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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Auswärtige Politik

in bejahendem Sinn entschieden, und niemand denkt im Ernst an die Möglich¬
keit, ein politisch mündiges Volk könnte zur Abwechslung einmal wieder un¬
mündig werden. Es handelt sich also nicht mehr darum, ob sich die Deutschen
mit Politik befassen sollen oder nicht, sondern ob sie sich nur mit innerer Politik
befassen sollen, ohne von den auswärtigen Verhältnissen, die auf diese Politik
bestimmend einwirken, eine hinlänglich deutliche Vorstellung zu haben. Die
Frage so fassen heißt aber schon sie beantworten. Das Urteilen können wir
nicht mehr hindern; sorgen wir dafür, daß sich das richtige Urteil einstelle.

Um es noch einmal zusammenzufassen: es ist wahr, daß die auswärtigen
Angelegenheiten zu verwickelt sind, um von Laien übersehen werden zu können;
es ist aber nicht wahrer, als wenn man dasselbe von den innern Staats¬
angelegenheiten behauptete. Es ist wahr im absoluten und nicht wahr im
relativen Sinne. Die Aufgaben der Politik zu lösen, dazu reicht die Einsicht
des Laien allerdings nicht aus. Aber ihren Gang zu verfolgen, sich ein Bild
von ihnen zu machen, an ihrer Entwicklung innern Anteil zu nehmen, dazu
ist der Laie genau in dem Maße befähigt, wie zur Beurteilung politischer Ver¬
hältnisse überhaupt. Dieses Maß ist ja unendlich verschieden, und der be¬
scheidne Mann, der von sich selbst Bescheid weiß und sich in den Grenzen feiner
Erkenntnis hält, ist sicherlich achtbarer als der Narr, der alles zu verstehen
glaubt. Aber es hat auch noch lange keine Gefahr, daß unsre Arbeiter,
daß selbst die deutschen Bauern und Handwerker über den russisch-englischen
Wettbewerb um Abesshnien oder über die Annexion von Hawaii einander in
die Haare gerieten; unsre Gebildeten sind es, an die sich diese Zeilen wenden.

In einem geselligen Kreise kam kürzlich das Gespräch auf die deutsche
Politik während des griechisch-türkischen Krieges. Ein überzeugter Verteidiger
erklärte sie aus einer angeblichen Verstimmung zwischen dem Kaiser und seiner
Schwester, der Kronprinzessin von Griechenland; außerdem aus dem Bestreben,
durch Annäherung an Rußland Frankreich zu isoliren, einem Zweck, der dem
Sprecher denn auch in der glücklichsten Weise erreicht schien. Der Verkünder
dieser Weisheit war ein Mann in angesehenster Stellung und mit allen Zer¬
tifikaten wissenschaftlicher Bildung ausgestattet-

Dieses Beispiel ist bezeichnend; in ihm sind die beiden verbreiterten Ur¬
sachen der Verstündnislosigkeit des Publikums gegenüber der auswärtigen
Politik vereinigt. Erstens die Auffassung, daß bei der Frage nach den Trieb¬
kräften dieser Politik die Gewissenhaftigkeit von vornherein ausgeschieden werden
müsse. Das Verwerfliche der Annahme, daß der Beherrscher des deutschen
Reiches dessen Schicksale nach persönlichen Stimmungen leiten solle, kam ihrem
Erfinder gar nicht in den Sinn. Daneben tritt die krankhafte Sucht nach möglichst
entlegnen und kunstvoll zusammengesponnenen Erklärungen in der unglaublichen
Vorstellung zu Tage, daß Deutschland seinen Standpunkt gegenüber den orien¬
talischen Wirren nach Maßgabe seiner Beziehungen zu Frankreich gewählt habe.


Auswärtige Politik

in bejahendem Sinn entschieden, und niemand denkt im Ernst an die Möglich¬
keit, ein politisch mündiges Volk könnte zur Abwechslung einmal wieder un¬
mündig werden. Es handelt sich also nicht mehr darum, ob sich die Deutschen
mit Politik befassen sollen oder nicht, sondern ob sie sich nur mit innerer Politik
befassen sollen, ohne von den auswärtigen Verhältnissen, die auf diese Politik
bestimmend einwirken, eine hinlänglich deutliche Vorstellung zu haben. Die
Frage so fassen heißt aber schon sie beantworten. Das Urteilen können wir
nicht mehr hindern; sorgen wir dafür, daß sich das richtige Urteil einstelle.

Um es noch einmal zusammenzufassen: es ist wahr, daß die auswärtigen
Angelegenheiten zu verwickelt sind, um von Laien übersehen werden zu können;
es ist aber nicht wahrer, als wenn man dasselbe von den innern Staats¬
angelegenheiten behauptete. Es ist wahr im absoluten und nicht wahr im
relativen Sinne. Die Aufgaben der Politik zu lösen, dazu reicht die Einsicht
des Laien allerdings nicht aus. Aber ihren Gang zu verfolgen, sich ein Bild
von ihnen zu machen, an ihrer Entwicklung innern Anteil zu nehmen, dazu
ist der Laie genau in dem Maße befähigt, wie zur Beurteilung politischer Ver¬
hältnisse überhaupt. Dieses Maß ist ja unendlich verschieden, und der be¬
scheidne Mann, der von sich selbst Bescheid weiß und sich in den Grenzen feiner
Erkenntnis hält, ist sicherlich achtbarer als der Narr, der alles zu verstehen
glaubt. Aber es hat auch noch lange keine Gefahr, daß unsre Arbeiter,
daß selbst die deutschen Bauern und Handwerker über den russisch-englischen
Wettbewerb um Abesshnien oder über die Annexion von Hawaii einander in
die Haare gerieten; unsre Gebildeten sind es, an die sich diese Zeilen wenden.

In einem geselligen Kreise kam kürzlich das Gespräch auf die deutsche
Politik während des griechisch-türkischen Krieges. Ein überzeugter Verteidiger
erklärte sie aus einer angeblichen Verstimmung zwischen dem Kaiser und seiner
Schwester, der Kronprinzessin von Griechenland; außerdem aus dem Bestreben,
durch Annäherung an Rußland Frankreich zu isoliren, einem Zweck, der dem
Sprecher denn auch in der glücklichsten Weise erreicht schien. Der Verkünder
dieser Weisheit war ein Mann in angesehenster Stellung und mit allen Zer¬
tifikaten wissenschaftlicher Bildung ausgestattet-

Dieses Beispiel ist bezeichnend; in ihm sind die beiden verbreiterten Ur¬
sachen der Verstündnislosigkeit des Publikums gegenüber der auswärtigen
Politik vereinigt. Erstens die Auffassung, daß bei der Frage nach den Trieb¬
kräften dieser Politik die Gewissenhaftigkeit von vornherein ausgeschieden werden
müsse. Das Verwerfliche der Annahme, daß der Beherrscher des deutschen
Reiches dessen Schicksale nach persönlichen Stimmungen leiten solle, kam ihrem
Erfinder gar nicht in den Sinn. Daneben tritt die krankhafte Sucht nach möglichst
entlegnen und kunstvoll zusammengesponnenen Erklärungen in der unglaublichen
Vorstellung zu Tage, daß Deutschland seinen Standpunkt gegenüber den orien¬
talischen Wirren nach Maßgabe seiner Beziehungen zu Frankreich gewählt habe.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/70>, abgerufen am 23.07.2024.