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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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platens Tagebücher

Sommeridyll desselben Jahres in Schliersee vor, aber die Art, wie Platen in
diesem Lebensfrühling nach geistiger Vervollkommnung rang und die künst¬
lerischen Anforderungen an seine eignen Gedichte stets höher spannte, mit ent-
schiedner Scheu vor der Öffentlichkeit sein eigner strengster Kritiker war, muß
ihm im Urteil der Nachwelt zu gute kommen. Unverkennbar geht ein Zug
zum akademischen Dichter, zur gehaltnen Würde, die Platen später eigentümlich
war, schon durch seine Jugend. Vorliebe für alles, was sich äußerlich vor¬
nehm und formvoll anläßt, entschiedne Abneigung gegen jede Art realistischer
Fülle und kräftigen, derben Lebens sind ihm schon damals eigen. Der kalte,
scharfe Ernst von Boilcaus ^.re postiaus und der höfische Zierschritt und
Wohllaut von Guarinis?g,8t,or naiv begeistert ihn, den "Eulenspiegel," den er
in einem Verzweiflungsakt der langen Weile auf dem Marsche liest, findet er
"überaus dumm und abgeschmackt." An den Kotzebueschen Stücken, die um
diese Zeit das Theater beherrschten, fällt ihm "die äußerst schleuderische und
hingeworfne Diktion" viel früher unangenehm auf als ihre platte Lebens-
anschauung und ihre zwischen Rührseligkeit und Frechheit hin und her pendelnde
Alltagsgcsinnimg. Dem ernsten Fleiß, mit dem er Wissenschaften betreibt und
Sprachen erlernt, der stillen Empfänglichkeit, mit der er sich einzelnen Natur¬
uno Lebenseindrücken überläßt, gesellt sich nicht von Haus aus die eigentüm¬
liche Einbildungs- und Erfassungskraft, mit der der reichere, naivere und
sinnlich unmittelbare Dichter jedem Zustand und der ganzen Fülle der Lebens¬
erscheinungen poetische Stimmung und poetische Züge abgewinnt.

Nun sollen uns freilich die "Tagebücher" Platens überzeugen, daß die
bisherige Auffassung seiner Natur falsch gewesen sei, daß seine "übermächtige
Phantasie" sein inneres Leben in tragischer Weise beeinflußt habe, in ihrem
rein individuellen und deshalb oft geradezu erschütternden Ausdruck "der
wahre Schlüssel erst zum Verständnis des bisher für das große Publikum
"kalten," in der That aber leidenschaftlichsten deutschen Dichters gefunden
werde." Und damit berühren wir den Grund, der die frühern Besitzer und
ausschließlichen Kenner der "Tagebücher" des Dichters, Platens Freunde
Pfeufer und Graf Friedrich Fugger und seinen Gönner Schelling, wie die
gegenwärtigen Herausgeber meinen, in "übertriebner Behutsamkeit" abgehalten
hat, die Tagebücher zu veröffentlichen. Denn der rote Faden, der sich durch
die Niederschriften dieser ersten neunhundert Seiten der Tagebücher hindurch¬
geht, ist die psychisch-physische Besonderheit Platens, die ihm seinerzeit die
schamlos gehässigen Angriffe Heines zugezogen hat, die auch für Menschen,
die weit entfernt von Heines gewissenloser Frivolität waren, Platens mensch-
uche Erscheinung umschattete und verdunkelte. Der Dichter hat sich einen
"Märtyrer seines Eros" genannt. In zwei Stellen des vorliegenden Bandes
tritt dies peinliche Mürtyrcrtum (das durch keine noch so tiefe Überzeugung
von der Reinheit der Platenschen Phantasieleidenschaften für liebenswürdige


platens Tagebücher

Sommeridyll desselben Jahres in Schliersee vor, aber die Art, wie Platen in
diesem Lebensfrühling nach geistiger Vervollkommnung rang und die künst¬
lerischen Anforderungen an seine eignen Gedichte stets höher spannte, mit ent-
schiedner Scheu vor der Öffentlichkeit sein eigner strengster Kritiker war, muß
ihm im Urteil der Nachwelt zu gute kommen. Unverkennbar geht ein Zug
zum akademischen Dichter, zur gehaltnen Würde, die Platen später eigentümlich
war, schon durch seine Jugend. Vorliebe für alles, was sich äußerlich vor¬
nehm und formvoll anläßt, entschiedne Abneigung gegen jede Art realistischer
Fülle und kräftigen, derben Lebens sind ihm schon damals eigen. Der kalte,
scharfe Ernst von Boilcaus ^.re postiaus und der höfische Zierschritt und
Wohllaut von Guarinis?g,8t,or naiv begeistert ihn, den „Eulenspiegel," den er
in einem Verzweiflungsakt der langen Weile auf dem Marsche liest, findet er
»überaus dumm und abgeschmackt." An den Kotzebueschen Stücken, die um
diese Zeit das Theater beherrschten, fällt ihm „die äußerst schleuderische und
hingeworfne Diktion" viel früher unangenehm auf als ihre platte Lebens-
anschauung und ihre zwischen Rührseligkeit und Frechheit hin und her pendelnde
Alltagsgcsinnimg. Dem ernsten Fleiß, mit dem er Wissenschaften betreibt und
Sprachen erlernt, der stillen Empfänglichkeit, mit der er sich einzelnen Natur¬
uno Lebenseindrücken überläßt, gesellt sich nicht von Haus aus die eigentüm¬
liche Einbildungs- und Erfassungskraft, mit der der reichere, naivere und
sinnlich unmittelbare Dichter jedem Zustand und der ganzen Fülle der Lebens¬
erscheinungen poetische Stimmung und poetische Züge abgewinnt.

Nun sollen uns freilich die „Tagebücher" Platens überzeugen, daß die
bisherige Auffassung seiner Natur falsch gewesen sei, daß seine „übermächtige
Phantasie" sein inneres Leben in tragischer Weise beeinflußt habe, in ihrem
rein individuellen und deshalb oft geradezu erschütternden Ausdruck „der
wahre Schlüssel erst zum Verständnis des bisher für das große Publikum
»kalten,« in der That aber leidenschaftlichsten deutschen Dichters gefunden
werde." Und damit berühren wir den Grund, der die frühern Besitzer und
ausschließlichen Kenner der „Tagebücher" des Dichters, Platens Freunde
Pfeufer und Graf Friedrich Fugger und seinen Gönner Schelling, wie die
gegenwärtigen Herausgeber meinen, in „übertriebner Behutsamkeit" abgehalten
hat, die Tagebücher zu veröffentlichen. Denn der rote Faden, der sich durch
die Niederschriften dieser ersten neunhundert Seiten der Tagebücher hindurch¬
geht, ist die psychisch-physische Besonderheit Platens, die ihm seinerzeit die
schamlos gehässigen Angriffe Heines zugezogen hat, die auch für Menschen,
die weit entfernt von Heines gewissenloser Frivolität waren, Platens mensch-
uche Erscheinung umschattete und verdunkelte. Der Dichter hat sich einen
»Märtyrer seines Eros" genannt. In zwei Stellen des vorliegenden Bandes
tritt dies peinliche Mürtyrcrtum (das durch keine noch so tiefe Überzeugung
von der Reinheit der Platenschen Phantasieleidenschaften für liebenswürdige


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[0087] platens Tagebücher Sommeridyll desselben Jahres in Schliersee vor, aber die Art, wie Platen in diesem Lebensfrühling nach geistiger Vervollkommnung rang und die künst¬ lerischen Anforderungen an seine eignen Gedichte stets höher spannte, mit ent- schiedner Scheu vor der Öffentlichkeit sein eigner strengster Kritiker war, muß ihm im Urteil der Nachwelt zu gute kommen. Unverkennbar geht ein Zug zum akademischen Dichter, zur gehaltnen Würde, die Platen später eigentümlich war, schon durch seine Jugend. Vorliebe für alles, was sich äußerlich vor¬ nehm und formvoll anläßt, entschiedne Abneigung gegen jede Art realistischer Fülle und kräftigen, derben Lebens sind ihm schon damals eigen. Der kalte, scharfe Ernst von Boilcaus ^.re postiaus und der höfische Zierschritt und Wohllaut von Guarinis?g,8t,or naiv begeistert ihn, den „Eulenspiegel," den er in einem Verzweiflungsakt der langen Weile auf dem Marsche liest, findet er »überaus dumm und abgeschmackt." An den Kotzebueschen Stücken, die um diese Zeit das Theater beherrschten, fällt ihm „die äußerst schleuderische und hingeworfne Diktion" viel früher unangenehm auf als ihre platte Lebens- anschauung und ihre zwischen Rührseligkeit und Frechheit hin und her pendelnde Alltagsgcsinnimg. Dem ernsten Fleiß, mit dem er Wissenschaften betreibt und Sprachen erlernt, der stillen Empfänglichkeit, mit der er sich einzelnen Natur¬ uno Lebenseindrücken überläßt, gesellt sich nicht von Haus aus die eigentüm¬ liche Einbildungs- und Erfassungskraft, mit der der reichere, naivere und sinnlich unmittelbare Dichter jedem Zustand und der ganzen Fülle der Lebens¬ erscheinungen poetische Stimmung und poetische Züge abgewinnt. Nun sollen uns freilich die „Tagebücher" Platens überzeugen, daß die bisherige Auffassung seiner Natur falsch gewesen sei, daß seine „übermächtige Phantasie" sein inneres Leben in tragischer Weise beeinflußt habe, in ihrem rein individuellen und deshalb oft geradezu erschütternden Ausdruck „der wahre Schlüssel erst zum Verständnis des bisher für das große Publikum »kalten,« in der That aber leidenschaftlichsten deutschen Dichters gefunden werde." Und damit berühren wir den Grund, der die frühern Besitzer und ausschließlichen Kenner der „Tagebücher" des Dichters, Platens Freunde Pfeufer und Graf Friedrich Fugger und seinen Gönner Schelling, wie die gegenwärtigen Herausgeber meinen, in „übertriebner Behutsamkeit" abgehalten hat, die Tagebücher zu veröffentlichen. Denn der rote Faden, der sich durch die Niederschriften dieser ersten neunhundert Seiten der Tagebücher hindurch¬ geht, ist die psychisch-physische Besonderheit Platens, die ihm seinerzeit die schamlos gehässigen Angriffe Heines zugezogen hat, die auch für Menschen, die weit entfernt von Heines gewissenloser Frivolität waren, Platens mensch- uche Erscheinung umschattete und verdunkelte. Der Dichter hat sich einen »Märtyrer seines Eros" genannt. In zwei Stellen des vorliegenden Bandes tritt dies peinliche Mürtyrcrtum (das durch keine noch so tiefe Überzeugung von der Reinheit der Platenschen Phantasieleidenschaften für liebenswürdige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/87>, abgerufen am 29.12.2024.