Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vererbung

aber schwerlich wird jemand behaupten wollen, das Hühnerei habe seine Fähig¬
keit, zum Hühnchen zu werden, durch die Wärme erlangt. Offenbar hat es
sie vor allem infolge eines unendlich langen, pyyletischen Entwicklungs¬
ganges erlangt, der schließlich zu einer solchen chemisch-Physikalischen Struktur
des Eies und der sie befruchtenden Samenzelle führte, daß bei ihrer Ver¬
einigung ein Hühnchen daraus werden muß und weder eine Gans noch euie
Ente" (V 473). Sehr gut! Entwicklungsbedingungen sind noch keine Ent¬
stehungsursachen, und eine hinreichende Ursache für die Entstehung des Hühner¬
eis haben wir erst dann, wenn wir annehmen, daß der ..phyletische Ent¬
wicklungsgang" von einer das Huhn als Zweck setzenden Intelligenz geleitet
worden ist. "Die Welt ist so vortrefflich, als es überhaupt möglich war.
daß sie werde auf Grund der einmal gegebnen Kräfte; es ist nicht denkbar,
daß sie auch nur um einen Grad vortrefflicher hätte ausfallen köunen. Die
Organismenwelt beweist uns, daß dem so ist. denn bis ins einzelnste hinein
sehen wir jede lebende Art sich zweckmüßig gestalten und sich den speziellen
Lebensbedingungen anpassen, denen sie unterworfen ist" 585). Wenig,
wie gesagt, kann es uns anfechten, daß diese Zweckmäßigkeit nicht von vornherein
beabsichtigt, sondern durch Anpassung geworden sein soll. Das ist doch nur
eine Redensart, die eine Zeit lang Mode war. Die Anpassung wäre eben
gar nicht denkbar, wenn die Organismen nicht von vornherein dafür einge¬
richtet wären. Wäre das Keimplasma gewisser niederer Tierarten nicht so
zusammengesetzt, daß es auf gewisse Anstöße hin zur Bildung von Beinen
schreiten und auf gewisse andre Anstöße hin diese Thätigkeit wieder einstellen
muß, dann würden sich niemals aus wurmförmigen Tieren vierbeinige Rep¬
tilien entwickelt, niemals Reptilien in Schlangen zurück entwickelt haben. Wenn
uns in Zukunft ein naturwissenschaftlich gebildeter junger Mann begegnet, der
den Glauben an Gott verloren hat, so werden wir ihm nicht irgend einen
theologischen Apologeten, sondern -- August Weismann empfehlen.

Wenn man sich einigermaßen klar machen will, was die Natur beim Auf¬
bau der Pflanzen- und Tierkörper nach dem Muster der Ahnen dieser Ge¬
schöpfe und bei den zur Bildung neuer Arten führenden Veränderungen zu
leisten hat, so muß man eben eine solche Hypothese wie die Darwinische oder
Weismannische annehmen, und der zweiten wird man ohne weiteres zugestehen,
daß sie tiefer eindringt, folgerichtiger durchgeführt ist und sich genauer an die
neuesten mikroskopischen Beobachtungen anschließt als die erste. Aber uns für
diese unbedingt zu entscheiden, sehen wir uns trotzdem nicht gezwungen. Wenn
Weismann die Bildung des Keimes aus Beiträge" aller Zellen des Körpers
für unmöglich erklärt, so ist darauf zu erwidern, daß es in diesem Gebiete
überhaupt nichts giebt, was als möglich nach menschlichen Begriffen bezeichnet
werden konnte. Schließt er doch selbst sein Werk über das Keimplasma S. 616
mit der Betrachtung: "So entsteht allmählich in der Phylogenese der


Vererbung

aber schwerlich wird jemand behaupten wollen, das Hühnerei habe seine Fähig¬
keit, zum Hühnchen zu werden, durch die Wärme erlangt. Offenbar hat es
sie vor allem infolge eines unendlich langen, pyyletischen Entwicklungs¬
ganges erlangt, der schließlich zu einer solchen chemisch-Physikalischen Struktur
des Eies und der sie befruchtenden Samenzelle führte, daß bei ihrer Ver¬
einigung ein Hühnchen daraus werden muß und weder eine Gans noch euie
Ente" (V 473). Sehr gut! Entwicklungsbedingungen sind noch keine Ent¬
stehungsursachen, und eine hinreichende Ursache für die Entstehung des Hühner¬
eis haben wir erst dann, wenn wir annehmen, daß der ..phyletische Ent¬
wicklungsgang" von einer das Huhn als Zweck setzenden Intelligenz geleitet
worden ist. „Die Welt ist so vortrefflich, als es überhaupt möglich war.
daß sie werde auf Grund der einmal gegebnen Kräfte; es ist nicht denkbar,
daß sie auch nur um einen Grad vortrefflicher hätte ausfallen köunen. Die
Organismenwelt beweist uns, daß dem so ist. denn bis ins einzelnste hinein
sehen wir jede lebende Art sich zweckmüßig gestalten und sich den speziellen
Lebensbedingungen anpassen, denen sie unterworfen ist" 585). Wenig,
wie gesagt, kann es uns anfechten, daß diese Zweckmäßigkeit nicht von vornherein
beabsichtigt, sondern durch Anpassung geworden sein soll. Das ist doch nur
eine Redensart, die eine Zeit lang Mode war. Die Anpassung wäre eben
gar nicht denkbar, wenn die Organismen nicht von vornherein dafür einge¬
richtet wären. Wäre das Keimplasma gewisser niederer Tierarten nicht so
zusammengesetzt, daß es auf gewisse Anstöße hin zur Bildung von Beinen
schreiten und auf gewisse andre Anstöße hin diese Thätigkeit wieder einstellen
muß, dann würden sich niemals aus wurmförmigen Tieren vierbeinige Rep¬
tilien entwickelt, niemals Reptilien in Schlangen zurück entwickelt haben. Wenn
uns in Zukunft ein naturwissenschaftlich gebildeter junger Mann begegnet, der
den Glauben an Gott verloren hat, so werden wir ihm nicht irgend einen
theologischen Apologeten, sondern — August Weismann empfehlen.

Wenn man sich einigermaßen klar machen will, was die Natur beim Auf¬
bau der Pflanzen- und Tierkörper nach dem Muster der Ahnen dieser Ge¬
schöpfe und bei den zur Bildung neuer Arten führenden Veränderungen zu
leisten hat, so muß man eben eine solche Hypothese wie die Darwinische oder
Weismannische annehmen, und der zweiten wird man ohne weiteres zugestehen,
daß sie tiefer eindringt, folgerichtiger durchgeführt ist und sich genauer an die
neuesten mikroskopischen Beobachtungen anschließt als die erste. Aber uns für
diese unbedingt zu entscheiden, sehen wir uns trotzdem nicht gezwungen. Wenn
Weismann die Bildung des Keimes aus Beiträge» aller Zellen des Körpers
für unmöglich erklärt, so ist darauf zu erwidern, daß es in diesem Gebiete
überhaupt nichts giebt, was als möglich nach menschlichen Begriffen bezeichnet
werden konnte. Schließt er doch selbst sein Werk über das Keimplasma S. 616
mit der Betrachtung: „So entsteht allmählich in der Phylogenese der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0077" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225663"/>
          <fw type="header" place="top"> Vererbung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_175" prev="#ID_174"> aber schwerlich wird jemand behaupten wollen, das Hühnerei habe seine Fähig¬<lb/>
keit, zum Hühnchen zu werden, durch die Wärme erlangt. Offenbar hat es<lb/>
sie vor allem infolge eines unendlich langen, pyyletischen Entwicklungs¬<lb/>
ganges erlangt, der schließlich zu einer solchen chemisch-Physikalischen Struktur<lb/>
des Eies und der sie befruchtenden Samenzelle führte, daß bei ihrer Ver¬<lb/>
einigung ein Hühnchen daraus werden muß und weder eine Gans noch euie<lb/>
Ente" (V 473). Sehr gut! Entwicklungsbedingungen sind noch keine Ent¬<lb/>
stehungsursachen, und eine hinreichende Ursache für die Entstehung des Hühner¬<lb/>
eis haben wir erst dann, wenn wir annehmen, daß der ..phyletische Ent¬<lb/>
wicklungsgang" von einer das Huhn als Zweck setzenden Intelligenz geleitet<lb/>
worden ist. &#x201E;Die Welt ist so vortrefflich, als es überhaupt möglich war.<lb/>
daß sie werde auf Grund der einmal gegebnen Kräfte; es ist nicht denkbar,<lb/>
daß sie auch nur um einen Grad vortrefflicher hätte ausfallen köunen. Die<lb/>
Organismenwelt beweist uns, daß dem so ist. denn bis ins einzelnste hinein<lb/>
sehen wir jede lebende Art sich zweckmüßig gestalten und sich den speziellen<lb/>
Lebensbedingungen anpassen, denen sie unterworfen ist" 585). Wenig,<lb/>
wie gesagt, kann es uns anfechten, daß diese Zweckmäßigkeit nicht von vornherein<lb/>
beabsichtigt, sondern durch Anpassung geworden sein soll. Das ist doch nur<lb/>
eine Redensart, die eine Zeit lang Mode war. Die Anpassung wäre eben<lb/>
gar nicht denkbar, wenn die Organismen nicht von vornherein dafür einge¬<lb/>
richtet wären. Wäre das Keimplasma gewisser niederer Tierarten nicht so<lb/>
zusammengesetzt, daß es auf gewisse Anstöße hin zur Bildung von Beinen<lb/>
schreiten und auf gewisse andre Anstöße hin diese Thätigkeit wieder einstellen<lb/>
muß, dann würden sich niemals aus wurmförmigen Tieren vierbeinige Rep¬<lb/>
tilien entwickelt, niemals Reptilien in Schlangen zurück entwickelt haben. Wenn<lb/>
uns in Zukunft ein naturwissenschaftlich gebildeter junger Mann begegnet, der<lb/>
den Glauben an Gott verloren hat, so werden wir ihm nicht irgend einen<lb/>
theologischen Apologeten, sondern &#x2014; August Weismann empfehlen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_176" next="#ID_177"> Wenn man sich einigermaßen klar machen will, was die Natur beim Auf¬<lb/>
bau der Pflanzen- und Tierkörper nach dem Muster der Ahnen dieser Ge¬<lb/>
schöpfe und bei den zur Bildung neuer Arten führenden Veränderungen zu<lb/>
leisten hat, so muß man eben eine solche Hypothese wie die Darwinische oder<lb/>
Weismannische annehmen, und der zweiten wird man ohne weiteres zugestehen,<lb/>
daß sie tiefer eindringt, folgerichtiger durchgeführt ist und sich genauer an die<lb/>
neuesten mikroskopischen Beobachtungen anschließt als die erste. Aber uns für<lb/>
diese unbedingt zu entscheiden, sehen wir uns trotzdem nicht gezwungen. Wenn<lb/>
Weismann die Bildung des Keimes aus Beiträge» aller Zellen des Körpers<lb/>
für unmöglich erklärt, so ist darauf zu erwidern, daß es in diesem Gebiete<lb/>
überhaupt nichts giebt, was als möglich nach menschlichen Begriffen bezeichnet<lb/>
werden konnte. Schließt er doch selbst sein Werk über das Keimplasma S. 616<lb/>
mit der Betrachtung:  &#x201E;So entsteht allmählich in der Phylogenese der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0077] Vererbung aber schwerlich wird jemand behaupten wollen, das Hühnerei habe seine Fähig¬ keit, zum Hühnchen zu werden, durch die Wärme erlangt. Offenbar hat es sie vor allem infolge eines unendlich langen, pyyletischen Entwicklungs¬ ganges erlangt, der schließlich zu einer solchen chemisch-Physikalischen Struktur des Eies und der sie befruchtenden Samenzelle führte, daß bei ihrer Ver¬ einigung ein Hühnchen daraus werden muß und weder eine Gans noch euie Ente" (V 473). Sehr gut! Entwicklungsbedingungen sind noch keine Ent¬ stehungsursachen, und eine hinreichende Ursache für die Entstehung des Hühner¬ eis haben wir erst dann, wenn wir annehmen, daß der ..phyletische Ent¬ wicklungsgang" von einer das Huhn als Zweck setzenden Intelligenz geleitet worden ist. „Die Welt ist so vortrefflich, als es überhaupt möglich war. daß sie werde auf Grund der einmal gegebnen Kräfte; es ist nicht denkbar, daß sie auch nur um einen Grad vortrefflicher hätte ausfallen köunen. Die Organismenwelt beweist uns, daß dem so ist. denn bis ins einzelnste hinein sehen wir jede lebende Art sich zweckmüßig gestalten und sich den speziellen Lebensbedingungen anpassen, denen sie unterworfen ist" 585). Wenig, wie gesagt, kann es uns anfechten, daß diese Zweckmäßigkeit nicht von vornherein beabsichtigt, sondern durch Anpassung geworden sein soll. Das ist doch nur eine Redensart, die eine Zeit lang Mode war. Die Anpassung wäre eben gar nicht denkbar, wenn die Organismen nicht von vornherein dafür einge¬ richtet wären. Wäre das Keimplasma gewisser niederer Tierarten nicht so zusammengesetzt, daß es auf gewisse Anstöße hin zur Bildung von Beinen schreiten und auf gewisse andre Anstöße hin diese Thätigkeit wieder einstellen muß, dann würden sich niemals aus wurmförmigen Tieren vierbeinige Rep¬ tilien entwickelt, niemals Reptilien in Schlangen zurück entwickelt haben. Wenn uns in Zukunft ein naturwissenschaftlich gebildeter junger Mann begegnet, der den Glauben an Gott verloren hat, so werden wir ihm nicht irgend einen theologischen Apologeten, sondern — August Weismann empfehlen. Wenn man sich einigermaßen klar machen will, was die Natur beim Auf¬ bau der Pflanzen- und Tierkörper nach dem Muster der Ahnen dieser Ge¬ schöpfe und bei den zur Bildung neuer Arten führenden Veränderungen zu leisten hat, so muß man eben eine solche Hypothese wie die Darwinische oder Weismannische annehmen, und der zweiten wird man ohne weiteres zugestehen, daß sie tiefer eindringt, folgerichtiger durchgeführt ist und sich genauer an die neuesten mikroskopischen Beobachtungen anschließt als die erste. Aber uns für diese unbedingt zu entscheiden, sehen wir uns trotzdem nicht gezwungen. Wenn Weismann die Bildung des Keimes aus Beiträge» aller Zellen des Körpers für unmöglich erklärt, so ist darauf zu erwidern, daß es in diesem Gebiete überhaupt nichts giebt, was als möglich nach menschlichen Begriffen bezeichnet werden konnte. Schließt er doch selbst sein Werk über das Keimplasma S. 616 mit der Betrachtung: „So entsteht allmählich in der Phylogenese der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/77
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/77>, abgerufen am 24.07.2024.