
unmittelbar nach dein eignen Tode, also nach einer ganz kurzen Zeitspanne
erwartet wird, und der Zug eines guten Herzens, den gegenwärtig Lebenden
wohlzuthun, wie sein Widerwille gegen Niedertracht und Gemeinheit, die
haben Kraft zu treiben und zurückzuhalten. Die erste und natürlichste Grund¬
lage der Moral ist die mit der ästhetischen zusammenhängende sittliche Natur
des Menschen, die sich ganz gut in die Kategorienlehre einfügen läßt, ja, wie
ich jetzt erkenne, unbedingt hineingehört. Denn daß ich mich gezwungen fühle,
eine regelmäßige Figur schöner zu finden als eine unregelmäßige und einen
liebenswürdigen Menschen schöner als einen Zwiderwurzen, das ist geradeso
eine "unbewußte Kategorialfunktion" wie die Nötigung, beim Zusammenzählen
von zwei und zwei vier herauszubringen. Und daß ich mich gezwungen fühle,
das Glück meines Nächsten mitzufühlen, das ist gerade so eine Einrichtung
der menschlichen Natur wie die sinnlichen Empfindungen; und der Schmerz,
den mir eine Verletzung der Gerechtigkeit verursacht, unterscheidet sich gar nicht
wesentlich von dem Schmerz einer körperlichen Wunde, und der Drang, meine
Kräfte in nützlicher Thätigkeit zu üben, ist ganz ähnlich dem Drange nach
Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse, ja er hängt, als Vewegungsantrieb, un¬
mittelbar mit einem leiblichen Bedürfniß zusammen. In Wohlwollen oder Liebe
und Güte, in Gerechtigkeit und Thätigkeit aber besteht die Beschaffenheit des
Menschen, die wir meine", wenn wir das ungeschickte Wort Sittlichkeit aus¬
sprechen. Daß ein Leben nach den sittlichen Ideen dem Weltzweck entspricht,
davon sind wir überzeugt, wenn wir auch diesen Weltzweck nicht kennen,
sondern uur ahnen, und den Zusammenhang des sittlichen Verhaltens mit ihm
nicht klar durchschauen; wir glauben eben an die Vernünftigkeit der Welt und


Zwei philosophische Systeme

Die Verbindlichkeit der Pflicht aus dem höchsten Zweck abzuleiten ist aus
dem einfachen Grunde nicht möglich, weil wir den Weltzweck nicht kennen.
Der Weltzweck. den Hartmann offenbart hat, daß die vernünftigen Wesen
durch ihre Unglückseligkcit zur Einsicht in die Unvernunft des Wollens er¬
zogen und schließlich zu dem Entschluß gebracht werden sollen, allem Wollen
zu entsagen und dadurch die Welt zu vernichten, ist eine Lächerlichkeit, die
keine ernsthafte Diskussion zuläßt; kein Mensch glaubt daran. Und selbst
wenn einer daran glaubte, würde dieser sein Glaube ohnmächtig sein, ihm anch
nur einen Finger zu einer Gutthat zu bewegen oder ihm den Verzicht auf
einen sündhaften Genuß abzuringen. Was nach Millionen Jahren geschehen
wird, das rührt uns nicht, und sür die Wesen, die nach Millionen Jahren
leben werden, ein Opfer zu bringen, das wäre eine wirkliche Dummheit,
während die, deren Hartmaim das Absolute beschuldigt, keine ist, denn einen
so gescheiten Mann und glücklichen Familienvater hervorzubringen, wie er selber
einer ist, das war doch vom Absoluten wahrhaftig keine Dummheit. Was
der altgläubige Christ hofft und fürchtet, Himmel und Hölle, das hat Kraft
zu bewegen und zurückzuhalten, weil es nicht nach Millionen Jahren, sondern
unmittelbar nach dein eignen Tode, also nach einer ganz kurzen Zeitspanne
erwartet wird, und der Zug eines guten Herzens, den gegenwärtig Lebenden
wohlzuthun, wie sein Widerwille gegen Niedertracht und Gemeinheit, die
haben Kraft zu treiben und zurückzuhalten. Die erste und natürlichste Grund¬
lage der Moral ist die mit der ästhetischen zusammenhängende sittliche Natur
des Menschen, die sich ganz gut in die Kategorienlehre einfügen läßt, ja, wie
ich jetzt erkenne, unbedingt hineingehört. Denn daß ich mich gezwungen fühle,
eine regelmäßige Figur schöner zu finden als eine unregelmäßige und einen
liebenswürdigen Menschen schöner als einen Zwiderwurzen, das ist geradeso
eine „unbewußte Kategorialfunktion" wie die Nötigung, beim Zusammenzählen
von zwei und zwei vier herauszubringen. Und daß ich mich gezwungen fühle,
das Glück meines Nächsten mitzufühlen, das ist gerade so eine Einrichtung
der menschlichen Natur wie die sinnlichen Empfindungen; und der Schmerz,
den mir eine Verletzung der Gerechtigkeit verursacht, unterscheidet sich gar nicht
wesentlich von dem Schmerz einer körperlichen Wunde, und der Drang, meine
Kräfte in nützlicher Thätigkeit zu üben, ist ganz ähnlich dem Drange nach
Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse, ja er hängt, als Vewegungsantrieb, un¬
mittelbar mit einem leiblichen Bedürfniß zusammen. In Wohlwollen oder Liebe
und Güte, in Gerechtigkeit und Thätigkeit aber besteht die Beschaffenheit des
Menschen, die wir meine», wenn wir das ungeschickte Wort Sittlichkeit aus¬
sprechen. Daß ein Leben nach den sittlichen Ideen dem Weltzweck entspricht,
davon sind wir überzeugt, wenn wir auch diesen Weltzweck nicht kennen,
sondern uur ahnen, und den Zusammenhang des sittlichen Verhaltens mit ihm
nicht klar durchschauen; wir glauben eben an die Vernünftigkeit der Welt und


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[0084] Zwei philosophische Systeme Die Verbindlichkeit der Pflicht aus dem höchsten Zweck abzuleiten ist aus dem einfachen Grunde nicht möglich, weil wir den Weltzweck nicht kennen. Der Weltzweck. den Hartmann offenbart hat, daß die vernünftigen Wesen durch ihre Unglückseligkcit zur Einsicht in die Unvernunft des Wollens er¬ zogen und schließlich zu dem Entschluß gebracht werden sollen, allem Wollen zu entsagen und dadurch die Welt zu vernichten, ist eine Lächerlichkeit, die keine ernsthafte Diskussion zuläßt; kein Mensch glaubt daran. Und selbst wenn einer daran glaubte, würde dieser sein Glaube ohnmächtig sein, ihm anch nur einen Finger zu einer Gutthat zu bewegen oder ihm den Verzicht auf einen sündhaften Genuß abzuringen. Was nach Millionen Jahren geschehen wird, das rührt uns nicht, und sür die Wesen, die nach Millionen Jahren leben werden, ein Opfer zu bringen, das wäre eine wirkliche Dummheit, während die, deren Hartmaim das Absolute beschuldigt, keine ist, denn einen so gescheiten Mann und glücklichen Familienvater hervorzubringen, wie er selber einer ist, das war doch vom Absoluten wahrhaftig keine Dummheit. Was der altgläubige Christ hofft und fürchtet, Himmel und Hölle, das hat Kraft zu bewegen und zurückzuhalten, weil es nicht nach Millionen Jahren, sondern unmittelbar nach dein eignen Tode, also nach einer ganz kurzen Zeitspanne erwartet wird, und der Zug eines guten Herzens, den gegenwärtig Lebenden wohlzuthun, wie sein Widerwille gegen Niedertracht und Gemeinheit, die haben Kraft zu treiben und zurückzuhalten. Die erste und natürlichste Grund¬ lage der Moral ist die mit der ästhetischen zusammenhängende sittliche Natur des Menschen, die sich ganz gut in die Kategorienlehre einfügen läßt, ja, wie ich jetzt erkenne, unbedingt hineingehört. Denn daß ich mich gezwungen fühle, eine regelmäßige Figur schöner zu finden als eine unregelmäßige und einen liebenswürdigen Menschen schöner als einen Zwiderwurzen, das ist geradeso eine „unbewußte Kategorialfunktion" wie die Nötigung, beim Zusammenzählen von zwei und zwei vier herauszubringen. Und daß ich mich gezwungen fühle, das Glück meines Nächsten mitzufühlen, das ist gerade so eine Einrichtung der menschlichen Natur wie die sinnlichen Empfindungen; und der Schmerz, den mir eine Verletzung der Gerechtigkeit verursacht, unterscheidet sich gar nicht wesentlich von dem Schmerz einer körperlichen Wunde, und der Drang, meine Kräfte in nützlicher Thätigkeit zu üben, ist ganz ähnlich dem Drange nach Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse, ja er hängt, als Vewegungsantrieb, un¬ mittelbar mit einem leiblichen Bedürfniß zusammen. In Wohlwollen oder Liebe und Güte, in Gerechtigkeit und Thätigkeit aber besteht die Beschaffenheit des Menschen, die wir meine», wenn wir das ungeschickte Wort Sittlichkeit aus¬ sprechen. Daß ein Leben nach den sittlichen Ideen dem Weltzweck entspricht, davon sind wir überzeugt, wenn wir auch diesen Weltzweck nicht kennen, sondern uur ahnen, und den Zusammenhang des sittlichen Verhaltens mit ihm nicht klar durchschauen; wir glauben eben an die Vernünftigkeit der Welt und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/84>, abgerufen am 23.07.2024.