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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die vielen Gerichtsentscheidungen darüber, wann ein Wohnsitz begründet
sei, sind bekannt. Das bürgerliche Gesetzbuch stützt sich auf sie, indem es in
s 7 bestimmt: "Wer sich an einem Orte ständig niederläßt, begründet dort
seinen Wohnsitz." Wie verschieden der Begriff "ständig" aufgefaßt werden
kann, was alles darunter verstanden werden kann, lehrt die bisherige Gerichts¬
praxis. Nicht bestimmter ist Absatz 3 desselben Paragraphen: "Der Wohnsitz
wird aufgehoben, wenn die Niederlassung mit dem Willen aufgehoben wird,
sie aufzugeben." Über die Frage: War dieser Wille vorhanden oder nicht?
zerbrechen sich die Psychologen bekanntlich die Köpfe, folglich kann das für
das Aufgeben eines Wohnsitzes doch nur ein sehr unbestimmtes Kennzeichen sein.

§ 10, der über den Wohnsitz der Ehefrau handelt, breitet gleich einen
ganzen Rattenkönig von Fragen vor uns aus. Die Ehefrau teilt den Wohnsitz
des Mannes, sie teilt ihn aber nicht, wenn der Mann an einem Orte wohnt,
wohin ihm die Frau nicht folgt und nicht zu folgen verpflichtet ist. Wann
folgt sie ihm nicht, und wann ist sie dazu nicht verpflichtet? Die §Z 1353
und 1354 scheinen darüber das Nähere zu bestimmen. Darnach ist ein
Ehegatte nicht verpflichtet, die eheliche Gemeinschaft herzustellen, "wenn sich
das Verlangen des andern als Mißbrauch seines Rechts darstellt," oder
wenn Gründe vorliegen, die zur Scheidung berechtigen. Dnsselbe gilt mit
Bezug auf die Pflicht der Frau, "dem Manne um Wohnort und Wohnung
Zu folgen." Wir haben also zuerst zu entscheiden: Liegt ein Mißbrauch
des ehemännlichen Rechtes vor? Wann ist dieser Mißbrauch anzunehmen?
Welches sind die Verhältnisse, die sein Entscheidungsrecht als mißbräuchlich
erscheinen lassen? Und dann die andre, noch schwierigere Frage: Wann ist die
Ehefrau berechtigt, auf Scheidung zu klagen? Das Gesetzbuch sagt das ja
ausdrücklich in den Z8 1564 u. fig. Die Ehescheidungsgründe lassen an
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, mit einer Ausnahme, der des Z 1568.
Das ist aber gerade der, der in den meisten Fällen zur Scheidung sühren
wird, und der all den übrigen Paragraphen über die gegenseitigen Rechte
und Pflichten der Ehegatten mit Bezug auf ihre Person erst den nötigen
Sinn giebt. Oder was nützten die Bestimmungen, daß unter Umständen
sich eine Ehefrau der Entscheidung ihres Mannes nicht zu fügen brauche,
daß der Ehemann der Frau Unterhalt zu gewähren habe, und dergleichen
mehr, wenn im Falle der Verletzung solcher Pflichten nicht ein Rechtsmittel
gegeben wäre, das dem Ehegatten die Auflösung der Ehe bei fortgesetzt
rechtswidrigem Verhalten ermöglichte? Deshalb hat das bürgerliche Gesetzbuch
mit Fug und Recht den Kantschnkparagraphen 1568 aufgestellt, der bestimmt,
daß ein Ehegatte auf Scheidung klagen kann, wenn der andre durch schwere
Verletzung der durch die Ehe begründeten Pflichten oder durch ehrloses oder
unsittliches Verhalten eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhültnisfes ver¬
schuldet hat, daß dem Ehegatten die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet


Grenzboten III 1897 8

Die vielen Gerichtsentscheidungen darüber, wann ein Wohnsitz begründet
sei, sind bekannt. Das bürgerliche Gesetzbuch stützt sich auf sie, indem es in
s 7 bestimmt: „Wer sich an einem Orte ständig niederläßt, begründet dort
seinen Wohnsitz." Wie verschieden der Begriff „ständig" aufgefaßt werden
kann, was alles darunter verstanden werden kann, lehrt die bisherige Gerichts¬
praxis. Nicht bestimmter ist Absatz 3 desselben Paragraphen: „Der Wohnsitz
wird aufgehoben, wenn die Niederlassung mit dem Willen aufgehoben wird,
sie aufzugeben." Über die Frage: War dieser Wille vorhanden oder nicht?
zerbrechen sich die Psychologen bekanntlich die Köpfe, folglich kann das für
das Aufgeben eines Wohnsitzes doch nur ein sehr unbestimmtes Kennzeichen sein.

§ 10, der über den Wohnsitz der Ehefrau handelt, breitet gleich einen
ganzen Rattenkönig von Fragen vor uns aus. Die Ehefrau teilt den Wohnsitz
des Mannes, sie teilt ihn aber nicht, wenn der Mann an einem Orte wohnt,
wohin ihm die Frau nicht folgt und nicht zu folgen verpflichtet ist. Wann
folgt sie ihm nicht, und wann ist sie dazu nicht verpflichtet? Die §Z 1353
und 1354 scheinen darüber das Nähere zu bestimmen. Darnach ist ein
Ehegatte nicht verpflichtet, die eheliche Gemeinschaft herzustellen, „wenn sich
das Verlangen des andern als Mißbrauch seines Rechts darstellt," oder
wenn Gründe vorliegen, die zur Scheidung berechtigen. Dnsselbe gilt mit
Bezug auf die Pflicht der Frau, „dem Manne um Wohnort und Wohnung
Zu folgen." Wir haben also zuerst zu entscheiden: Liegt ein Mißbrauch
des ehemännlichen Rechtes vor? Wann ist dieser Mißbrauch anzunehmen?
Welches sind die Verhältnisse, die sein Entscheidungsrecht als mißbräuchlich
erscheinen lassen? Und dann die andre, noch schwierigere Frage: Wann ist die
Ehefrau berechtigt, auf Scheidung zu klagen? Das Gesetzbuch sagt das ja
ausdrücklich in den Z8 1564 u. fig. Die Ehescheidungsgründe lassen an
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, mit einer Ausnahme, der des Z 1568.
Das ist aber gerade der, der in den meisten Fällen zur Scheidung sühren
wird, und der all den übrigen Paragraphen über die gegenseitigen Rechte
und Pflichten der Ehegatten mit Bezug auf ihre Person erst den nötigen
Sinn giebt. Oder was nützten die Bestimmungen, daß unter Umständen
sich eine Ehefrau der Entscheidung ihres Mannes nicht zu fügen brauche,
daß der Ehemann der Frau Unterhalt zu gewähren habe, und dergleichen
mehr, wenn im Falle der Verletzung solcher Pflichten nicht ein Rechtsmittel
gegeben wäre, das dem Ehegatten die Auflösung der Ehe bei fortgesetzt
rechtswidrigem Verhalten ermöglichte? Deshalb hat das bürgerliche Gesetzbuch
mit Fug und Recht den Kantschnkparagraphen 1568 aufgestellt, der bestimmt,
daß ein Ehegatte auf Scheidung klagen kann, wenn der andre durch schwere
Verletzung der durch die Ehe begründeten Pflichten oder durch ehrloses oder
unsittliches Verhalten eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhültnisfes ver¬
schuldet hat, daß dem Ehegatten die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet


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[0065] Die vielen Gerichtsentscheidungen darüber, wann ein Wohnsitz begründet sei, sind bekannt. Das bürgerliche Gesetzbuch stützt sich auf sie, indem es in s 7 bestimmt: „Wer sich an einem Orte ständig niederläßt, begründet dort seinen Wohnsitz." Wie verschieden der Begriff „ständig" aufgefaßt werden kann, was alles darunter verstanden werden kann, lehrt die bisherige Gerichts¬ praxis. Nicht bestimmter ist Absatz 3 desselben Paragraphen: „Der Wohnsitz wird aufgehoben, wenn die Niederlassung mit dem Willen aufgehoben wird, sie aufzugeben." Über die Frage: War dieser Wille vorhanden oder nicht? zerbrechen sich die Psychologen bekanntlich die Köpfe, folglich kann das für das Aufgeben eines Wohnsitzes doch nur ein sehr unbestimmtes Kennzeichen sein. § 10, der über den Wohnsitz der Ehefrau handelt, breitet gleich einen ganzen Rattenkönig von Fragen vor uns aus. Die Ehefrau teilt den Wohnsitz des Mannes, sie teilt ihn aber nicht, wenn der Mann an einem Orte wohnt, wohin ihm die Frau nicht folgt und nicht zu folgen verpflichtet ist. Wann folgt sie ihm nicht, und wann ist sie dazu nicht verpflichtet? Die §Z 1353 und 1354 scheinen darüber das Nähere zu bestimmen. Darnach ist ein Ehegatte nicht verpflichtet, die eheliche Gemeinschaft herzustellen, „wenn sich das Verlangen des andern als Mißbrauch seines Rechts darstellt," oder wenn Gründe vorliegen, die zur Scheidung berechtigen. Dnsselbe gilt mit Bezug auf die Pflicht der Frau, „dem Manne um Wohnort und Wohnung Zu folgen." Wir haben also zuerst zu entscheiden: Liegt ein Mißbrauch des ehemännlichen Rechtes vor? Wann ist dieser Mißbrauch anzunehmen? Welches sind die Verhältnisse, die sein Entscheidungsrecht als mißbräuchlich erscheinen lassen? Und dann die andre, noch schwierigere Frage: Wann ist die Ehefrau berechtigt, auf Scheidung zu klagen? Das Gesetzbuch sagt das ja ausdrücklich in den Z8 1564 u. fig. Die Ehescheidungsgründe lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, mit einer Ausnahme, der des Z 1568. Das ist aber gerade der, der in den meisten Fällen zur Scheidung sühren wird, und der all den übrigen Paragraphen über die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Ehegatten mit Bezug auf ihre Person erst den nötigen Sinn giebt. Oder was nützten die Bestimmungen, daß unter Umständen sich eine Ehefrau der Entscheidung ihres Mannes nicht zu fügen brauche, daß der Ehemann der Frau Unterhalt zu gewähren habe, und dergleichen mehr, wenn im Falle der Verletzung solcher Pflichten nicht ein Rechtsmittel gegeben wäre, das dem Ehegatten die Auflösung der Ehe bei fortgesetzt rechtswidrigem Verhalten ermöglichte? Deshalb hat das bürgerliche Gesetzbuch mit Fug und Recht den Kantschnkparagraphen 1568 aufgestellt, der bestimmt, daß ein Ehegatte auf Scheidung klagen kann, wenn der andre durch schwere Verletzung der durch die Ehe begründeten Pflichten oder durch ehrloses oder unsittliches Verhalten eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhültnisfes ver¬ schuldet hat, daß dem Ehegatten die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet Grenzboten III 1897 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/65>, abgerufen am 29.12.2024.