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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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sich vor aller Augen sichtbar vollzog. Die ausländische Presse hat sich hierin
der unsern überlegen gezeigt. Es besteht wohl ein Unterschied zwischen dem
Ton der Kaisertoaste vorm Jahre in Breslau und diesmal in Petersburg,
aber so "außerordentlich groß" war er nicht, das; man erst jetzt daraus eine
Bestätigung der neuen politischen Wendung, die vielleicht nicht einmal neu ist,
herleiten und erkennen könnte. Schon das Auftreten der deutschen Diplomatie
neben Rußland und Frankreich Japan gegenüber hatte einen deutlichen Finger¬
zeig gegeben, eine offizielle Bestätigung ergaben aber gerade die Breslauer
Kaisertoaste, nur wurde sie hartnäckig übersehen. Kein einziges deutsches Blatt
hat damals den Worten des Kaisers in Görlitz am 8. September die ge¬
bührende Beachtung geschenkt. In seiner Ansprache an das Offizierkorps des
fünften Armeekorps sagte er aber ausdrücklich über die Begegnung mit dem
Kaiser Nikolaus: "In völliger Übereinstimmung mit Mir geht sein Streben
dahin, die gesamten Völker des europäischen Weltteils zusammenzuführen, um
sie auf der Grundlage gemeinsamer Interessen zu sammeln zum Schutze unsrer
heiligsten Güter." Die politische Wendung stand also schon fest.

Wie man solche, ein deutliches Programm ansprechenden Worte über¬
sehen konnte, das läßt sich nur aus dem damaligen Zustand unsers Pre߬
wesens erklären. Bei der ausschließlichen Beflissenheit, das Gras vor den
Thüren der Minister wachsen zu hören, alles als wankend und schwankend
hinzustellen, erschien ein Hörfehler des Berichterstatters des offiziösen Tele¬
graphenbureaus viel interessanter als die kaiserliche Ansprache, und so entging
der gesamten deutschen Presse der Augenblick der ersten authentischen Kund¬
gebung über die neugeschaffne politische Lage. Eine Entschuldigung dafür giebt
es nicht, denn in Breslau hatten die leitenden Minister Deutschlands und
Rußlands ebenso mit einander persönlich Fühlung genommen wie diesmal in
Petersburg, und wenn gegenwärtig Anlaß genommen worden ist, daraus be¬
stimmte politische Schlüsse zu ziehen, so lagen die Bedingungen dasür damals
doch ganz genau so. Aber mau übersah die inhaltreichen Sätze der kaiser¬
lichen Rede, obwohl sie "vor versammeltem Kriegsvolk" und unzweifelhaft
nicht ohne Wissen und Zustimmung des Fürsten Hohenlohe gesprochen worden
waren. Man hätte daraus einen sichern Rückhalt gegenüber dem erwartungs-
vollen Ereignis des russischen Kaiserbesuchs in Paris gewinnen können; so
aber entwickelte sich daS keineswegs erhebende Schauspiel, daß eigentlich die
gesamte deutsche Presse nach einer gewissen gehobnen Stimmung zu Ende der
Breslauer Kaisertage unter den Eindrücken des Freudentaumels in Paris immer
kleinlauter wurde bis zu dem Abschiedskusse, den Kaiser Nikolaus dem Präsi¬
denten Faure gab. In gewissen "nationalen" Kreisen, die bisher bemüht ge¬
wesen waren, den sogenannten "neuen Kurs" als gänzlich verfehlt hinzustellen,
trat sogar eine unverkennbare Befriedigung über die anscheinend mißliche
Wendung zu Tage.


sich vor aller Augen sichtbar vollzog. Die ausländische Presse hat sich hierin
der unsern überlegen gezeigt. Es besteht wohl ein Unterschied zwischen dem
Ton der Kaisertoaste vorm Jahre in Breslau und diesmal in Petersburg,
aber so „außerordentlich groß" war er nicht, das; man erst jetzt daraus eine
Bestätigung der neuen politischen Wendung, die vielleicht nicht einmal neu ist,
herleiten und erkennen könnte. Schon das Auftreten der deutschen Diplomatie
neben Rußland und Frankreich Japan gegenüber hatte einen deutlichen Finger¬
zeig gegeben, eine offizielle Bestätigung ergaben aber gerade die Breslauer
Kaisertoaste, nur wurde sie hartnäckig übersehen. Kein einziges deutsches Blatt
hat damals den Worten des Kaisers in Görlitz am 8. September die ge¬
bührende Beachtung geschenkt. In seiner Ansprache an das Offizierkorps des
fünften Armeekorps sagte er aber ausdrücklich über die Begegnung mit dem
Kaiser Nikolaus: „In völliger Übereinstimmung mit Mir geht sein Streben
dahin, die gesamten Völker des europäischen Weltteils zusammenzuführen, um
sie auf der Grundlage gemeinsamer Interessen zu sammeln zum Schutze unsrer
heiligsten Güter." Die politische Wendung stand also schon fest.

Wie man solche, ein deutliches Programm ansprechenden Worte über¬
sehen konnte, das läßt sich nur aus dem damaligen Zustand unsers Pre߬
wesens erklären. Bei der ausschließlichen Beflissenheit, das Gras vor den
Thüren der Minister wachsen zu hören, alles als wankend und schwankend
hinzustellen, erschien ein Hörfehler des Berichterstatters des offiziösen Tele¬
graphenbureaus viel interessanter als die kaiserliche Ansprache, und so entging
der gesamten deutschen Presse der Augenblick der ersten authentischen Kund¬
gebung über die neugeschaffne politische Lage. Eine Entschuldigung dafür giebt
es nicht, denn in Breslau hatten die leitenden Minister Deutschlands und
Rußlands ebenso mit einander persönlich Fühlung genommen wie diesmal in
Petersburg, und wenn gegenwärtig Anlaß genommen worden ist, daraus be¬
stimmte politische Schlüsse zu ziehen, so lagen die Bedingungen dasür damals
doch ganz genau so. Aber mau übersah die inhaltreichen Sätze der kaiser¬
lichen Rede, obwohl sie „vor versammeltem Kriegsvolk" und unzweifelhaft
nicht ohne Wissen und Zustimmung des Fürsten Hohenlohe gesprochen worden
waren. Man hätte daraus einen sichern Rückhalt gegenüber dem erwartungs-
vollen Ereignis des russischen Kaiserbesuchs in Paris gewinnen können; so
aber entwickelte sich daS keineswegs erhebende Schauspiel, daß eigentlich die
gesamte deutsche Presse nach einer gewissen gehobnen Stimmung zu Ende der
Breslauer Kaisertage unter den Eindrücken des Freudentaumels in Paris immer
kleinlauter wurde bis zu dem Abschiedskusse, den Kaiser Nikolaus dem Präsi¬
denten Faure gab. In gewissen „nationalen" Kreisen, die bisher bemüht ge¬
wesen waren, den sogenannten „neuen Kurs" als gänzlich verfehlt hinzustellen,
trat sogar eine unverkennbare Befriedigung über die anscheinend mißliche
Wendung zu Tage.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/587>, abgerufen am 24.07.2024.