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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Vererbung

Lebensformen eine immer mehr sich steigernde Komplikation derjenigen Sub¬
stanz, die die Wiederholung derselben Lebensform bedingt, und erreicht schlie߬
lich einen so hohen Grad, daß man sich schwer entschließt, an die Wirklichkeit
einer so unendlichen Verwicklung im Bau des Kleinsten zu glauben. Je tiefer
man aber in die Vererbungserscheinnngen eindringt, um so mehr befestigt sich
die Überzeugung, daß etwas derartiges wirklich existirt, denn es ist unmöglich,
die beobachteten Erscheinungen auf ganz andern: Wege, d. h. durch viel ein¬
fachere Annahmen zu erklären. Wir werden so von neuem daran erinnert, daß
die Unendlichkeit nicht nnr nach der Richtung des Großen ^soll heißen: in der
Richtung nach dem Großen^, sondern eben so sehr nach der des Kleinen liegt,
daß Größe nur ein relativer Begriff ist, und daß wir selbst mitten in der nach
beiden Seiten sich ausdehnenden Unendlichkeit stehen." Und die Unendlichkeit
ist eben eine der Unbegreiflichsten der Natur. Der Beweis, den er X 517
versucht, daß Zufuhr zum Keimplasma aus den Zellen nicht denkbar sei, scheint
uns mißglückt zu sein. Er meint, an den beschriebnen Kernteilungsapparat
erinnernd: "Weshalb sollte die Natur eine so skrupulöse Sorge für die möglichst
genaue Teilung der Idanten tragen, wenn ihre Zusammensetzung doch jeden
Augenblick durch Eindringen neuer Anlagen, der Keimchen, verändert werden
könnte." Aber Veränderungen müssen ja so wie so eintreten, weil sonst keine
neuen Arten entstehen könnten, und da der Leib jedes Individuums dem seiner
Ahnen ähnlich ist, so ist doch dafür gesorgt, daß seine Zellen keine von denen
seiner Ahnen grundverschiednen Keimchen absondern können, sondern höchstens
eine verhältnismäßig kleine Anzahl leicht abgeänderter, sodaß die allmähliche Ver¬
änderung des Keimplasmas nach Darwins Theorie nicht stärker gedacht zu werden
braucht als nach der Weismanns. Bei diesem stützen einander die beiden Grund¬
anschauungen gegenseitig: weil er den Erfahrungsbeweis für die NichtVererbung
erworbner Eigenschaften geliefert zu haben glaubt, so hält er eine Veränderung
des Keimplasmas durch die Veränderungen, die dessen Besitzer erleidet, für
unmöglich; und weil er auf mikroskopischem Wege die UnVeränderlichkeit des
Keimplasmas bewiesen zu haben glaubt, so hält er es für unmöglich, daß
erworbne Eigenschaften vererbt werden können.

(Schluß folgt)




Vererbung

Lebensformen eine immer mehr sich steigernde Komplikation derjenigen Sub¬
stanz, die die Wiederholung derselben Lebensform bedingt, und erreicht schlie߬
lich einen so hohen Grad, daß man sich schwer entschließt, an die Wirklichkeit
einer so unendlichen Verwicklung im Bau des Kleinsten zu glauben. Je tiefer
man aber in die Vererbungserscheinnngen eindringt, um so mehr befestigt sich
die Überzeugung, daß etwas derartiges wirklich existirt, denn es ist unmöglich,
die beobachteten Erscheinungen auf ganz andern: Wege, d. h. durch viel ein¬
fachere Annahmen zu erklären. Wir werden so von neuem daran erinnert, daß
die Unendlichkeit nicht nnr nach der Richtung des Großen ^soll heißen: in der
Richtung nach dem Großen^, sondern eben so sehr nach der des Kleinen liegt,
daß Größe nur ein relativer Begriff ist, und daß wir selbst mitten in der nach
beiden Seiten sich ausdehnenden Unendlichkeit stehen." Und die Unendlichkeit
ist eben eine der Unbegreiflichsten der Natur. Der Beweis, den er X 517
versucht, daß Zufuhr zum Keimplasma aus den Zellen nicht denkbar sei, scheint
uns mißglückt zu sein. Er meint, an den beschriebnen Kernteilungsapparat
erinnernd: „Weshalb sollte die Natur eine so skrupulöse Sorge für die möglichst
genaue Teilung der Idanten tragen, wenn ihre Zusammensetzung doch jeden
Augenblick durch Eindringen neuer Anlagen, der Keimchen, verändert werden
könnte." Aber Veränderungen müssen ja so wie so eintreten, weil sonst keine
neuen Arten entstehen könnten, und da der Leib jedes Individuums dem seiner
Ahnen ähnlich ist, so ist doch dafür gesorgt, daß seine Zellen keine von denen
seiner Ahnen grundverschiednen Keimchen absondern können, sondern höchstens
eine verhältnismäßig kleine Anzahl leicht abgeänderter, sodaß die allmähliche Ver¬
änderung des Keimplasmas nach Darwins Theorie nicht stärker gedacht zu werden
braucht als nach der Weismanns. Bei diesem stützen einander die beiden Grund¬
anschauungen gegenseitig: weil er den Erfahrungsbeweis für die NichtVererbung
erworbner Eigenschaften geliefert zu haben glaubt, so hält er eine Veränderung
des Keimplasmas durch die Veränderungen, die dessen Besitzer erleidet, für
unmöglich; und weil er auf mikroskopischem Wege die UnVeränderlichkeit des
Keimplasmas bewiesen zu haben glaubt, so hält er es für unmöglich, daß
erworbne Eigenschaften vererbt werden können.

(Schluß folgt)




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[0078] Vererbung Lebensformen eine immer mehr sich steigernde Komplikation derjenigen Sub¬ stanz, die die Wiederholung derselben Lebensform bedingt, und erreicht schlie߬ lich einen so hohen Grad, daß man sich schwer entschließt, an die Wirklichkeit einer so unendlichen Verwicklung im Bau des Kleinsten zu glauben. Je tiefer man aber in die Vererbungserscheinnngen eindringt, um so mehr befestigt sich die Überzeugung, daß etwas derartiges wirklich existirt, denn es ist unmöglich, die beobachteten Erscheinungen auf ganz andern: Wege, d. h. durch viel ein¬ fachere Annahmen zu erklären. Wir werden so von neuem daran erinnert, daß die Unendlichkeit nicht nnr nach der Richtung des Großen ^soll heißen: in der Richtung nach dem Großen^, sondern eben so sehr nach der des Kleinen liegt, daß Größe nur ein relativer Begriff ist, und daß wir selbst mitten in der nach beiden Seiten sich ausdehnenden Unendlichkeit stehen." Und die Unendlichkeit ist eben eine der Unbegreiflichsten der Natur. Der Beweis, den er X 517 versucht, daß Zufuhr zum Keimplasma aus den Zellen nicht denkbar sei, scheint uns mißglückt zu sein. Er meint, an den beschriebnen Kernteilungsapparat erinnernd: „Weshalb sollte die Natur eine so skrupulöse Sorge für die möglichst genaue Teilung der Idanten tragen, wenn ihre Zusammensetzung doch jeden Augenblick durch Eindringen neuer Anlagen, der Keimchen, verändert werden könnte." Aber Veränderungen müssen ja so wie so eintreten, weil sonst keine neuen Arten entstehen könnten, und da der Leib jedes Individuums dem seiner Ahnen ähnlich ist, so ist doch dafür gesorgt, daß seine Zellen keine von denen seiner Ahnen grundverschiednen Keimchen absondern können, sondern höchstens eine verhältnismäßig kleine Anzahl leicht abgeänderter, sodaß die allmähliche Ver¬ änderung des Keimplasmas nach Darwins Theorie nicht stärker gedacht zu werden braucht als nach der Weismanns. Bei diesem stützen einander die beiden Grund¬ anschauungen gegenseitig: weil er den Erfahrungsbeweis für die NichtVererbung erworbner Eigenschaften geliefert zu haben glaubt, so hält er eine Veränderung des Keimplasmas durch die Veränderungen, die dessen Besitzer erleidet, für unmöglich; und weil er auf mikroskopischem Wege die UnVeränderlichkeit des Keimplasmas bewiesen zu haben glaubt, so hält er es für unmöglich, daß erworbne Eigenschaften vererbt werden können. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/78>, abgerufen am 29.12.2024.