Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.Anthropologische Fragen Ernährung aber entsprechen einander meistens, weil Handwerke und Industrie¬ Anthropologische Fragen Ernährung aber entsprechen einander meistens, weil Handwerke und Industrie¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0484" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226714"/> <fw type="header" place="top"> Anthropologische Fragen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1191" prev="#ID_1190" next="#ID_1192"> Ernährung aber entsprechen einander meistens, weil Handwerke und Industrie¬<lb/> zweige, die große Körperkraft erfordern, bei sehr niedrigen Löhnen auf die<lb/> Dauer nicht bestehen können, denn schlecht genährte Arbeiter können eben nicht<lb/> leisten, was dazu erfordert wird. So entstehen innerhalb einunddesselben<lb/> Volkes ganz verschiedne Menschenrassen, denn als solche darf man wohl die<lb/> Bierschröter, die Bergleute, die Weber bezeichnen. Bei Pferden will Ammon<lb/> die Nichtigkeit der Züchterregel: die halbe Rasse komme durchs Maul hinein,<lb/> wohl gelten lassen, beim Menschen jedoch handle es sich vorzugsweise um<lb/> seelische Anlagen; bessere Ernährung komme aber in den meisten Fällen<lb/> nur dem Tier im Menschen zu statten, und mir bei wenigen wirke die<lb/> Nahrungszufuhr veredelnd. Auch uicht einmal bei wenigen; die Nahrungs¬<lb/> zufuhr an sich wirkt niemals weder veredelnd noch verschlechternd auf die<lb/> Seele ein. Wohl aber wirkt dauernde Nahrungsentzichung wie jede anhaltende<lb/> Schädigung des Leibes zuletzt auch zerrüttend auf das Seelenleben ein; wird<lb/> einem, der bisher Not gelitten hat, eine nicht überreichliche, aber nach Menge<lb/> und Art genügende Nahrung gewährt, so wird damit freilich nicht seine Seele<lb/> veredelt; wenn diese schlecht war, so bleibt sie schlecht. Aber wenn sie von Haus<lb/> aus gut war, so wird durch die günstige Wandlung der äußern Verhältnisse<lb/> — denn mit der Ernährungsweise wird sich ja zugleich auch noch manches<lb/> andre ändern — der Druck von der Seele hinweggenommen, der die Ent¬<lb/> faltung ihrer edlern Anlagen hinderte. Dann aber sind doch die leiblichen<lb/> Lebensbedingungen nicht die einzigen, die auf deu Menschen Einfluß üben; für<lb/> sich allein können sie kein höheres Seelenleben erzeugen, aber mit ihnen stehen<lb/> doch die mannichfachsten Knltureinflüsse in Verbindung. Es ist ein seit langem<lb/> erkanntes Gesetz der Menschheitsentwicklung, daß geistiges Leben mir in der<lb/> Wechselwirkung von Geistern entstehen kann und um so reicher wird, je zahl¬<lb/> reicher und verschiedner die auf einander einwirkenden Geister, je vielfacher die<lb/> Berührungspunkte sind, und je rascher die Einwirkungen auf einander folgen.<lb/> Daher sind weder entlegne Inseln noch ungeheure Tiefländer oder Hochebnen<lb/> die Geburtsstätten der Kultur, sondern kleine, vielgliedrige und mit vielen<lb/> Nachbarländern durch bequeme Verkehrswege verbundne Ländchen, daher er¬<lb/> blüht die höhere Kultur nicht auf dem Dorfe, sondern in der Stadt, und<lb/> daher siud die entlegensten und unzugänglichsten Länder die kulturärmsten.<lb/> Wesentlich sür deu Kulturfortschritt eines Volkes ist es, daß es nicht zu klein<lb/> sei, und daß seine vielen Angehörigen durch ihre gemeinsame Kultursprachc in<lb/> ununterbrochner geistiger Berührung mit einander stehen. Wo, wie im brasi¬<lb/> lianischen Urwalde, nahezu unüberwindliche Verkehrshindernisse die Stämme<lb/> von einander absperren, da geht die gemeinsame Ursprache in ebenso viel Dia¬<lb/> lekte aus einander, als es vereinzelte Niederlassungen giebt; jedes Völkchen von<lb/> etlichen hundert oder gar nur etlichen Dutzend Seelen hat seine eigne Sprache,<lb/> was als neues und schwerstes Verkehrshindernis die Vereinzelung vollständig</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0484]
Anthropologische Fragen
Ernährung aber entsprechen einander meistens, weil Handwerke und Industrie¬
zweige, die große Körperkraft erfordern, bei sehr niedrigen Löhnen auf die
Dauer nicht bestehen können, denn schlecht genährte Arbeiter können eben nicht
leisten, was dazu erfordert wird. So entstehen innerhalb einunddesselben
Volkes ganz verschiedne Menschenrassen, denn als solche darf man wohl die
Bierschröter, die Bergleute, die Weber bezeichnen. Bei Pferden will Ammon
die Nichtigkeit der Züchterregel: die halbe Rasse komme durchs Maul hinein,
wohl gelten lassen, beim Menschen jedoch handle es sich vorzugsweise um
seelische Anlagen; bessere Ernährung komme aber in den meisten Fällen
nur dem Tier im Menschen zu statten, und mir bei wenigen wirke die
Nahrungszufuhr veredelnd. Auch uicht einmal bei wenigen; die Nahrungs¬
zufuhr an sich wirkt niemals weder veredelnd noch verschlechternd auf die
Seele ein. Wohl aber wirkt dauernde Nahrungsentzichung wie jede anhaltende
Schädigung des Leibes zuletzt auch zerrüttend auf das Seelenleben ein; wird
einem, der bisher Not gelitten hat, eine nicht überreichliche, aber nach Menge
und Art genügende Nahrung gewährt, so wird damit freilich nicht seine Seele
veredelt; wenn diese schlecht war, so bleibt sie schlecht. Aber wenn sie von Haus
aus gut war, so wird durch die günstige Wandlung der äußern Verhältnisse
— denn mit der Ernährungsweise wird sich ja zugleich auch noch manches
andre ändern — der Druck von der Seele hinweggenommen, der die Ent¬
faltung ihrer edlern Anlagen hinderte. Dann aber sind doch die leiblichen
Lebensbedingungen nicht die einzigen, die auf deu Menschen Einfluß üben; für
sich allein können sie kein höheres Seelenleben erzeugen, aber mit ihnen stehen
doch die mannichfachsten Knltureinflüsse in Verbindung. Es ist ein seit langem
erkanntes Gesetz der Menschheitsentwicklung, daß geistiges Leben mir in der
Wechselwirkung von Geistern entstehen kann und um so reicher wird, je zahl¬
reicher und verschiedner die auf einander einwirkenden Geister, je vielfacher die
Berührungspunkte sind, und je rascher die Einwirkungen auf einander folgen.
Daher sind weder entlegne Inseln noch ungeheure Tiefländer oder Hochebnen
die Geburtsstätten der Kultur, sondern kleine, vielgliedrige und mit vielen
Nachbarländern durch bequeme Verkehrswege verbundne Ländchen, daher er¬
blüht die höhere Kultur nicht auf dem Dorfe, sondern in der Stadt, und
daher siud die entlegensten und unzugänglichsten Länder die kulturärmsten.
Wesentlich sür deu Kulturfortschritt eines Volkes ist es, daß es nicht zu klein
sei, und daß seine vielen Angehörigen durch ihre gemeinsame Kultursprachc in
ununterbrochner geistiger Berührung mit einander stehen. Wo, wie im brasi¬
lianischen Urwalde, nahezu unüberwindliche Verkehrshindernisse die Stämme
von einander absperren, da geht die gemeinsame Ursprache in ebenso viel Dia¬
lekte aus einander, als es vereinzelte Niederlassungen giebt; jedes Völkchen von
etlichen hundert oder gar nur etlichen Dutzend Seelen hat seine eigne Sprache,
was als neues und schwerstes Verkehrshindernis die Vereinzelung vollständig
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