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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Einiges von der deutschen Rechtseinheit

stehenden Recht einmal von dem einseitigen Jnteressenstandpuukte des Teils
unsrer Bevölkerung zu betrachten, der, ohne zum Kapitalismus zu gehören,
sich ausreichenden Einkommens und einigen Besitzes erfreut, also einen gewissen
Kreis privatrechtlicher Beziehungen hat, einen wesentlichen Verlust aber ohne
wirtschaftliche Schädigung nicht tragen kann, also eines Mittelstandes, der
jeden Prozeß scheut, weil das damit verbundne Risiko sowohl als die Gerichts-
kosten und das Warten auf die Entscheidung über seine wirtschaftlichen Kräfte
geht. Es ist vielleicht nicht überflüssig, zu betonen, daß die nachfolgende Zu¬
sammenstellung einer Reihe tief einschneidender Verbesserungen gerade für diesen
wichtigen Teil der Bevölkerung keineswegs das Ergebnis eines mühseligen
Zusammenscharrens ist, sondern sich bei einfachster Prüfung dem unbefangnen
Beobachter von selbst darbietet und leicht vermehren ließe.

Nehmen wir den für den Handwerker wichtigsten gewöhnlichen Werkvertrag,
den jeder täglich abschließt, wenn er sich bei dem Schuster ein Paar Stiefel,
beim Schneider einen Anzug und dergleichen bestellt. Nach den Vorschriften
des Landrechts ist ein Besteller, dem ein drückender Stiefel, ein nicht sitzender
Anzug geliefert wird, nicht verpflichtet, sich auf Abänderungen einzulassen, selbst
wenn hierdurch der Mangel gehoben werden könnte, sondern er kann sofort
von dem Vertrage zurücktreten und die Annahme ganz verweigern. Dasselbe
gilt, wenn die ausdrücklich vereinbarte Frist zur Ablieferung "durch die Schuld
des Werkmeisters oder durch einen in dessen Person sich ereignenden Zufall"
versäumt wird. Das bürgerliche Gesetzbuch scheidet gerechter und zweckmüßiger
zwischen den beiderseitigen Interessen; es giebt dem Besteller erst dann ein
Recht, die Abnahme völlig abzulehnen, wenn er dem Handwerker eine an¬
gemessene Frist bestimmt und dabei bemerklich gemacht hat, daß er die Be¬
seitigung des Mangels oder die Nachlieferung nach Ablauf der Frist ablehnen
wolle, und wenn der Handwerker die Frist fruchtlos verstreichen läßt. Daß
es der Bestimmung einer Frist nicht bedarf, "wenn die Beseitigung des
Mangels unmöglich ist oder von dem Handwerker verweigert wird, oder ein
besondres Interesse des Bestellers an rechtzeitiger Lieferung vorliegt," ist selbst¬
verständlich und im Gesetze vorsorglich auch ausgedrückt? denn wer seinen
Hochzeitsfrack bestellt, dem wird nicht zugemutet werden können, daß er ihn
acht Tage nach der Trauung abnehme. Andrerseits ist ausdrücklich der Rück¬
tritt ausgeschlossen, wenn der Mangel den Wert und die Tauglichkeit des
Werks nur "unerheblich" vermindert.

Von allgemeinem Interesse sind die Änderungen auf dem Gebiete des
Mietrechts. Es mag wohl wenige Mieter geben, die über ihre Rechtslage
dem Hauswirt gegenüber völlig im klaren sind. Wer zur Sicherheit gegen
Mietsteigerungen seine Wohnung auf zwei oder drei Jahre fest mietet, muß,
wenn er mit der Mietzahlung auch aus der unverschuldetsten und vorüber¬
gehendsten Notlage oder aus reinem Versehen im Rückstände bleibt, sich ge-


Grenzboten III 1897 gz
Einiges von der deutschen Rechtseinheit

stehenden Recht einmal von dem einseitigen Jnteressenstandpuukte des Teils
unsrer Bevölkerung zu betrachten, der, ohne zum Kapitalismus zu gehören,
sich ausreichenden Einkommens und einigen Besitzes erfreut, also einen gewissen
Kreis privatrechtlicher Beziehungen hat, einen wesentlichen Verlust aber ohne
wirtschaftliche Schädigung nicht tragen kann, also eines Mittelstandes, der
jeden Prozeß scheut, weil das damit verbundne Risiko sowohl als die Gerichts-
kosten und das Warten auf die Entscheidung über seine wirtschaftlichen Kräfte
geht. Es ist vielleicht nicht überflüssig, zu betonen, daß die nachfolgende Zu¬
sammenstellung einer Reihe tief einschneidender Verbesserungen gerade für diesen
wichtigen Teil der Bevölkerung keineswegs das Ergebnis eines mühseligen
Zusammenscharrens ist, sondern sich bei einfachster Prüfung dem unbefangnen
Beobachter von selbst darbietet und leicht vermehren ließe.

Nehmen wir den für den Handwerker wichtigsten gewöhnlichen Werkvertrag,
den jeder täglich abschließt, wenn er sich bei dem Schuster ein Paar Stiefel,
beim Schneider einen Anzug und dergleichen bestellt. Nach den Vorschriften
des Landrechts ist ein Besteller, dem ein drückender Stiefel, ein nicht sitzender
Anzug geliefert wird, nicht verpflichtet, sich auf Abänderungen einzulassen, selbst
wenn hierdurch der Mangel gehoben werden könnte, sondern er kann sofort
von dem Vertrage zurücktreten und die Annahme ganz verweigern. Dasselbe
gilt, wenn die ausdrücklich vereinbarte Frist zur Ablieferung „durch die Schuld
des Werkmeisters oder durch einen in dessen Person sich ereignenden Zufall"
versäumt wird. Das bürgerliche Gesetzbuch scheidet gerechter und zweckmüßiger
zwischen den beiderseitigen Interessen; es giebt dem Besteller erst dann ein
Recht, die Abnahme völlig abzulehnen, wenn er dem Handwerker eine an¬
gemessene Frist bestimmt und dabei bemerklich gemacht hat, daß er die Be¬
seitigung des Mangels oder die Nachlieferung nach Ablauf der Frist ablehnen
wolle, und wenn der Handwerker die Frist fruchtlos verstreichen läßt. Daß
es der Bestimmung einer Frist nicht bedarf, „wenn die Beseitigung des
Mangels unmöglich ist oder von dem Handwerker verweigert wird, oder ein
besondres Interesse des Bestellers an rechtzeitiger Lieferung vorliegt," ist selbst¬
verständlich und im Gesetze vorsorglich auch ausgedrückt? denn wer seinen
Hochzeitsfrack bestellt, dem wird nicht zugemutet werden können, daß er ihn
acht Tage nach der Trauung abnehme. Andrerseits ist ausdrücklich der Rück¬
tritt ausgeschlossen, wenn der Mangel den Wert und die Tauglichkeit des
Werks nur „unerheblich" vermindert.

Von allgemeinem Interesse sind die Änderungen auf dem Gebiete des
Mietrechts. Es mag wohl wenige Mieter geben, die über ihre Rechtslage
dem Hauswirt gegenüber völlig im klaren sind. Wer zur Sicherheit gegen
Mietsteigerungen seine Wohnung auf zwei oder drei Jahre fest mietet, muß,
wenn er mit der Mietzahlung auch aus der unverschuldetsten und vorüber¬
gehendsten Notlage oder aus reinem Versehen im Rückstände bleibt, sich ge-


Grenzboten III 1897 gz
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[0505] Einiges von der deutschen Rechtseinheit stehenden Recht einmal von dem einseitigen Jnteressenstandpuukte des Teils unsrer Bevölkerung zu betrachten, der, ohne zum Kapitalismus zu gehören, sich ausreichenden Einkommens und einigen Besitzes erfreut, also einen gewissen Kreis privatrechtlicher Beziehungen hat, einen wesentlichen Verlust aber ohne wirtschaftliche Schädigung nicht tragen kann, also eines Mittelstandes, der jeden Prozeß scheut, weil das damit verbundne Risiko sowohl als die Gerichts- kosten und das Warten auf die Entscheidung über seine wirtschaftlichen Kräfte geht. Es ist vielleicht nicht überflüssig, zu betonen, daß die nachfolgende Zu¬ sammenstellung einer Reihe tief einschneidender Verbesserungen gerade für diesen wichtigen Teil der Bevölkerung keineswegs das Ergebnis eines mühseligen Zusammenscharrens ist, sondern sich bei einfachster Prüfung dem unbefangnen Beobachter von selbst darbietet und leicht vermehren ließe. Nehmen wir den für den Handwerker wichtigsten gewöhnlichen Werkvertrag, den jeder täglich abschließt, wenn er sich bei dem Schuster ein Paar Stiefel, beim Schneider einen Anzug und dergleichen bestellt. Nach den Vorschriften des Landrechts ist ein Besteller, dem ein drückender Stiefel, ein nicht sitzender Anzug geliefert wird, nicht verpflichtet, sich auf Abänderungen einzulassen, selbst wenn hierdurch der Mangel gehoben werden könnte, sondern er kann sofort von dem Vertrage zurücktreten und die Annahme ganz verweigern. Dasselbe gilt, wenn die ausdrücklich vereinbarte Frist zur Ablieferung „durch die Schuld des Werkmeisters oder durch einen in dessen Person sich ereignenden Zufall" versäumt wird. Das bürgerliche Gesetzbuch scheidet gerechter und zweckmüßiger zwischen den beiderseitigen Interessen; es giebt dem Besteller erst dann ein Recht, die Abnahme völlig abzulehnen, wenn er dem Handwerker eine an¬ gemessene Frist bestimmt und dabei bemerklich gemacht hat, daß er die Be¬ seitigung des Mangels oder die Nachlieferung nach Ablauf der Frist ablehnen wolle, und wenn der Handwerker die Frist fruchtlos verstreichen läßt. Daß es der Bestimmung einer Frist nicht bedarf, „wenn die Beseitigung des Mangels unmöglich ist oder von dem Handwerker verweigert wird, oder ein besondres Interesse des Bestellers an rechtzeitiger Lieferung vorliegt," ist selbst¬ verständlich und im Gesetze vorsorglich auch ausgedrückt? denn wer seinen Hochzeitsfrack bestellt, dem wird nicht zugemutet werden können, daß er ihn acht Tage nach der Trauung abnehme. Andrerseits ist ausdrücklich der Rück¬ tritt ausgeschlossen, wenn der Mangel den Wert und die Tauglichkeit des Werks nur „unerheblich" vermindert. Von allgemeinem Interesse sind die Änderungen auf dem Gebiete des Mietrechts. Es mag wohl wenige Mieter geben, die über ihre Rechtslage dem Hauswirt gegenüber völlig im klaren sind. Wer zur Sicherheit gegen Mietsteigerungen seine Wohnung auf zwei oder drei Jahre fest mietet, muß, wenn er mit der Mietzahlung auch aus der unverschuldetsten und vorüber¬ gehendsten Notlage oder aus reinem Versehen im Rückstände bleibt, sich ge- Grenzboten III 1897 gz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/505>, abgerufen am 04.07.2024.