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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte

fällt der Baum freilich nicht auf den ersten Hieb, wie anderswo auch, aber
wenn wir die Gegenwart mit der Zeit vor zehn Jahren vergleichen, so muß
doch jeder Unbefangne zugestehen, daß schon vieles erreicht worden ist, haupt¬
sächlich in dem Verhältnis zu Rußland und schon durch Rußland.

Es soll dabei nicht vergessen werden, daß manche Ereignisse dabei unter¬
stützend mitgewirkt haben. Dazu gehört in erster Linie die Vermehrung der
deutschen Armee bis zu einer durch die politische Notwendigkeit gebotenen Höhe,
"auf die wir im Jahre 1367 bis 1882 allmählich verzichtet haben," wie Fürst
Bismarck am 6. Februar 1888 sehr treffend bemerkte. Damit wurde die Bahn
frei gemacht für ein kräftigeres Auftreten der deutschen Diplomatie auch zum
Friedenszweck; denn diese kann nur "mit vollem Gewicht" eingreifen, wenn
hinter ihr "ein schlagfertiges und nahe bereites Heer steht," wie der Altreichs¬
kanzler an demselben Tage sagte. Dazu gehört ferner der unerwartet einge¬
tretene Thronwechsel in Rußland. Als am 16. März 1888 die sterblichen
Überreste Kaiser Wilhelms I. zum Mausoleum in Charlottenburg geleitet
wurden, ging zunächst hinter dem Sarge Prinz Wilhelm, der jetzige Kaiser,
ihm folgten neben einander die Könige von Sachsen, Belgien und Rumänien,
der nächste in der Reihe war der russische Kronprinz, jetzt Kaiser Nikolaus II.
Alle maßgebenden Personen in dem Trauerzuge waren darüber unterrichtet,
daß die Tage des hohen Dulders, des Kaisers Friedrich III., gezählt waren,
und die Augen wandten sich oft nach dem ernst blickenden Prinzen an der
Spitze des Trauergefvlges, dem binnen kurzem beschieden sein würde, die
Regierung des deutschen Reichs zu leiten. Es liegt die Annahme nahe, daß
dem jungen Zaren jener denkwürdige Tag wiederholt in die Erinnerung zurück¬
gerufen worden ist, nachdem ihm ebenfalls höchst unerwartet und frühzeitig
die Pflicht der Beherrschung seines ausgedehnten Reiches auferlegt worden
war. Gleiche Schicksale bringen die Menschen einander näher, die engen ver¬
wandtschaftlichen Beziehungen, sowie das hohe Ansehen, das unser Kaiser
" im Auslande, wo man nicht durch unsre Parteibrillen sieht -- als Regent
überall genießt, mögen noch dazu beigetragen haben, die Annäherung der
beiden Monarchen zu befördern. Das dritte, und zwar entscheidend beein¬
flussende Ereignis war der chinesisch-japanesische Krieg, der Nußland mit über¬
zeugender Deutlichkeit darüber belehrte, wieviel es durch sein Hinstarren nach
dem Westen in Ostasien versäumt hatte.

Unter diesen Umständen war für Rußland der durch den Dreibund an¬
gestrebte Zusammenschluß der europäische" Mächte die günstigste politische
Lage, die es geben konnte, neben der die Reize des Zweibundes gar nicht in
Betracht kamen. Das russische Reich bedarf für seine Kulturaufgabe in Mittel-
und Ostasien ebenso des europäischen Friedens wie der Dreibund, die Frage
der Dardanallen ist in ihr vollständiges Gegenteil verkehrt, denn heutzutage
ist die morsche Türkei als Wächter dieses Eingangs in das Schwarze Meer


Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte

fällt der Baum freilich nicht auf den ersten Hieb, wie anderswo auch, aber
wenn wir die Gegenwart mit der Zeit vor zehn Jahren vergleichen, so muß
doch jeder Unbefangne zugestehen, daß schon vieles erreicht worden ist, haupt¬
sächlich in dem Verhältnis zu Rußland und schon durch Rußland.

Es soll dabei nicht vergessen werden, daß manche Ereignisse dabei unter¬
stützend mitgewirkt haben. Dazu gehört in erster Linie die Vermehrung der
deutschen Armee bis zu einer durch die politische Notwendigkeit gebotenen Höhe,
»auf die wir im Jahre 1367 bis 1882 allmählich verzichtet haben," wie Fürst
Bismarck am 6. Februar 1888 sehr treffend bemerkte. Damit wurde die Bahn
frei gemacht für ein kräftigeres Auftreten der deutschen Diplomatie auch zum
Friedenszweck; denn diese kann nur „mit vollem Gewicht" eingreifen, wenn
hinter ihr „ein schlagfertiges und nahe bereites Heer steht," wie der Altreichs¬
kanzler an demselben Tage sagte. Dazu gehört ferner der unerwartet einge¬
tretene Thronwechsel in Rußland. Als am 16. März 1888 die sterblichen
Überreste Kaiser Wilhelms I. zum Mausoleum in Charlottenburg geleitet
wurden, ging zunächst hinter dem Sarge Prinz Wilhelm, der jetzige Kaiser,
ihm folgten neben einander die Könige von Sachsen, Belgien und Rumänien,
der nächste in der Reihe war der russische Kronprinz, jetzt Kaiser Nikolaus II.
Alle maßgebenden Personen in dem Trauerzuge waren darüber unterrichtet,
daß die Tage des hohen Dulders, des Kaisers Friedrich III., gezählt waren,
und die Augen wandten sich oft nach dem ernst blickenden Prinzen an der
Spitze des Trauergefvlges, dem binnen kurzem beschieden sein würde, die
Regierung des deutschen Reichs zu leiten. Es liegt die Annahme nahe, daß
dem jungen Zaren jener denkwürdige Tag wiederholt in die Erinnerung zurück¬
gerufen worden ist, nachdem ihm ebenfalls höchst unerwartet und frühzeitig
die Pflicht der Beherrschung seines ausgedehnten Reiches auferlegt worden
war. Gleiche Schicksale bringen die Menschen einander näher, die engen ver¬
wandtschaftlichen Beziehungen, sowie das hohe Ansehen, das unser Kaiser
" im Auslande, wo man nicht durch unsre Parteibrillen sieht — als Regent
überall genießt, mögen noch dazu beigetragen haben, die Annäherung der
beiden Monarchen zu befördern. Das dritte, und zwar entscheidend beein¬
flussende Ereignis war der chinesisch-japanesische Krieg, der Nußland mit über¬
zeugender Deutlichkeit darüber belehrte, wieviel es durch sein Hinstarren nach
dem Westen in Ostasien versäumt hatte.

Unter diesen Umständen war für Rußland der durch den Dreibund an¬
gestrebte Zusammenschluß der europäische« Mächte die günstigste politische
Lage, die es geben konnte, neben der die Reize des Zweibundes gar nicht in
Betracht kamen. Das russische Reich bedarf für seine Kulturaufgabe in Mittel-
und Ostasien ebenso des europäischen Friedens wie der Dreibund, die Frage
der Dardanallen ist in ihr vollständiges Gegenteil verkehrt, denn heutzutage
ist die morsche Türkei als Wächter dieses Eingangs in das Schwarze Meer


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[0595] Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte fällt der Baum freilich nicht auf den ersten Hieb, wie anderswo auch, aber wenn wir die Gegenwart mit der Zeit vor zehn Jahren vergleichen, so muß doch jeder Unbefangne zugestehen, daß schon vieles erreicht worden ist, haupt¬ sächlich in dem Verhältnis zu Rußland und schon durch Rußland. Es soll dabei nicht vergessen werden, daß manche Ereignisse dabei unter¬ stützend mitgewirkt haben. Dazu gehört in erster Linie die Vermehrung der deutschen Armee bis zu einer durch die politische Notwendigkeit gebotenen Höhe, »auf die wir im Jahre 1367 bis 1882 allmählich verzichtet haben," wie Fürst Bismarck am 6. Februar 1888 sehr treffend bemerkte. Damit wurde die Bahn frei gemacht für ein kräftigeres Auftreten der deutschen Diplomatie auch zum Friedenszweck; denn diese kann nur „mit vollem Gewicht" eingreifen, wenn hinter ihr „ein schlagfertiges und nahe bereites Heer steht," wie der Altreichs¬ kanzler an demselben Tage sagte. Dazu gehört ferner der unerwartet einge¬ tretene Thronwechsel in Rußland. Als am 16. März 1888 die sterblichen Überreste Kaiser Wilhelms I. zum Mausoleum in Charlottenburg geleitet wurden, ging zunächst hinter dem Sarge Prinz Wilhelm, der jetzige Kaiser, ihm folgten neben einander die Könige von Sachsen, Belgien und Rumänien, der nächste in der Reihe war der russische Kronprinz, jetzt Kaiser Nikolaus II. Alle maßgebenden Personen in dem Trauerzuge waren darüber unterrichtet, daß die Tage des hohen Dulders, des Kaisers Friedrich III., gezählt waren, und die Augen wandten sich oft nach dem ernst blickenden Prinzen an der Spitze des Trauergefvlges, dem binnen kurzem beschieden sein würde, die Regierung des deutschen Reichs zu leiten. Es liegt die Annahme nahe, daß dem jungen Zaren jener denkwürdige Tag wiederholt in die Erinnerung zurück¬ gerufen worden ist, nachdem ihm ebenfalls höchst unerwartet und frühzeitig die Pflicht der Beherrschung seines ausgedehnten Reiches auferlegt worden war. Gleiche Schicksale bringen die Menschen einander näher, die engen ver¬ wandtschaftlichen Beziehungen, sowie das hohe Ansehen, das unser Kaiser " im Auslande, wo man nicht durch unsre Parteibrillen sieht — als Regent überall genießt, mögen noch dazu beigetragen haben, die Annäherung der beiden Monarchen zu befördern. Das dritte, und zwar entscheidend beein¬ flussende Ereignis war der chinesisch-japanesische Krieg, der Nußland mit über¬ zeugender Deutlichkeit darüber belehrte, wieviel es durch sein Hinstarren nach dem Westen in Ostasien versäumt hatte. Unter diesen Umständen war für Rußland der durch den Dreibund an¬ gestrebte Zusammenschluß der europäische« Mächte die günstigste politische Lage, die es geben konnte, neben der die Reize des Zweibundes gar nicht in Betracht kamen. Das russische Reich bedarf für seine Kulturaufgabe in Mittel- und Ostasien ebenso des europäischen Friedens wie der Dreibund, die Frage der Dardanallen ist in ihr vollständiges Gegenteil verkehrt, denn heutzutage ist die morsche Türkei als Wächter dieses Eingangs in das Schwarze Meer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/595>, abgerufen am 24.07.2024.