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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

mit Recht eine treue Anhänglichkeit; aber wie oft geben sie doch auch das
Bild der jähen Untreue, des leichtfertigen Abfalls von dem Gegenstand ihrer
wohlbegründeten Anhänglichkeit und Hingebung! Der natürlichen Tugend der
Dankbarkeit geht zur Seite ein oft großartiges Vergessen geleisteter Dienste,
gewährter Wohlthat. Wie das Volk seine großen Wohlthäter vergessen hat,
davon weiß die Weltgeschichte genug zu berichten. Das Vertrauen, das heute
leicht und ganz -- bis zur thörichten Leichtgläubigkeit -- gewährt wurde,
schlägt morgen aus geringem Anlaß, vielleicht auf wertlose Einflüsterung hin,
in das tiefste Mißtrauen um. Wie leicht es ist, in Kinderseelen das Gift des
Mißtrauens zu gießen gegen eine vielleicht vortreffliche Stiefmutter, gegen
einen wohlwollenden Lehrer usw., weiß jedermann; beim Volke ist es nicht
anders; der windige Anhauch absprechender Rede reicht hin, die unsichern
Seelen ganz zu erschüttern. Gute Kameradschaft -- einer der erfreulichsten
Züge im Leben des Volkes -- weicht in wenig Augenblicken dem scharfe"
Zwist, der gehässigen Nachrede. Dein guten Namen des Nächsten gegenüber
herrscht die ängstlichste Vorsicht, und dann wird derselbe Mensch auch wieder
aus ganz unsicherm Anlaß angefochten und gelästert. Das Rechtsgefühl zeigt
sich fast in ehrfurchtgebietender Stärke, besonders in Gestalt brennender Ent¬
rüstung über öffentliches Unrecht; und doch leistet das Volk auch wieder Er¬
staunliches in stumpfem Verkennen und trotzigem Mißachten des Rechts.

Bei alledem kommt namentlich wieder die schon besprochne Abhängigkeit
des Einzelnen von der Gemeinschaft zur Wirkung. Was der Einzelne dort
für sich ist oder bleiben würde, und was er in der Gemeinschaft und durch
das Aufgehen in der Gesamtheit ist und wird, das sind ganz verschiedne Dinge.
Ihm ist der Geist oder die Stimmung der Gesamtheit eine überwältigende
Macht, seine schwach entwickelte Persönlichkeit wird davon gleichsam aufgelöst
und fortgeschwemmt. Wie den Knaben, der zu Hause sauft und dem Guten
leicht zugänglich erscheint oder vielmehr wirklich ist, die Schar der Buben
draußen zur Teilnahme an rohem Vorgehen, an gefühlloser Bosheit leicht
mit fortzieht, wie in der Schule eine ganze Klasse vielleicht in Trotz und
Spott und hartnäckiger Unwahrheit eine geschlossene Phalanx bildet, während
die einzelnen jungen Schüler harmlos lenksam sein würden und ganz natür¬
licherweise von ihren Eltern anch für unfähig zum Böse" gehalten werden,
wie der Geist des einzelnen Studenten ganz wesentlich durch die studentische
Körperschaft bestimmt wird, der er angehört, nicht bloß durch deren Grund¬
sätze, sondern namentlich durch die wirkliche Natur der Genossen usw., so gilt
das ähnlich beim Volke -- nicht nur von den einzelnen Verbunden, die auch
dort nicht sehlen, und wenn es auch nur die Nachbarschaft wäre oder die Dorf¬
gemeinschaft, sondern auch von dem unsichtbaren Zusammenhang des Volkes
überhaupt, in dem allerwürts eine gleichartige Empfänglichkeit, gleichartige
Regungen und Keime ruhen, weshalb denn eine Stimmung, eine Meinung,


Volk und Jugend

mit Recht eine treue Anhänglichkeit; aber wie oft geben sie doch auch das
Bild der jähen Untreue, des leichtfertigen Abfalls von dem Gegenstand ihrer
wohlbegründeten Anhänglichkeit und Hingebung! Der natürlichen Tugend der
Dankbarkeit geht zur Seite ein oft großartiges Vergessen geleisteter Dienste,
gewährter Wohlthat. Wie das Volk seine großen Wohlthäter vergessen hat,
davon weiß die Weltgeschichte genug zu berichten. Das Vertrauen, das heute
leicht und ganz — bis zur thörichten Leichtgläubigkeit — gewährt wurde,
schlägt morgen aus geringem Anlaß, vielleicht auf wertlose Einflüsterung hin,
in das tiefste Mißtrauen um. Wie leicht es ist, in Kinderseelen das Gift des
Mißtrauens zu gießen gegen eine vielleicht vortreffliche Stiefmutter, gegen
einen wohlwollenden Lehrer usw., weiß jedermann; beim Volke ist es nicht
anders; der windige Anhauch absprechender Rede reicht hin, die unsichern
Seelen ganz zu erschüttern. Gute Kameradschaft — einer der erfreulichsten
Züge im Leben des Volkes — weicht in wenig Augenblicken dem scharfe»
Zwist, der gehässigen Nachrede. Dein guten Namen des Nächsten gegenüber
herrscht die ängstlichste Vorsicht, und dann wird derselbe Mensch auch wieder
aus ganz unsicherm Anlaß angefochten und gelästert. Das Rechtsgefühl zeigt
sich fast in ehrfurchtgebietender Stärke, besonders in Gestalt brennender Ent¬
rüstung über öffentliches Unrecht; und doch leistet das Volk auch wieder Er¬
staunliches in stumpfem Verkennen und trotzigem Mißachten des Rechts.

Bei alledem kommt namentlich wieder die schon besprochne Abhängigkeit
des Einzelnen von der Gemeinschaft zur Wirkung. Was der Einzelne dort
für sich ist oder bleiben würde, und was er in der Gemeinschaft und durch
das Aufgehen in der Gesamtheit ist und wird, das sind ganz verschiedne Dinge.
Ihm ist der Geist oder die Stimmung der Gesamtheit eine überwältigende
Macht, seine schwach entwickelte Persönlichkeit wird davon gleichsam aufgelöst
und fortgeschwemmt. Wie den Knaben, der zu Hause sauft und dem Guten
leicht zugänglich erscheint oder vielmehr wirklich ist, die Schar der Buben
draußen zur Teilnahme an rohem Vorgehen, an gefühlloser Bosheit leicht
mit fortzieht, wie in der Schule eine ganze Klasse vielleicht in Trotz und
Spott und hartnäckiger Unwahrheit eine geschlossene Phalanx bildet, während
die einzelnen jungen Schüler harmlos lenksam sein würden und ganz natür¬
licherweise von ihren Eltern anch für unfähig zum Böse» gehalten werden,
wie der Geist des einzelnen Studenten ganz wesentlich durch die studentische
Körperschaft bestimmt wird, der er angehört, nicht bloß durch deren Grund¬
sätze, sondern namentlich durch die wirkliche Natur der Genossen usw., so gilt
das ähnlich beim Volke — nicht nur von den einzelnen Verbunden, die auch
dort nicht sehlen, und wenn es auch nur die Nachbarschaft wäre oder die Dorf¬
gemeinschaft, sondern auch von dem unsichtbaren Zusammenhang des Volkes
überhaupt, in dem allerwürts eine gleichartige Empfänglichkeit, gleichartige
Regungen und Keime ruhen, weshalb denn eine Stimmung, eine Meinung,


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[0467] Volk und Jugend mit Recht eine treue Anhänglichkeit; aber wie oft geben sie doch auch das Bild der jähen Untreue, des leichtfertigen Abfalls von dem Gegenstand ihrer wohlbegründeten Anhänglichkeit und Hingebung! Der natürlichen Tugend der Dankbarkeit geht zur Seite ein oft großartiges Vergessen geleisteter Dienste, gewährter Wohlthat. Wie das Volk seine großen Wohlthäter vergessen hat, davon weiß die Weltgeschichte genug zu berichten. Das Vertrauen, das heute leicht und ganz — bis zur thörichten Leichtgläubigkeit — gewährt wurde, schlägt morgen aus geringem Anlaß, vielleicht auf wertlose Einflüsterung hin, in das tiefste Mißtrauen um. Wie leicht es ist, in Kinderseelen das Gift des Mißtrauens zu gießen gegen eine vielleicht vortreffliche Stiefmutter, gegen einen wohlwollenden Lehrer usw., weiß jedermann; beim Volke ist es nicht anders; der windige Anhauch absprechender Rede reicht hin, die unsichern Seelen ganz zu erschüttern. Gute Kameradschaft — einer der erfreulichsten Züge im Leben des Volkes — weicht in wenig Augenblicken dem scharfe» Zwist, der gehässigen Nachrede. Dein guten Namen des Nächsten gegenüber herrscht die ängstlichste Vorsicht, und dann wird derselbe Mensch auch wieder aus ganz unsicherm Anlaß angefochten und gelästert. Das Rechtsgefühl zeigt sich fast in ehrfurchtgebietender Stärke, besonders in Gestalt brennender Ent¬ rüstung über öffentliches Unrecht; und doch leistet das Volk auch wieder Er¬ staunliches in stumpfem Verkennen und trotzigem Mißachten des Rechts. Bei alledem kommt namentlich wieder die schon besprochne Abhängigkeit des Einzelnen von der Gemeinschaft zur Wirkung. Was der Einzelne dort für sich ist oder bleiben würde, und was er in der Gemeinschaft und durch das Aufgehen in der Gesamtheit ist und wird, das sind ganz verschiedne Dinge. Ihm ist der Geist oder die Stimmung der Gesamtheit eine überwältigende Macht, seine schwach entwickelte Persönlichkeit wird davon gleichsam aufgelöst und fortgeschwemmt. Wie den Knaben, der zu Hause sauft und dem Guten leicht zugänglich erscheint oder vielmehr wirklich ist, die Schar der Buben draußen zur Teilnahme an rohem Vorgehen, an gefühlloser Bosheit leicht mit fortzieht, wie in der Schule eine ganze Klasse vielleicht in Trotz und Spott und hartnäckiger Unwahrheit eine geschlossene Phalanx bildet, während die einzelnen jungen Schüler harmlos lenksam sein würden und ganz natür¬ licherweise von ihren Eltern anch für unfähig zum Böse» gehalten werden, wie der Geist des einzelnen Studenten ganz wesentlich durch die studentische Körperschaft bestimmt wird, der er angehört, nicht bloß durch deren Grund¬ sätze, sondern namentlich durch die wirkliche Natur der Genossen usw., so gilt das ähnlich beim Volke — nicht nur von den einzelnen Verbunden, die auch dort nicht sehlen, und wenn es auch nur die Nachbarschaft wäre oder die Dorf¬ gemeinschaft, sondern auch von dem unsichtbaren Zusammenhang des Volkes überhaupt, in dem allerwürts eine gleichartige Empfänglichkeit, gleichartige Regungen und Keime ruhen, weshalb denn eine Stimmung, eine Meinung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/467>, abgerufen am 24.07.2024.