Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die älteste Besiedlung Deutschlands

züge beschafft werden konnte, oder der Überschuß der Bevölkerung, die sich
unter gesunden Verhältnissen in vierzig Friedensjahren zu verdoppeln Pflegt,
durch Auswanderung in erobertes Land abfloß, so lange sind die Germanen
auch bei ihrer nomadischen Weidewirtschaft verblieben. Als Cäsar mit ihnen
zusammenstieß, waren sie auf der ganzen Linie in erobernder Ausbreitung be¬
griffen, sie überfluteten damals das ganze Keltenland rechts vom Niederrhein
und begannen selbst in Gallien einzudringen. Da wurde es für sie ent¬
scheidend, daß sie Cäsar nicht nur zurückdrängte, sondern ihnen auch den Rhein
als unüberschreitbare Grenze zog. Eine Zeit lang mag nun im Osten des
Stromes die alte Nomadenwirtschaft noch fortgedauert haben, aber schon bei
den Suchen zu Cäsars Zeit hielten die prwvipW, die Häuptlinge, d. h. die
großen Herdenbesitzer, das Volk nur noch halb gewaltsam bei der alten Art
fest, um ihre großen Weide- und Jagdgründe nicht zu verlieren; Ackerbau
trieben offenbar nur ärmere Freie und Knechte. Endlich erzwang, vermutlich
noch vor dem Schlüsse des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, im westlichen
Deutschland die Masse der Freien die feste Anstedlung. Dabei wurde offenbar
ein geschickter Ausgleich getroffen. Die Ansiedlung erfolgte an den schon bisher
zu vereinzelten Ackerbau benutzten Stellen in kleinen Gewanndörfern; das
übrige Land blieb den sich noch nicht fest ansiedelnden Volksgenossen unter
Ausschluß der Ansiedler überlassen; es bestanden also neben den Ackerbau¬
bezirken und ihren Dörfern zunächst noch ausgedehnte Weide- und Jagdgründe
fort, deren Neste Meitzen in den bis zu deu modernen Gemeinheitsteiluugen
erhaltnen und genossenschaftlich bewirtschafteten Marken (z. B. im alten Varden-
gau um Lüneburg) erkennen will. Nimmt man an, daß die Hundertschaft im
Augenblick der Teilung und Ansiedlung auf 360 Familienhäupter eingewachsen
war, und jede Familie 30 Hektaren erhielt, so ergab das an Anbauland und
Almende (d. h. an Wald- und Weideland für jedes Dorf) 10800 Hektaren; es
blieben also, die Hundertschaft auf fünf Geviertmeilen (zu 5423 Hektaren) an¬
genommen, für die alte Wirtschaft noch mehr als 16000 Hektaren übrig, bis
mit dem Wachstum der Bevölkerung allmählich auch in diesen Strichen der
feste Anbau größtenteils durchdrang. Im ganzen aber kann es nach Meitzen
nicht zweifelhaft sein, daß der Übergang zur Begründung fester Dörfer und
zu regelmäßigem Ackerbau nicht etwa von einzelnen ausgehen und nicht all¬
mählich erfolgen konnte, sondern nur durch Volksbeschluß und mit einemmale.
Denn er setzte, wenn nicht die ärgsten Übelstände und Streit aller Art ein¬
treten sollten, die feste Abgrenzung der Dorffluren und der Weidegründe voraus,
und diese war nicht anders zu erreichen als durch Volksbeschluß. Binnen
hundert Jahren etwa wird sich dieser Übergang zur Seßhaftigkeit bei allen
deutschen Stämmen (mit Ausnahme der östlichsten) vollzogen haben.

Dabei hatten nun die Germanen schon keltisches, in festem Anbau bewirt¬
schaftetes Land zwischen der untern Weser und dem untern Rhein besetzt. Auch


Die älteste Besiedlung Deutschlands

züge beschafft werden konnte, oder der Überschuß der Bevölkerung, die sich
unter gesunden Verhältnissen in vierzig Friedensjahren zu verdoppeln Pflegt,
durch Auswanderung in erobertes Land abfloß, so lange sind die Germanen
auch bei ihrer nomadischen Weidewirtschaft verblieben. Als Cäsar mit ihnen
zusammenstieß, waren sie auf der ganzen Linie in erobernder Ausbreitung be¬
griffen, sie überfluteten damals das ganze Keltenland rechts vom Niederrhein
und begannen selbst in Gallien einzudringen. Da wurde es für sie ent¬
scheidend, daß sie Cäsar nicht nur zurückdrängte, sondern ihnen auch den Rhein
als unüberschreitbare Grenze zog. Eine Zeit lang mag nun im Osten des
Stromes die alte Nomadenwirtschaft noch fortgedauert haben, aber schon bei
den Suchen zu Cäsars Zeit hielten die prwvipW, die Häuptlinge, d. h. die
großen Herdenbesitzer, das Volk nur noch halb gewaltsam bei der alten Art
fest, um ihre großen Weide- und Jagdgründe nicht zu verlieren; Ackerbau
trieben offenbar nur ärmere Freie und Knechte. Endlich erzwang, vermutlich
noch vor dem Schlüsse des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, im westlichen
Deutschland die Masse der Freien die feste Anstedlung. Dabei wurde offenbar
ein geschickter Ausgleich getroffen. Die Ansiedlung erfolgte an den schon bisher
zu vereinzelten Ackerbau benutzten Stellen in kleinen Gewanndörfern; das
übrige Land blieb den sich noch nicht fest ansiedelnden Volksgenossen unter
Ausschluß der Ansiedler überlassen; es bestanden also neben den Ackerbau¬
bezirken und ihren Dörfern zunächst noch ausgedehnte Weide- und Jagdgründe
fort, deren Neste Meitzen in den bis zu deu modernen Gemeinheitsteiluugen
erhaltnen und genossenschaftlich bewirtschafteten Marken (z. B. im alten Varden-
gau um Lüneburg) erkennen will. Nimmt man an, daß die Hundertschaft im
Augenblick der Teilung und Ansiedlung auf 360 Familienhäupter eingewachsen
war, und jede Familie 30 Hektaren erhielt, so ergab das an Anbauland und
Almende (d. h. an Wald- und Weideland für jedes Dorf) 10800 Hektaren; es
blieben also, die Hundertschaft auf fünf Geviertmeilen (zu 5423 Hektaren) an¬
genommen, für die alte Wirtschaft noch mehr als 16000 Hektaren übrig, bis
mit dem Wachstum der Bevölkerung allmählich auch in diesen Strichen der
feste Anbau größtenteils durchdrang. Im ganzen aber kann es nach Meitzen
nicht zweifelhaft sein, daß der Übergang zur Begründung fester Dörfer und
zu regelmäßigem Ackerbau nicht etwa von einzelnen ausgehen und nicht all¬
mählich erfolgen konnte, sondern nur durch Volksbeschluß und mit einemmale.
Denn er setzte, wenn nicht die ärgsten Übelstände und Streit aller Art ein¬
treten sollten, die feste Abgrenzung der Dorffluren und der Weidegründe voraus,
und diese war nicht anders zu erreichen als durch Volksbeschluß. Binnen
hundert Jahren etwa wird sich dieser Übergang zur Seßhaftigkeit bei allen
deutschen Stämmen (mit Ausnahme der östlichsten) vollzogen haben.

Dabei hatten nun die Germanen schon keltisches, in festem Anbau bewirt¬
schaftetes Land zwischen der untern Weser und dem untern Rhein besetzt. Auch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0618" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226204"/>
          <fw type="header" place="top"> Die älteste Besiedlung Deutschlands</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1556" prev="#ID_1555"> züge beschafft werden konnte, oder der Überschuß der Bevölkerung, die sich<lb/>
unter gesunden Verhältnissen in vierzig Friedensjahren zu verdoppeln Pflegt,<lb/>
durch Auswanderung in erobertes Land abfloß, so lange sind die Germanen<lb/>
auch bei ihrer nomadischen Weidewirtschaft verblieben. Als Cäsar mit ihnen<lb/>
zusammenstieß, waren sie auf der ganzen Linie in erobernder Ausbreitung be¬<lb/>
griffen, sie überfluteten damals das ganze Keltenland rechts vom Niederrhein<lb/>
und begannen selbst in Gallien einzudringen. Da wurde es für sie ent¬<lb/>
scheidend, daß sie Cäsar nicht nur zurückdrängte, sondern ihnen auch den Rhein<lb/>
als unüberschreitbare Grenze zog. Eine Zeit lang mag nun im Osten des<lb/>
Stromes die alte Nomadenwirtschaft noch fortgedauert haben, aber schon bei<lb/>
den Suchen zu Cäsars Zeit hielten die prwvipW, die Häuptlinge, d. h. die<lb/>
großen Herdenbesitzer, das Volk nur noch halb gewaltsam bei der alten Art<lb/>
fest, um ihre großen Weide- und Jagdgründe nicht zu verlieren; Ackerbau<lb/>
trieben offenbar nur ärmere Freie und Knechte. Endlich erzwang, vermutlich<lb/>
noch vor dem Schlüsse des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, im westlichen<lb/>
Deutschland die Masse der Freien die feste Anstedlung. Dabei wurde offenbar<lb/>
ein geschickter Ausgleich getroffen. Die Ansiedlung erfolgte an den schon bisher<lb/>
zu vereinzelten Ackerbau benutzten Stellen in kleinen Gewanndörfern; das<lb/>
übrige Land blieb den sich noch nicht fest ansiedelnden Volksgenossen unter<lb/>
Ausschluß der Ansiedler überlassen; es bestanden also neben den Ackerbau¬<lb/>
bezirken und ihren Dörfern zunächst noch ausgedehnte Weide- und Jagdgründe<lb/>
fort, deren Neste Meitzen in den bis zu deu modernen Gemeinheitsteiluugen<lb/>
erhaltnen und genossenschaftlich bewirtschafteten Marken (z. B. im alten Varden-<lb/>
gau um Lüneburg) erkennen will. Nimmt man an, daß die Hundertschaft im<lb/>
Augenblick der Teilung und Ansiedlung auf 360 Familienhäupter eingewachsen<lb/>
war, und jede Familie 30 Hektaren erhielt, so ergab das an Anbauland und<lb/>
Almende (d. h. an Wald- und Weideland für jedes Dorf) 10800 Hektaren; es<lb/>
blieben also, die Hundertschaft auf fünf Geviertmeilen (zu 5423 Hektaren) an¬<lb/>
genommen, für die alte Wirtschaft noch mehr als 16000 Hektaren übrig, bis<lb/>
mit dem Wachstum der Bevölkerung allmählich auch in diesen Strichen der<lb/>
feste Anbau größtenteils durchdrang. Im ganzen aber kann es nach Meitzen<lb/>
nicht zweifelhaft sein, daß der Übergang zur Begründung fester Dörfer und<lb/>
zu regelmäßigem Ackerbau nicht etwa von einzelnen ausgehen und nicht all¬<lb/>
mählich erfolgen konnte, sondern nur durch Volksbeschluß und mit einemmale.<lb/>
Denn er setzte, wenn nicht die ärgsten Übelstände und Streit aller Art ein¬<lb/>
treten sollten, die feste Abgrenzung der Dorffluren und der Weidegründe voraus,<lb/>
und diese war nicht anders zu erreichen als durch Volksbeschluß. Binnen<lb/>
hundert Jahren etwa wird sich dieser Übergang zur Seßhaftigkeit bei allen<lb/>
deutschen Stämmen (mit Ausnahme der östlichsten) vollzogen haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1557" next="#ID_1558"> Dabei hatten nun die Germanen schon keltisches, in festem Anbau bewirt¬<lb/>
schaftetes Land zwischen der untern Weser und dem untern Rhein besetzt. Auch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0618] Die älteste Besiedlung Deutschlands züge beschafft werden konnte, oder der Überschuß der Bevölkerung, die sich unter gesunden Verhältnissen in vierzig Friedensjahren zu verdoppeln Pflegt, durch Auswanderung in erobertes Land abfloß, so lange sind die Germanen auch bei ihrer nomadischen Weidewirtschaft verblieben. Als Cäsar mit ihnen zusammenstieß, waren sie auf der ganzen Linie in erobernder Ausbreitung be¬ griffen, sie überfluteten damals das ganze Keltenland rechts vom Niederrhein und begannen selbst in Gallien einzudringen. Da wurde es für sie ent¬ scheidend, daß sie Cäsar nicht nur zurückdrängte, sondern ihnen auch den Rhein als unüberschreitbare Grenze zog. Eine Zeit lang mag nun im Osten des Stromes die alte Nomadenwirtschaft noch fortgedauert haben, aber schon bei den Suchen zu Cäsars Zeit hielten die prwvipW, die Häuptlinge, d. h. die großen Herdenbesitzer, das Volk nur noch halb gewaltsam bei der alten Art fest, um ihre großen Weide- und Jagdgründe nicht zu verlieren; Ackerbau trieben offenbar nur ärmere Freie und Knechte. Endlich erzwang, vermutlich noch vor dem Schlüsse des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, im westlichen Deutschland die Masse der Freien die feste Anstedlung. Dabei wurde offenbar ein geschickter Ausgleich getroffen. Die Ansiedlung erfolgte an den schon bisher zu vereinzelten Ackerbau benutzten Stellen in kleinen Gewanndörfern; das übrige Land blieb den sich noch nicht fest ansiedelnden Volksgenossen unter Ausschluß der Ansiedler überlassen; es bestanden also neben den Ackerbau¬ bezirken und ihren Dörfern zunächst noch ausgedehnte Weide- und Jagdgründe fort, deren Neste Meitzen in den bis zu deu modernen Gemeinheitsteiluugen erhaltnen und genossenschaftlich bewirtschafteten Marken (z. B. im alten Varden- gau um Lüneburg) erkennen will. Nimmt man an, daß die Hundertschaft im Augenblick der Teilung und Ansiedlung auf 360 Familienhäupter eingewachsen war, und jede Familie 30 Hektaren erhielt, so ergab das an Anbauland und Almende (d. h. an Wald- und Weideland für jedes Dorf) 10800 Hektaren; es blieben also, die Hundertschaft auf fünf Geviertmeilen (zu 5423 Hektaren) an¬ genommen, für die alte Wirtschaft noch mehr als 16000 Hektaren übrig, bis mit dem Wachstum der Bevölkerung allmählich auch in diesen Strichen der feste Anbau größtenteils durchdrang. Im ganzen aber kann es nach Meitzen nicht zweifelhaft sein, daß der Übergang zur Begründung fester Dörfer und zu regelmäßigem Ackerbau nicht etwa von einzelnen ausgehen und nicht all¬ mählich erfolgen konnte, sondern nur durch Volksbeschluß und mit einemmale. Denn er setzte, wenn nicht die ärgsten Übelstände und Streit aller Art ein¬ treten sollten, die feste Abgrenzung der Dorffluren und der Weidegründe voraus, und diese war nicht anders zu erreichen als durch Volksbeschluß. Binnen hundert Jahren etwa wird sich dieser Übergang zur Seßhaftigkeit bei allen deutschen Stämmen (mit Ausnahme der östlichsten) vollzogen haben. Dabei hatten nun die Germanen schon keltisches, in festem Anbau bewirt¬ schaftetes Land zwischen der untern Weser und dem untern Rhein besetzt. Auch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/618
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/618>, abgerufen am 24.07.2024.