Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Volk und Jugend

ein Begehren so leicht durch das weite Land läuft, auch schon in Zeiten ohne
örtliche Presse und mit wenig Freizügigkeit. Besonders fühlbar wird natür¬
lich die Empfänglichkeit für derartiges moralisches Fluidum bei unmittelbar
körperlicher Berührung der Massen, beim öffentlichen Zusammenlauf. Da
wirkt die Vielheit auf den Einzelnen einfach wie ein Nauschmittel, belebend,
berückend, verkehrend, sie beraubt ihn jedes selbständigen Fühlens, wie sehr er
auch meinen mag, gerade dann recht voll und kräftig seinerseits zu fühle"; es
ist nur der Strom des fremden Gcsamtgefühls in seinen Adern. Daß auch
die Gebildeten dem Einfluß eines derartigen Fluidums bei größerer Anhüufnng
nicht entgehen, wird jeder bezeugen, oder vielmehr: es bezeugt sich allerwärts
von selbst.




Aber war es überhaupt zulässig, so viel vom Volk schlechthin zu sprechen,
als ob das wirklich ein fester Begriff wäre und ein gleichartiges Etwas?
Oder auch von der Jugend, die doch sehr verschiedne Entwicklungsstufen ein¬
schließt und auch sehr verschieden geartet ist, je nach ihrer Lebenssphäre, nach
den Familien, denen sie entsproßt, nach der Weise der Erziehung, nach Blut
und Boden? Was ist "das Volk"? Wo findet es sich? Sind es die Land¬
leute, sind es städtische Arbeiter, sind es alle die sogenannten kleinen Leute
mit einander, ist es die gesamte Bevölkerung unsrer Ortschaften und Land¬
schaften mit bloßem Abzug jener Auslese der echt und wahrhaft Gebildeten?
Sind es die, die draußen um ein Nichts zusammenlaufen, gaffen und plaudern,
sich schlagen und sich vertragen, sich anherrschen lassen und trotzen und feige
auseinanderlaufen? Und so könnte man weiter fragen. Wir verstehen ja unter
dem Worte bald das eine und bald das andre. Und wie verschieden das
Volk der Südländer, das kindlich und auch kindisch lebensfrohe, genügsame,
oft bettelhaft glückselige, und das stille, schwerfällige, trocken ernste des Nordens!
Wie verschieden auch schon das Volk innerhalb unsers eignen Vaterlandes,
das frisch blickende und empfindende und offne, lebhafte und warme der süd¬
lichen Bergländer, und das so viel verschlossenere und mißtrauende, aber zähe
und zuverlässige der nördlichen Küstenländer, wie verschieden die Grundstim-
mung, wie verschieden auch der Humor (der ja nirgends ganz fehlt, wo noch
ein Maß von Gesundheit des Daseins vorhanden ist)! Trotz alledem durften
allgemeine Züge aufgesucht und aufgezeigt werden, die freilich eben nur Züge,
nur Linien sind, aber noch nicht die Farben, die das Bild im Einzelnen
lebendig machen.

Und wie eine allgemeine Kennzeichnung bei Volk und Jugend gleicher¬
maßen versucht wurde, so ist auch zwischen den einzelnen Spielarten der beiden
eine Ähnlichkeit nicht zu verkennen. Die kindlichsten Züge -- das wurde
schon angedeutet -- wird das ländliche Volk der heitern südlichern Gegenden


Volk und Jugend

ein Begehren so leicht durch das weite Land läuft, auch schon in Zeiten ohne
örtliche Presse und mit wenig Freizügigkeit. Besonders fühlbar wird natür¬
lich die Empfänglichkeit für derartiges moralisches Fluidum bei unmittelbar
körperlicher Berührung der Massen, beim öffentlichen Zusammenlauf. Da
wirkt die Vielheit auf den Einzelnen einfach wie ein Nauschmittel, belebend,
berückend, verkehrend, sie beraubt ihn jedes selbständigen Fühlens, wie sehr er
auch meinen mag, gerade dann recht voll und kräftig seinerseits zu fühle»; es
ist nur der Strom des fremden Gcsamtgefühls in seinen Adern. Daß auch
die Gebildeten dem Einfluß eines derartigen Fluidums bei größerer Anhüufnng
nicht entgehen, wird jeder bezeugen, oder vielmehr: es bezeugt sich allerwärts
von selbst.




Aber war es überhaupt zulässig, so viel vom Volk schlechthin zu sprechen,
als ob das wirklich ein fester Begriff wäre und ein gleichartiges Etwas?
Oder auch von der Jugend, die doch sehr verschiedne Entwicklungsstufen ein¬
schließt und auch sehr verschieden geartet ist, je nach ihrer Lebenssphäre, nach
den Familien, denen sie entsproßt, nach der Weise der Erziehung, nach Blut
und Boden? Was ist „das Volk"? Wo findet es sich? Sind es die Land¬
leute, sind es städtische Arbeiter, sind es alle die sogenannten kleinen Leute
mit einander, ist es die gesamte Bevölkerung unsrer Ortschaften und Land¬
schaften mit bloßem Abzug jener Auslese der echt und wahrhaft Gebildeten?
Sind es die, die draußen um ein Nichts zusammenlaufen, gaffen und plaudern,
sich schlagen und sich vertragen, sich anherrschen lassen und trotzen und feige
auseinanderlaufen? Und so könnte man weiter fragen. Wir verstehen ja unter
dem Worte bald das eine und bald das andre. Und wie verschieden das
Volk der Südländer, das kindlich und auch kindisch lebensfrohe, genügsame,
oft bettelhaft glückselige, und das stille, schwerfällige, trocken ernste des Nordens!
Wie verschieden auch schon das Volk innerhalb unsers eignen Vaterlandes,
das frisch blickende und empfindende und offne, lebhafte und warme der süd¬
lichen Bergländer, und das so viel verschlossenere und mißtrauende, aber zähe
und zuverlässige der nördlichen Küstenländer, wie verschieden die Grundstim-
mung, wie verschieden auch der Humor (der ja nirgends ganz fehlt, wo noch
ein Maß von Gesundheit des Daseins vorhanden ist)! Trotz alledem durften
allgemeine Züge aufgesucht und aufgezeigt werden, die freilich eben nur Züge,
nur Linien sind, aber noch nicht die Farben, die das Bild im Einzelnen
lebendig machen.

Und wie eine allgemeine Kennzeichnung bei Volk und Jugend gleicher¬
maßen versucht wurde, so ist auch zwischen den einzelnen Spielarten der beiden
eine Ähnlichkeit nicht zu verkennen. Die kindlichsten Züge — das wurde
schon angedeutet — wird das ländliche Volk der heitern südlichern Gegenden


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0468" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226054"/>
          <fw type="header" place="top"> Volk und Jugend</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1154" prev="#ID_1153"> ein Begehren so leicht durch das weite Land läuft, auch schon in Zeiten ohne<lb/>
örtliche Presse und mit wenig Freizügigkeit. Besonders fühlbar wird natür¬<lb/>
lich die Empfänglichkeit für derartiges moralisches Fluidum bei unmittelbar<lb/>
körperlicher Berührung der Massen, beim öffentlichen Zusammenlauf. Da<lb/>
wirkt die Vielheit auf den Einzelnen einfach wie ein Nauschmittel, belebend,<lb/>
berückend, verkehrend, sie beraubt ihn jedes selbständigen Fühlens, wie sehr er<lb/>
auch meinen mag, gerade dann recht voll und kräftig seinerseits zu fühle»; es<lb/>
ist nur der Strom des fremden Gcsamtgefühls in seinen Adern. Daß auch<lb/>
die Gebildeten dem Einfluß eines derartigen Fluidums bei größerer Anhüufnng<lb/>
nicht entgehen, wird jeder bezeugen, oder vielmehr: es bezeugt sich allerwärts<lb/>
von selbst.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1155"> Aber war es überhaupt zulässig, so viel vom Volk schlechthin zu sprechen,<lb/>
als ob das wirklich ein fester Begriff wäre und ein gleichartiges Etwas?<lb/>
Oder auch von der Jugend, die doch sehr verschiedne Entwicklungsstufen ein¬<lb/>
schließt und auch sehr verschieden geartet ist, je nach ihrer Lebenssphäre, nach<lb/>
den Familien, denen sie entsproßt, nach der Weise der Erziehung, nach Blut<lb/>
und Boden? Was ist &#x201E;das Volk"? Wo findet es sich? Sind es die Land¬<lb/>
leute, sind es städtische Arbeiter, sind es alle die sogenannten kleinen Leute<lb/>
mit einander, ist es die gesamte Bevölkerung unsrer Ortschaften und Land¬<lb/>
schaften mit bloßem Abzug jener Auslese der echt und wahrhaft Gebildeten?<lb/>
Sind es die, die draußen um ein Nichts zusammenlaufen, gaffen und plaudern,<lb/>
sich schlagen und sich vertragen, sich anherrschen lassen und trotzen und feige<lb/>
auseinanderlaufen? Und so könnte man weiter fragen. Wir verstehen ja unter<lb/>
dem Worte bald das eine und bald das andre. Und wie verschieden das<lb/>
Volk der Südländer, das kindlich und auch kindisch lebensfrohe, genügsame,<lb/>
oft bettelhaft glückselige, und das stille, schwerfällige, trocken ernste des Nordens!<lb/>
Wie verschieden auch schon das Volk innerhalb unsers eignen Vaterlandes,<lb/>
das frisch blickende und empfindende und offne, lebhafte und warme der süd¬<lb/>
lichen Bergländer, und das so viel verschlossenere und mißtrauende, aber zähe<lb/>
und zuverlässige der nördlichen Küstenländer, wie verschieden die Grundstim-<lb/>
mung, wie verschieden auch der Humor (der ja nirgends ganz fehlt, wo noch<lb/>
ein Maß von Gesundheit des Daseins vorhanden ist)! Trotz alledem durften<lb/>
allgemeine Züge aufgesucht und aufgezeigt werden, die freilich eben nur Züge,<lb/>
nur Linien sind, aber noch nicht die Farben, die das Bild im Einzelnen<lb/>
lebendig machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1156" next="#ID_1157"> Und wie eine allgemeine Kennzeichnung bei Volk und Jugend gleicher¬<lb/>
maßen versucht wurde, so ist auch zwischen den einzelnen Spielarten der beiden<lb/>
eine Ähnlichkeit nicht zu verkennen. Die kindlichsten Züge &#x2014; das wurde<lb/>
schon angedeutet &#x2014; wird das ländliche Volk der heitern südlichern Gegenden</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0468] Volk und Jugend ein Begehren so leicht durch das weite Land läuft, auch schon in Zeiten ohne örtliche Presse und mit wenig Freizügigkeit. Besonders fühlbar wird natür¬ lich die Empfänglichkeit für derartiges moralisches Fluidum bei unmittelbar körperlicher Berührung der Massen, beim öffentlichen Zusammenlauf. Da wirkt die Vielheit auf den Einzelnen einfach wie ein Nauschmittel, belebend, berückend, verkehrend, sie beraubt ihn jedes selbständigen Fühlens, wie sehr er auch meinen mag, gerade dann recht voll und kräftig seinerseits zu fühle»; es ist nur der Strom des fremden Gcsamtgefühls in seinen Adern. Daß auch die Gebildeten dem Einfluß eines derartigen Fluidums bei größerer Anhüufnng nicht entgehen, wird jeder bezeugen, oder vielmehr: es bezeugt sich allerwärts von selbst. Aber war es überhaupt zulässig, so viel vom Volk schlechthin zu sprechen, als ob das wirklich ein fester Begriff wäre und ein gleichartiges Etwas? Oder auch von der Jugend, die doch sehr verschiedne Entwicklungsstufen ein¬ schließt und auch sehr verschieden geartet ist, je nach ihrer Lebenssphäre, nach den Familien, denen sie entsproßt, nach der Weise der Erziehung, nach Blut und Boden? Was ist „das Volk"? Wo findet es sich? Sind es die Land¬ leute, sind es städtische Arbeiter, sind es alle die sogenannten kleinen Leute mit einander, ist es die gesamte Bevölkerung unsrer Ortschaften und Land¬ schaften mit bloßem Abzug jener Auslese der echt und wahrhaft Gebildeten? Sind es die, die draußen um ein Nichts zusammenlaufen, gaffen und plaudern, sich schlagen und sich vertragen, sich anherrschen lassen und trotzen und feige auseinanderlaufen? Und so könnte man weiter fragen. Wir verstehen ja unter dem Worte bald das eine und bald das andre. Und wie verschieden das Volk der Südländer, das kindlich und auch kindisch lebensfrohe, genügsame, oft bettelhaft glückselige, und das stille, schwerfällige, trocken ernste des Nordens! Wie verschieden auch schon das Volk innerhalb unsers eignen Vaterlandes, das frisch blickende und empfindende und offne, lebhafte und warme der süd¬ lichen Bergländer, und das so viel verschlossenere und mißtrauende, aber zähe und zuverlässige der nördlichen Küstenländer, wie verschieden die Grundstim- mung, wie verschieden auch der Humor (der ja nirgends ganz fehlt, wo noch ein Maß von Gesundheit des Daseins vorhanden ist)! Trotz alledem durften allgemeine Züge aufgesucht und aufgezeigt werden, die freilich eben nur Züge, nur Linien sind, aber noch nicht die Farben, die das Bild im Einzelnen lebendig machen. Und wie eine allgemeine Kennzeichnung bei Volk und Jugend gleicher¬ maßen versucht wurde, so ist auch zwischen den einzelnen Spielarten der beiden eine Ähnlichkeit nicht zu verkennen. Die kindlichsten Züge — das wurde schon angedeutet — wird das ländliche Volk der heitern südlichern Gegenden

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/468
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/468>, abgerufen am 24.07.2024.