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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Einiges von der deutschen Rechtseinheit

seine Handlungen betreffen, genau zu erkundigen gehalten; und es kann sich
niemand mit der Unwissenheit eines gehörig publizirten Gesetzes entschuldigen."
Richtern und Behörden wurde die Auslegung der Gesetze verwehrt; etwaige
Zweifel oder Lücken, die zum Vorschein kämen, sollten durch eine besondre Ge¬
setzeskommission geprüft und alsbald durch allgemeine Gesetzgebung gehoben
werden. Aber diese Vorschriften erwiesen sich sehr bald als undurchführbar.
Das merkwürdige ist nun, daß sich gerade die lcmdrechtliche Praxis am
wenigsten von dem Vorwurf hat frei halten können, übermäßig an dem Buch¬
staben des Gesetzes zu kleben, also um Übeln Sinne des Wortes) "juristischer"
zu sein als alle andern. Hier zwei bezeichnende Beispiele.

Wird bei der Ehescheidung ein Gatte sür den allein schuldigen Teil er¬
klärt, so gebührt die Erziehung der Kinder dem andern Teile. Das Landrecht
bestimmt, daß in solchem Falle dem von der Erziehung ausgeschlossenen doch
"der Zutritt zu den Kindern" nicht gänzlich versagt werden solle, und daß es
richterlichen Ermessen vorbehalten bleibe, wie oft und unter welcher Aufsicht
"dergleichen Besuche" zu gestatten seien. Es ist kaum glaublich, aber gleich¬
wohl Thatsache, daß darüber in der preußischen Praxis die Streitfrage ent¬
standen ist, in welcher Weise der schuldige Ehegatte sein Recht persönlichen
Verkehrs ausüben dürfe, ob nur in der Art, daß er die Kinder in der Woh¬
nung des andern Teils besuche, oder ob auch die Anordnung zulässig sei, daß
die Kinder ihn besuchen. Daß im ersten Falle unter Umständen, zumal bei
besonders gespanntem Verhältnisse der frühern Ehegatten, das Verkehrsrecht
so gut wie hinfällig gemacht wird, liegt auf der Hand.

Das zweite Beispiel ist vielleicht noch bezeichnender. Das Landrecht
unterscheidet, was der heutigen Jrrenlehre nicht mehr entspricht, zwischen
Wahnsinn und Blödsinn: wahnsinnig heißt, wer "des Gebrauchs seiner Ver¬
nunft gänzlich beraubt" ist; blödsinnig, wem "das Vermögen, die Folgen
seiner Handlungen zu überlegen, ermangelt." Unter den Ehescheidungsgründen
führt das Landrecht nur den Wahnsinn auf; den Blödsinn erwähnt es nicht.
Hieraus hat das Obertribunal gefolgert, und es hat bis auf den heutigen Tag
als unbezweifelter Satz des Landrechts gegolten, daß "Blödsinn" die Ehe¬
scheidung nicht begründe, obgleich der "Blödsinn" in seinen schlimmen Formen
den Zweck der Ehe und die geistige Gemeinschaft der Gatten mindestens ebenso
sehr vereitelt als der Wahnsinn, und eine Ergänzung dieses offenbaren
Nedaktionsversehens im Landrecht sehr wohl in dem Nahmen zulässiger Aus¬
legung gelegen hätte.

Das bürgerliche Gesetzbuch schließt nicht nur in diesem, sondern auch in
zahlreichen ähnlichen Fällen durch eine freiere und übcrlegtere Ausdrucksweise
derartige Streitfragen und Entscheidungen aus und nötigt den Richter, selb¬
ständig gegenüber den Interessen und Strömungen des Wirtschaftslebens
Stellung zu nehmen. Welches Rechtsgeschäft "gegen die guten Sitten" ver-


Einiges von der deutschen Rechtseinheit

seine Handlungen betreffen, genau zu erkundigen gehalten; und es kann sich
niemand mit der Unwissenheit eines gehörig publizirten Gesetzes entschuldigen."
Richtern und Behörden wurde die Auslegung der Gesetze verwehrt; etwaige
Zweifel oder Lücken, die zum Vorschein kämen, sollten durch eine besondre Ge¬
setzeskommission geprüft und alsbald durch allgemeine Gesetzgebung gehoben
werden. Aber diese Vorschriften erwiesen sich sehr bald als undurchführbar.
Das merkwürdige ist nun, daß sich gerade die lcmdrechtliche Praxis am
wenigsten von dem Vorwurf hat frei halten können, übermäßig an dem Buch¬
staben des Gesetzes zu kleben, also um Übeln Sinne des Wortes) „juristischer"
zu sein als alle andern. Hier zwei bezeichnende Beispiele.

Wird bei der Ehescheidung ein Gatte sür den allein schuldigen Teil er¬
klärt, so gebührt die Erziehung der Kinder dem andern Teile. Das Landrecht
bestimmt, daß in solchem Falle dem von der Erziehung ausgeschlossenen doch
„der Zutritt zu den Kindern" nicht gänzlich versagt werden solle, und daß es
richterlichen Ermessen vorbehalten bleibe, wie oft und unter welcher Aufsicht
„dergleichen Besuche" zu gestatten seien. Es ist kaum glaublich, aber gleich¬
wohl Thatsache, daß darüber in der preußischen Praxis die Streitfrage ent¬
standen ist, in welcher Weise der schuldige Ehegatte sein Recht persönlichen
Verkehrs ausüben dürfe, ob nur in der Art, daß er die Kinder in der Woh¬
nung des andern Teils besuche, oder ob auch die Anordnung zulässig sei, daß
die Kinder ihn besuchen. Daß im ersten Falle unter Umständen, zumal bei
besonders gespanntem Verhältnisse der frühern Ehegatten, das Verkehrsrecht
so gut wie hinfällig gemacht wird, liegt auf der Hand.

Das zweite Beispiel ist vielleicht noch bezeichnender. Das Landrecht
unterscheidet, was der heutigen Jrrenlehre nicht mehr entspricht, zwischen
Wahnsinn und Blödsinn: wahnsinnig heißt, wer „des Gebrauchs seiner Ver¬
nunft gänzlich beraubt" ist; blödsinnig, wem „das Vermögen, die Folgen
seiner Handlungen zu überlegen, ermangelt." Unter den Ehescheidungsgründen
führt das Landrecht nur den Wahnsinn auf; den Blödsinn erwähnt es nicht.
Hieraus hat das Obertribunal gefolgert, und es hat bis auf den heutigen Tag
als unbezweifelter Satz des Landrechts gegolten, daß „Blödsinn" die Ehe¬
scheidung nicht begründe, obgleich der „Blödsinn" in seinen schlimmen Formen
den Zweck der Ehe und die geistige Gemeinschaft der Gatten mindestens ebenso
sehr vereitelt als der Wahnsinn, und eine Ergänzung dieses offenbaren
Nedaktionsversehens im Landrecht sehr wohl in dem Nahmen zulässiger Aus¬
legung gelegen hätte.

Das bürgerliche Gesetzbuch schließt nicht nur in diesem, sondern auch in
zahlreichen ähnlichen Fällen durch eine freiere und übcrlegtere Ausdrucksweise
derartige Streitfragen und Entscheidungen aus und nötigt den Richter, selb¬
ständig gegenüber den Interessen und Strömungen des Wirtschaftslebens
Stellung zu nehmen. Welches Rechtsgeschäft „gegen die guten Sitten" ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/555>, abgerufen am 29.12.2024.