Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Auswärtige Politik

herrschende Abhängigkeit der letztern von der erstern betont zu haben. "Man
beginnt schon allgemein zu fühlen, sagt er,*) und die praktischen Staatsmänner
haben es längst gefühlt, daß es die sogenannte auswärtige Politik ist, die
auch auf die innere Staatsentwicklung dergestalt zurückwirkt, daß, wenn freilich
eine Wechselwirkung zwischen beiden stattfindet, es doch in der That die erstere
ist, welche den Ausschlag giebt. Denn offenbar ist es doch nicht der Zustand
dieses oder jenes Staates, sondern die Lage der gesamten europäischen Ver¬
hältnisse, woraus nicht nur die letzte Entscheidung folgt, sondern woraus auch
die letzte Erklärung für die wichtigsten innern Vorgänge des Stciatslcbcns zu
entnehmen ist." Gewiß ein treffendes Wort; nnr daß wir heute an die Stelle
der "gesamten europäischen Verhältnisse" die gesamten politischen und wirt¬
schaftlichen Verhältnisse der bewohnten Erde setzen müssen.

Das Gefühl, das schon dem damaligen Beobachter allgemein empfunden
zu werden schien, hat seitdem in Deutschland wenig Fortschritte gemacht. Zwei
Ursachen dieser Erscheinung liegen auf der Hand: die Neuheit einer einheit¬
lichen deutschen Politik bei dem kurzen Bestände unsers jungen Reichs, und
dann der seltne Glücksumstand, daß seine auswärtige Politik während der
ersten zwei Jahrzehnte in den Händen eines unvergleichlichen Meisters lag.
Kritische Betrachtungen über diese Politik galten damals bestenfalls für eine
müßige Liebhaberei, der nachzuhängen mehr verzeihlich als verdienstlich er¬
schien. Gewiß ein glücklicher Zustand, der aber nicht von Dauer sein konnte.

Zwar hat sich aus jener Zeit in weiten Kreisen unsers Volks bis auf
den heutigen Tag die Anschauung erhalten, für die Masse der Deutschen müsse
die auswärtige Politik ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Es sei das un¬
vermeidlich, und es sei auch wünschenswert. Unvermeidlich, weil die aus¬
wärtigen Angelegenheiten eines großen Reiches zu verwickelt wären, als daß sie
von Außenstehenden übersehen werden könnten. Wünschenswert, weil das
Hineinreden der Parlamente in diplomatische Verhandlungen in der Regel
mehr Schaden als Nutzen stifte. Auch der Bevölkerung selbst würde die Be¬
schäftigung mit Fragen der auswärtigen Politik in keiner Weise zum Vorteil
gereiche"; im Gegenteil: ein unerträgliches Kannegießern würde die einzige
Folge sein.

Unter diesen Behauptungen ist jedoch nur eine richtig. Ein Hineinreden
der Parlamente in diplomatische Verhandlungen ist selbstverständlich vom Übel
und vom vaterländischen Standpunkt aus geradezu ungehörig, es müßte denn
sein, daß eine große und öffentliche Gefahr besprochen werden sollte, oder daß
die Jnterpellation auf Wunsch der eignen Regierung geschähe. Ebendarum
wird es aber auch keinem zurechnungsfähigen Menschen in den Sinn kommen,
parlamentarische Einmischungen in schwebende Verhandlungen zu empfehlen.



Kritik aller Parteien, Kapitel VII, Abschnitt 3.
Auswärtige Politik

herrschende Abhängigkeit der letztern von der erstern betont zu haben. „Man
beginnt schon allgemein zu fühlen, sagt er,*) und die praktischen Staatsmänner
haben es längst gefühlt, daß es die sogenannte auswärtige Politik ist, die
auch auf die innere Staatsentwicklung dergestalt zurückwirkt, daß, wenn freilich
eine Wechselwirkung zwischen beiden stattfindet, es doch in der That die erstere
ist, welche den Ausschlag giebt. Denn offenbar ist es doch nicht der Zustand
dieses oder jenes Staates, sondern die Lage der gesamten europäischen Ver¬
hältnisse, woraus nicht nur die letzte Entscheidung folgt, sondern woraus auch
die letzte Erklärung für die wichtigsten innern Vorgänge des Stciatslcbcns zu
entnehmen ist." Gewiß ein treffendes Wort; nnr daß wir heute an die Stelle
der „gesamten europäischen Verhältnisse" die gesamten politischen und wirt¬
schaftlichen Verhältnisse der bewohnten Erde setzen müssen.

Das Gefühl, das schon dem damaligen Beobachter allgemein empfunden
zu werden schien, hat seitdem in Deutschland wenig Fortschritte gemacht. Zwei
Ursachen dieser Erscheinung liegen auf der Hand: die Neuheit einer einheit¬
lichen deutschen Politik bei dem kurzen Bestände unsers jungen Reichs, und
dann der seltne Glücksumstand, daß seine auswärtige Politik während der
ersten zwei Jahrzehnte in den Händen eines unvergleichlichen Meisters lag.
Kritische Betrachtungen über diese Politik galten damals bestenfalls für eine
müßige Liebhaberei, der nachzuhängen mehr verzeihlich als verdienstlich er¬
schien. Gewiß ein glücklicher Zustand, der aber nicht von Dauer sein konnte.

Zwar hat sich aus jener Zeit in weiten Kreisen unsers Volks bis auf
den heutigen Tag die Anschauung erhalten, für die Masse der Deutschen müsse
die auswärtige Politik ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Es sei das un¬
vermeidlich, und es sei auch wünschenswert. Unvermeidlich, weil die aus¬
wärtigen Angelegenheiten eines großen Reiches zu verwickelt wären, als daß sie
von Außenstehenden übersehen werden könnten. Wünschenswert, weil das
Hineinreden der Parlamente in diplomatische Verhandlungen in der Regel
mehr Schaden als Nutzen stifte. Auch der Bevölkerung selbst würde die Be¬
schäftigung mit Fragen der auswärtigen Politik in keiner Weise zum Vorteil
gereiche»; im Gegenteil: ein unerträgliches Kannegießern würde die einzige
Folge sein.

Unter diesen Behauptungen ist jedoch nur eine richtig. Ein Hineinreden
der Parlamente in diplomatische Verhandlungen ist selbstverständlich vom Übel
und vom vaterländischen Standpunkt aus geradezu ungehörig, es müßte denn
sein, daß eine große und öffentliche Gefahr besprochen werden sollte, oder daß
die Jnterpellation auf Wunsch der eignen Regierung geschähe. Ebendarum
wird es aber auch keinem zurechnungsfähigen Menschen in den Sinn kommen,
parlamentarische Einmischungen in schwebende Verhandlungen zu empfehlen.



Kritik aller Parteien, Kapitel VII, Abschnitt 3.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0068" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226300"/>
          <fw type="header" place="top"> Auswärtige Politik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_157" prev="#ID_156"> herrschende Abhängigkeit der letztern von der erstern betont zu haben. &#x201E;Man<lb/>
beginnt schon allgemein zu fühlen, sagt er,*) und die praktischen Staatsmänner<lb/>
haben es längst gefühlt, daß es die sogenannte auswärtige Politik ist, die<lb/>
auch auf die innere Staatsentwicklung dergestalt zurückwirkt, daß, wenn freilich<lb/>
eine Wechselwirkung zwischen beiden stattfindet, es doch in der That die erstere<lb/>
ist, welche den Ausschlag giebt. Denn offenbar ist es doch nicht der Zustand<lb/>
dieses oder jenes Staates, sondern die Lage der gesamten europäischen Ver¬<lb/>
hältnisse, woraus nicht nur die letzte Entscheidung folgt, sondern woraus auch<lb/>
die letzte Erklärung für die wichtigsten innern Vorgänge des Stciatslcbcns zu<lb/>
entnehmen ist." Gewiß ein treffendes Wort; nnr daß wir heute an die Stelle<lb/>
der &#x201E;gesamten europäischen Verhältnisse" die gesamten politischen und wirt¬<lb/>
schaftlichen Verhältnisse der bewohnten Erde setzen müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_158"> Das Gefühl, das schon dem damaligen Beobachter allgemein empfunden<lb/>
zu werden schien, hat seitdem in Deutschland wenig Fortschritte gemacht. Zwei<lb/>
Ursachen dieser Erscheinung liegen auf der Hand: die Neuheit einer einheit¬<lb/>
lichen deutschen Politik bei dem kurzen Bestände unsers jungen Reichs, und<lb/>
dann der seltne Glücksumstand, daß seine auswärtige Politik während der<lb/>
ersten zwei Jahrzehnte in den Händen eines unvergleichlichen Meisters lag.<lb/>
Kritische Betrachtungen über diese Politik galten damals bestenfalls für eine<lb/>
müßige Liebhaberei, der nachzuhängen mehr verzeihlich als verdienstlich er¬<lb/>
schien.  Gewiß ein glücklicher Zustand, der aber nicht von Dauer sein konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_159"> Zwar hat sich aus jener Zeit in weiten Kreisen unsers Volks bis auf<lb/>
den heutigen Tag die Anschauung erhalten, für die Masse der Deutschen müsse<lb/>
die auswärtige Politik ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Es sei das un¬<lb/>
vermeidlich, und es sei auch wünschenswert. Unvermeidlich, weil die aus¬<lb/>
wärtigen Angelegenheiten eines großen Reiches zu verwickelt wären, als daß sie<lb/>
von Außenstehenden übersehen werden könnten. Wünschenswert, weil das<lb/>
Hineinreden der Parlamente in diplomatische Verhandlungen in der Regel<lb/>
mehr Schaden als Nutzen stifte. Auch der Bevölkerung selbst würde die Be¬<lb/>
schäftigung mit Fragen der auswärtigen Politik in keiner Weise zum Vorteil<lb/>
gereiche»; im Gegenteil: ein unerträgliches Kannegießern würde die einzige<lb/>
Folge sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_160" next="#ID_161"> Unter diesen Behauptungen ist jedoch nur eine richtig. Ein Hineinreden<lb/>
der Parlamente in diplomatische Verhandlungen ist selbstverständlich vom Übel<lb/>
und vom vaterländischen Standpunkt aus geradezu ungehörig, es müßte denn<lb/>
sein, daß eine große und öffentliche Gefahr besprochen werden sollte, oder daß<lb/>
die Jnterpellation auf Wunsch der eignen Regierung geschähe. Ebendarum<lb/>
wird es aber auch keinem zurechnungsfähigen Menschen in den Sinn kommen,<lb/>
parlamentarische Einmischungen in schwebende Verhandlungen zu empfehlen.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_8" place="foot"> Kritik aller Parteien, Kapitel VII, Abschnitt 3.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0068] Auswärtige Politik herrschende Abhängigkeit der letztern von der erstern betont zu haben. „Man beginnt schon allgemein zu fühlen, sagt er,*) und die praktischen Staatsmänner haben es längst gefühlt, daß es die sogenannte auswärtige Politik ist, die auch auf die innere Staatsentwicklung dergestalt zurückwirkt, daß, wenn freilich eine Wechselwirkung zwischen beiden stattfindet, es doch in der That die erstere ist, welche den Ausschlag giebt. Denn offenbar ist es doch nicht der Zustand dieses oder jenes Staates, sondern die Lage der gesamten europäischen Ver¬ hältnisse, woraus nicht nur die letzte Entscheidung folgt, sondern woraus auch die letzte Erklärung für die wichtigsten innern Vorgänge des Stciatslcbcns zu entnehmen ist." Gewiß ein treffendes Wort; nnr daß wir heute an die Stelle der „gesamten europäischen Verhältnisse" die gesamten politischen und wirt¬ schaftlichen Verhältnisse der bewohnten Erde setzen müssen. Das Gefühl, das schon dem damaligen Beobachter allgemein empfunden zu werden schien, hat seitdem in Deutschland wenig Fortschritte gemacht. Zwei Ursachen dieser Erscheinung liegen auf der Hand: die Neuheit einer einheit¬ lichen deutschen Politik bei dem kurzen Bestände unsers jungen Reichs, und dann der seltne Glücksumstand, daß seine auswärtige Politik während der ersten zwei Jahrzehnte in den Händen eines unvergleichlichen Meisters lag. Kritische Betrachtungen über diese Politik galten damals bestenfalls für eine müßige Liebhaberei, der nachzuhängen mehr verzeihlich als verdienstlich er¬ schien. Gewiß ein glücklicher Zustand, der aber nicht von Dauer sein konnte. Zwar hat sich aus jener Zeit in weiten Kreisen unsers Volks bis auf den heutigen Tag die Anschauung erhalten, für die Masse der Deutschen müsse die auswärtige Politik ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Es sei das un¬ vermeidlich, und es sei auch wünschenswert. Unvermeidlich, weil die aus¬ wärtigen Angelegenheiten eines großen Reiches zu verwickelt wären, als daß sie von Außenstehenden übersehen werden könnten. Wünschenswert, weil das Hineinreden der Parlamente in diplomatische Verhandlungen in der Regel mehr Schaden als Nutzen stifte. Auch der Bevölkerung selbst würde die Be¬ schäftigung mit Fragen der auswärtigen Politik in keiner Weise zum Vorteil gereiche»; im Gegenteil: ein unerträgliches Kannegießern würde die einzige Folge sein. Unter diesen Behauptungen ist jedoch nur eine richtig. Ein Hineinreden der Parlamente in diplomatische Verhandlungen ist selbstverständlich vom Übel und vom vaterländischen Standpunkt aus geradezu ungehörig, es müßte denn sein, daß eine große und öffentliche Gefahr besprochen werden sollte, oder daß die Jnterpellation auf Wunsch der eignen Regierung geschähe. Ebendarum wird es aber auch keinem zurechnungsfähigen Menschen in den Sinn kommen, parlamentarische Einmischungen in schwebende Verhandlungen zu empfehlen. Kritik aller Parteien, Kapitel VII, Abschnitt 3.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/68
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/68>, abgerufen am 23.07.2024.