Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.Anthropologische Fragen Wo die durchaus aristokratischen Bürger keine plebejisch gearteten Unterthanen Ganz unbegreiflich erscheint es uns, wie Ammon auf den Gedanken ver¬ Anthropologische Fragen Wo die durchaus aristokratischen Bürger keine plebejisch gearteten Unterthanen Ganz unbegreiflich erscheint es uns, wie Ammon auf den Gedanken ver¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0433" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226663"/> <fw type="header" place="top"> Anthropologische Fragen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1064" prev="#ID_1063"> Wo die durchaus aristokratischen Bürger keine plebejisch gearteten Unterthanen<lb/> haben, durch deren Beherrschung sie eine Aristokratie bilden könnten. Läßt<lb/> man die Sklaven als Volk gelten, so war auch Athen eine Aristokratie. Völker<lb/> von hoher Begabung und Bildung, namentlich die alten Griechen und die<lb/> mittelalterlichen Bewohner Ober- und Mittelitalieus, sind gleichzeitig das am<lb/> meisten staatenbildende und staatenauflösende Element; das erste, weil sie ge¬<lb/> scheit genug sind, die Bedingungen des Gesellschaftslebens zu erkennen und alle<lb/> möglichen Formen des politischen Zusammenlebens vorübergehend zu verwirk¬<lb/> lichen — sie produziren eine Fülle von Staatsverfassungen; das zweite, weil es<lb/> diese Fülle vou kleinen Staaten, von denen sich jeder nach seinem eignen Geschmack<lb/> einrichten will, niemals zum Nationalstaat kommen läßt — ähnlich ist ja die<lb/> Sache auch in Deutschland verlaufen. Der Großstaat ist daher nur möglich,<lb/> wenn entweder ein gering begabtes oder niedrig zivilisirtes Volk (das zweite,<lb/> der tiefere Kulturstand, ist die Hauptsache) von einem wenig zahlreichen, aber<lb/> hochzivilisirten unterjocht wird, das dann die herrschende und zusammenhaltende<lb/> Aristokratie bildet, oder wenn in einem nach der obigen Beschreibung zugleich<lb/> aristokratischen und demokratischen Volke der Unabhüngigkeitssinn der Mehrzahl<lb/> gebrochen wird. Man denke sich ein aus lauter Bismarcken bestehendes Volk,<lb/> ob das einen Staat bilden könnte! Wenn wirklich die Herreneigenschaften an<lb/> die lange Schädelform gebunden sein sollten, so wäre die Verminderung der<lb/> Langschädel eine Notwendigkeit gewesen, weil es sonst niemals zur Staaten-<lb/> bildung hätte kommen können. In Italien ist der mittelalterliche Unabhängig-<lb/> keitssinn so gründlich gedämpft, daß bloß noch ein paar tausend Sozialdemo-<lb/> kraten und Anarchisten dem Mechanismus des Militär- und Polizeistaats<lb/> widerstreben; die Herren Lombroso und Ammon mögen nun durch Messungen<lb/> unter sich ausmachen, ob diese Leute, den berühmten Professor Ferri ein¬<lb/> geschlossen, Verbrecherschädel mit abnorm kleinen Gehirnen haben, oder ob sie<lb/> echte Nachkommen langschädligcr mittelalterlicher Republikaner, vielleicht auch<lb/> eingewanderter deutscher Eroberer sind. Verträgt also der moderne Grvßstacit<lb/> nur eine verhältnismäßig geringe Zahl echter Germanencharaktere, so ist es<lb/> sogar fraglich, ob er eine allzu große Zahl hochgebildeter und selbständig<lb/> denkender Geister verträgt. Es ist eine der ungeheuern Aufgaben unsrer Zeit,<lb/> eine Staatsverfassung zu finden, die einer verhältnismäßig großen Zahl be¬<lb/> gabterer Individuen ihre Unabhängigkeit sichert, ohne daß dadurch die Einheit<lb/> des Staats und die gesellschaftliche Ordnung aufgelöst würden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1065" next="#ID_1066"> Ganz unbegreiflich erscheint es uns, wie Ammon auf den Gedanken ver¬<lb/> fallen kann, die vermeintliche Langschädelbegabung sei für eingewanderte Bauer-<lb/> jungen ein Vorteil im Kampfe ums Dasein in der Stadt. Offenbar braucht<lb/> ein solcher doch das, was Ammon Rundschädelbegabung nennt. Der Lehrling<lb/> oder junge Fabrikarbeiter würde schön ankommen, wenn er Herrschertalente<lb/> entfalten oder sich „mit dem ganzen Ungestüm seines Wesens rein Wissenschaft-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0433]
Anthropologische Fragen
Wo die durchaus aristokratischen Bürger keine plebejisch gearteten Unterthanen
haben, durch deren Beherrschung sie eine Aristokratie bilden könnten. Läßt
man die Sklaven als Volk gelten, so war auch Athen eine Aristokratie. Völker
von hoher Begabung und Bildung, namentlich die alten Griechen und die
mittelalterlichen Bewohner Ober- und Mittelitalieus, sind gleichzeitig das am
meisten staatenbildende und staatenauflösende Element; das erste, weil sie ge¬
scheit genug sind, die Bedingungen des Gesellschaftslebens zu erkennen und alle
möglichen Formen des politischen Zusammenlebens vorübergehend zu verwirk¬
lichen — sie produziren eine Fülle von Staatsverfassungen; das zweite, weil es
diese Fülle vou kleinen Staaten, von denen sich jeder nach seinem eignen Geschmack
einrichten will, niemals zum Nationalstaat kommen läßt — ähnlich ist ja die
Sache auch in Deutschland verlaufen. Der Großstaat ist daher nur möglich,
wenn entweder ein gering begabtes oder niedrig zivilisirtes Volk (das zweite,
der tiefere Kulturstand, ist die Hauptsache) von einem wenig zahlreichen, aber
hochzivilisirten unterjocht wird, das dann die herrschende und zusammenhaltende
Aristokratie bildet, oder wenn in einem nach der obigen Beschreibung zugleich
aristokratischen und demokratischen Volke der Unabhüngigkeitssinn der Mehrzahl
gebrochen wird. Man denke sich ein aus lauter Bismarcken bestehendes Volk,
ob das einen Staat bilden könnte! Wenn wirklich die Herreneigenschaften an
die lange Schädelform gebunden sein sollten, so wäre die Verminderung der
Langschädel eine Notwendigkeit gewesen, weil es sonst niemals zur Staaten-
bildung hätte kommen können. In Italien ist der mittelalterliche Unabhängig-
keitssinn so gründlich gedämpft, daß bloß noch ein paar tausend Sozialdemo-
kraten und Anarchisten dem Mechanismus des Militär- und Polizeistaats
widerstreben; die Herren Lombroso und Ammon mögen nun durch Messungen
unter sich ausmachen, ob diese Leute, den berühmten Professor Ferri ein¬
geschlossen, Verbrecherschädel mit abnorm kleinen Gehirnen haben, oder ob sie
echte Nachkommen langschädligcr mittelalterlicher Republikaner, vielleicht auch
eingewanderter deutscher Eroberer sind. Verträgt also der moderne Grvßstacit
nur eine verhältnismäßig geringe Zahl echter Germanencharaktere, so ist es
sogar fraglich, ob er eine allzu große Zahl hochgebildeter und selbständig
denkender Geister verträgt. Es ist eine der ungeheuern Aufgaben unsrer Zeit,
eine Staatsverfassung zu finden, die einer verhältnismäßig großen Zahl be¬
gabterer Individuen ihre Unabhängigkeit sichert, ohne daß dadurch die Einheit
des Staats und die gesellschaftliche Ordnung aufgelöst würden.
Ganz unbegreiflich erscheint es uns, wie Ammon auf den Gedanken ver¬
fallen kann, die vermeintliche Langschädelbegabung sei für eingewanderte Bauer-
jungen ein Vorteil im Kampfe ums Dasein in der Stadt. Offenbar braucht
ein solcher doch das, was Ammon Rundschädelbegabung nennt. Der Lehrling
oder junge Fabrikarbeiter würde schön ankommen, wenn er Herrschertalente
entfalten oder sich „mit dem ganzen Ungestüm seines Wesens rein Wissenschaft-
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