Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.Jeremias Gotthelf ausgezeichnet getroffen, ja das Menschenschicksal wirklich aus der Zeit heraus Den Übergang zu den meist modernen Geschichten in den "Erzählungen Jeremias Gotthelf ausgezeichnet getroffen, ja das Menschenschicksal wirklich aus der Zeit heraus Den Übergang zu den meist modernen Geschichten in den „Erzählungen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0512" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226098"/> <fw type="header" place="top"> Jeremias Gotthelf</fw><lb/> <p xml:id="ID_1278" prev="#ID_1277"> ausgezeichnet getroffen, ja das Menschenschicksal wirklich aus der Zeit heraus<lb/> entwickelt ist. Als Beispiel der gewaltigen freischaffenden Phantasie Gotthelfs<lb/> nenne ich die grauenhafte Erzählung „Die schwarze Spinne," eine Art alle¬<lb/> gorischer Darstellung der Pest als Strafe der Sünde, die Edgar Poch ähnliche<lb/> Werke an unheimlicher Phantastik vielleicht überragt, und gegen die gehalten<lb/> die Leistungen unsers modernen Symbolismus wie ABCschülerkritzeleien er¬<lb/> scheinen. Gut mittelalterliche Physiognomie haben der „Letzte Thorberger,"<lb/> zum Teil auch der „Knabe des Teil," vor allem aber „Kurt von Koppigen"<lb/> (in den „Erzählungen und Bildern"), eine Naubrittergeschichte, die beste<lb/> Leistung Gotthelfs auf geschichtlichem Gebiete. Die Erzählungen „Der Druide"<lb/> und „Bertram und Sintram oder die Gründung Burgsdorfs" sind am meisten<lb/> ossianisch und verraten, daß Bitzius an die Abstammung der Schweizer (oder<lb/> doch eines Teils von ihnen) von den alten Helvetern geglaubt hat. Ein paar<lb/> mal hat er selbst Legendenstoffe behandelt, wie sich denn überhaupt, nebenbei<lb/> bemerkt, die ganze Stoffwelt der Novellen Kellers schon in Gotthelfs Er¬<lb/> zählungen findet.</p><lb/> <p xml:id="ID_1279" next="#ID_1280"> Den Übergang zu den meist modernen Geschichten in den „Erzählungen<lb/> und Bildern" bildet in den „Bildern und Sagen": „Ein Bild aus dem Über¬<lb/> gang 1798," das heitere Seitenstück zu der vortrefflichen tragischen Erzählung<lb/> „Elsi, die seltsame Magd," die vielleicht die reinste poetische Leistung Gotthelfs<lb/> ist, und die Keller „Hermann und Dorothea" an die Seite stellt. Alle andern<lb/> Erzählungen Gotthelfs, über dreißig, kann ich natürlich hier nicht charak-<lb/> terisiren; ich erwähne die „beiden Erbvettcrn": „Hans Joggeli" und „Harzer<lb/> Hans," von denen der erstgenannte nach Charakteristik und Führung der<lb/> Handlung ein wahres Meisterstück, der zweite eines der düstersten natura¬<lb/> listischen Charaktergemälde aus dem Bauernleben ist, die Gotthelf je entworfen<lb/> hat. Voll köstlichen, frischen Humors sind die Brautschaugeschichtcn: „Michels<lb/> Brautschau," „Wie Joggeli eine Frau sucht" und „Wie Christen eine Frau<lb/> gewinnt," denen sich die gleichfalls humoristischen, aber nicht zur Hochzeit<lb/> führenden „Der Besuch auf dem Lande" und „Der Ball" anschließen, die das<lb/> Zusammentreffen von Stadt- und Landvolk schildern. Ganz in der Stadt<lb/> spielt „Der Notar in der Falle," gleichfalls eine Heiratsgeschichte. Großen,<lb/> gleichsam volkspädagogischen Wert haben die Lebensgeschichten „Das Erdbeer-<lb/> Mareili," diese zugleich eine der poetischsten Arbeiten Gotthelfs, „Der Besen¬<lb/> binder von Nichiswyl" und „Vcirthli der Körber," eine treffliche Charakter¬<lb/> studie; düstere Bilder aus dem Bauernleben sind „Segen und Unsegen," „Die<lb/> Wege Gottes und der Menschen Gedanken," „Ich strafe die Bosheit der Väter<lb/> an den Kindern"; mit dem politischen Leben hängen zusammen „Der deutsche<lb/> Flüchtling," „Wahlängsten und Noten des Herrn Böhneler," „Niggi Ju,"<lb/> gegen den Zeitgeist ist noch „Hans Berner und seine Söhne" gerichtet.<lb/> Endlich seien noch „Der Sonntag des Großvaters," eine etwas auf Rührung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0512]
Jeremias Gotthelf
ausgezeichnet getroffen, ja das Menschenschicksal wirklich aus der Zeit heraus
entwickelt ist. Als Beispiel der gewaltigen freischaffenden Phantasie Gotthelfs
nenne ich die grauenhafte Erzählung „Die schwarze Spinne," eine Art alle¬
gorischer Darstellung der Pest als Strafe der Sünde, die Edgar Poch ähnliche
Werke an unheimlicher Phantastik vielleicht überragt, und gegen die gehalten
die Leistungen unsers modernen Symbolismus wie ABCschülerkritzeleien er¬
scheinen. Gut mittelalterliche Physiognomie haben der „Letzte Thorberger,"
zum Teil auch der „Knabe des Teil," vor allem aber „Kurt von Koppigen"
(in den „Erzählungen und Bildern"), eine Naubrittergeschichte, die beste
Leistung Gotthelfs auf geschichtlichem Gebiete. Die Erzählungen „Der Druide"
und „Bertram und Sintram oder die Gründung Burgsdorfs" sind am meisten
ossianisch und verraten, daß Bitzius an die Abstammung der Schweizer (oder
doch eines Teils von ihnen) von den alten Helvetern geglaubt hat. Ein paar
mal hat er selbst Legendenstoffe behandelt, wie sich denn überhaupt, nebenbei
bemerkt, die ganze Stoffwelt der Novellen Kellers schon in Gotthelfs Er¬
zählungen findet.
Den Übergang zu den meist modernen Geschichten in den „Erzählungen
und Bildern" bildet in den „Bildern und Sagen": „Ein Bild aus dem Über¬
gang 1798," das heitere Seitenstück zu der vortrefflichen tragischen Erzählung
„Elsi, die seltsame Magd," die vielleicht die reinste poetische Leistung Gotthelfs
ist, und die Keller „Hermann und Dorothea" an die Seite stellt. Alle andern
Erzählungen Gotthelfs, über dreißig, kann ich natürlich hier nicht charak-
terisiren; ich erwähne die „beiden Erbvettcrn": „Hans Joggeli" und „Harzer
Hans," von denen der erstgenannte nach Charakteristik und Führung der
Handlung ein wahres Meisterstück, der zweite eines der düstersten natura¬
listischen Charaktergemälde aus dem Bauernleben ist, die Gotthelf je entworfen
hat. Voll köstlichen, frischen Humors sind die Brautschaugeschichtcn: „Michels
Brautschau," „Wie Joggeli eine Frau sucht" und „Wie Christen eine Frau
gewinnt," denen sich die gleichfalls humoristischen, aber nicht zur Hochzeit
führenden „Der Besuch auf dem Lande" und „Der Ball" anschließen, die das
Zusammentreffen von Stadt- und Landvolk schildern. Ganz in der Stadt
spielt „Der Notar in der Falle," gleichfalls eine Heiratsgeschichte. Großen,
gleichsam volkspädagogischen Wert haben die Lebensgeschichten „Das Erdbeer-
Mareili," diese zugleich eine der poetischsten Arbeiten Gotthelfs, „Der Besen¬
binder von Nichiswyl" und „Vcirthli der Körber," eine treffliche Charakter¬
studie; düstere Bilder aus dem Bauernleben sind „Segen und Unsegen," „Die
Wege Gottes und der Menschen Gedanken," „Ich strafe die Bosheit der Väter
an den Kindern"; mit dem politischen Leben hängen zusammen „Der deutsche
Flüchtling," „Wahlängsten und Noten des Herrn Böhneler," „Niggi Ju,"
gegen den Zeitgeist ist noch „Hans Berner und seine Söhne" gerichtet.
Endlich seien noch „Der Sonntag des Großvaters," eine etwas auf Rührung
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