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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Ieromias Gotthelf

Wesens flie erste ist nach Keller sein episches Genies. Kein bekannter Dichter
oder Schriftsteller lebt gegenwärtig, welcher so sein Licht unter den Scheffel
stellt und in solchem Maße das verachtet, was man Technik, Kritik, Litteratur¬
geschichte, Ästhetik, kurz Rechenschaft von seinem Thun und Lassen neunt in
künstlerischer Beziehung. Und wenn wir uns nicht gänzlich irren, so liegt der
Grund dieser seltsamen widerspruchsvollen Erscheinung weniger in einem un¬
glückseligen Cynismus als in der religiösen Weltanschauung seiner nicht durch¬
gebildeten, kurzatmigen Weltanschauung, heißt es bald darauf. In der That
scheint es mehr eine Art asketischer Demut und Entsagung gewesen zu sein,
welche die weltliche äußere Kunstmäßigkeit und Ziede verachten ließ, ein herber
puritanischer Barbarismus, welcher die Klugheit und Handlichkeit geläuterter
Schönheit verwarf. Es hängt damit zusammen, daß er nie die geringste
Konzession machte an die Allgemeingenießbarkeit und seine Werke unverwüstlich
in dem Dialekte und Witze schrieb, welcher nur in dem engen alemannischen
Gebiete ganz genossen werden kann. Er schien nichts dcivonnehmen noch hinzu¬
thun zu wollen zu dem, was ihm sei" Gott gegeben hatte, und alles künstle¬
rische Bestreben für eine weltliche Zuthat zu halten, welche weniger in die
Kirche als vor die heidnische Orchestra führe. Aber der gleiche Gott, der den
Menschen die Poesie gab, gab ihnen ohne Zweifel auch den künstlerischen Trieb
und das Bedürfnis der Vollendung, und wenn er schon in der Blume, die er
zunächst selbst machte, Symmetrie und Wohlgeruch liebt, warum sollte er sie
uicht auch im Menschenwcrke lieben?" Ganz recht, gegen die feinere künstle¬
rische Ausgestaltung ist gewiß nichts zu sagen, aber nicht jeder, der die ge¬
staltende Kraft hat, ist auch für sie beanlagt, Gotthelf aber mußte es seiner
Natur uach um unmittelbare sittliche und soziale Wirkung zu thun sein, und
es fragt sich, ob künstlerische Durchbildung die nicht vielleicht stört. Ein
bischen bäurische "Protzerei" mag man in dem Ablehnen der Kunst auch finden,
wie er denn einmal Goethe in nicht schöner Weise verspottet, aber andrerseits
darf man auch das Treiben der vormärzlichen, meist jungdeutschen "Belletristen"
nicht vergessen, wenn man sich Gotthelfs Abneigung gegen die "künstlerische"
Nomauschreiberei erklären will. So ward und blieb er Naturalist. Technik,
Kritik, Litteraturgeschichte und Ästhetik siud schöne Dinge, aber es kann ihrer
auch zu viel werden, daher ist ja in unsern Tagen der Naturalismus zum
künstlerischen Prinzip erhoben worden. Gotthelf war aber ein natürlicher
Naturalist, während unsre modernen Naturalisten, obwohl sich auch bei ihnen
das Streben nach unmittelbarer moralischer und sozialer Wirkuug findet,
Litteraten, wie sie meistens sind, als künstliche Naturalisten zu bezeichnen sein
dürften und daher weder seine Naturwahrheit noch seine Wirkung erreichten,
wenn man die Wirkung nach der Tiefe, nicht nach der Breite bemißt.

Das erste Werk Gotthelfs, das von der offnen Tendenz gegen den
Zeitgeist erfüllt erscheint, ist der "Geltstag" oder "Die Wirtschaft nach der


Ieromias Gotthelf

Wesens flie erste ist nach Keller sein episches Genies. Kein bekannter Dichter
oder Schriftsteller lebt gegenwärtig, welcher so sein Licht unter den Scheffel
stellt und in solchem Maße das verachtet, was man Technik, Kritik, Litteratur¬
geschichte, Ästhetik, kurz Rechenschaft von seinem Thun und Lassen neunt in
künstlerischer Beziehung. Und wenn wir uns nicht gänzlich irren, so liegt der
Grund dieser seltsamen widerspruchsvollen Erscheinung weniger in einem un¬
glückseligen Cynismus als in der religiösen Weltanschauung seiner nicht durch¬
gebildeten, kurzatmigen Weltanschauung, heißt es bald darauf. In der That
scheint es mehr eine Art asketischer Demut und Entsagung gewesen zu sein,
welche die weltliche äußere Kunstmäßigkeit und Ziede verachten ließ, ein herber
puritanischer Barbarismus, welcher die Klugheit und Handlichkeit geläuterter
Schönheit verwarf. Es hängt damit zusammen, daß er nie die geringste
Konzession machte an die Allgemeingenießbarkeit und seine Werke unverwüstlich
in dem Dialekte und Witze schrieb, welcher nur in dem engen alemannischen
Gebiete ganz genossen werden kann. Er schien nichts dcivonnehmen noch hinzu¬
thun zu wollen zu dem, was ihm sei» Gott gegeben hatte, und alles künstle¬
rische Bestreben für eine weltliche Zuthat zu halten, welche weniger in die
Kirche als vor die heidnische Orchestra führe. Aber der gleiche Gott, der den
Menschen die Poesie gab, gab ihnen ohne Zweifel auch den künstlerischen Trieb
und das Bedürfnis der Vollendung, und wenn er schon in der Blume, die er
zunächst selbst machte, Symmetrie und Wohlgeruch liebt, warum sollte er sie
uicht auch im Menschenwcrke lieben?" Ganz recht, gegen die feinere künstle¬
rische Ausgestaltung ist gewiß nichts zu sagen, aber nicht jeder, der die ge¬
staltende Kraft hat, ist auch für sie beanlagt, Gotthelf aber mußte es seiner
Natur uach um unmittelbare sittliche und soziale Wirkung zu thun sein, und
es fragt sich, ob künstlerische Durchbildung die nicht vielleicht stört. Ein
bischen bäurische „Protzerei" mag man in dem Ablehnen der Kunst auch finden,
wie er denn einmal Goethe in nicht schöner Weise verspottet, aber andrerseits
darf man auch das Treiben der vormärzlichen, meist jungdeutschen „Belletristen"
nicht vergessen, wenn man sich Gotthelfs Abneigung gegen die „künstlerische"
Nomauschreiberei erklären will. So ward und blieb er Naturalist. Technik,
Kritik, Litteraturgeschichte und Ästhetik siud schöne Dinge, aber es kann ihrer
auch zu viel werden, daher ist ja in unsern Tagen der Naturalismus zum
künstlerischen Prinzip erhoben worden. Gotthelf war aber ein natürlicher
Naturalist, während unsre modernen Naturalisten, obwohl sich auch bei ihnen
das Streben nach unmittelbarer moralischer und sozialer Wirkuug findet,
Litteraten, wie sie meistens sind, als künstliche Naturalisten zu bezeichnen sein
dürften und daher weder seine Naturwahrheit noch seine Wirkung erreichten,
wenn man die Wirkung nach der Tiefe, nicht nach der Breite bemißt.

Das erste Werk Gotthelfs, das von der offnen Tendenz gegen den
Zeitgeist erfüllt erscheint, ist der „Geltstag" oder „Die Wirtschaft nach der


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[0418] Ieromias Gotthelf Wesens flie erste ist nach Keller sein episches Genies. Kein bekannter Dichter oder Schriftsteller lebt gegenwärtig, welcher so sein Licht unter den Scheffel stellt und in solchem Maße das verachtet, was man Technik, Kritik, Litteratur¬ geschichte, Ästhetik, kurz Rechenschaft von seinem Thun und Lassen neunt in künstlerischer Beziehung. Und wenn wir uns nicht gänzlich irren, so liegt der Grund dieser seltsamen widerspruchsvollen Erscheinung weniger in einem un¬ glückseligen Cynismus als in der religiösen Weltanschauung seiner nicht durch¬ gebildeten, kurzatmigen Weltanschauung, heißt es bald darauf. In der That scheint es mehr eine Art asketischer Demut und Entsagung gewesen zu sein, welche die weltliche äußere Kunstmäßigkeit und Ziede verachten ließ, ein herber puritanischer Barbarismus, welcher die Klugheit und Handlichkeit geläuterter Schönheit verwarf. Es hängt damit zusammen, daß er nie die geringste Konzession machte an die Allgemeingenießbarkeit und seine Werke unverwüstlich in dem Dialekte und Witze schrieb, welcher nur in dem engen alemannischen Gebiete ganz genossen werden kann. Er schien nichts dcivonnehmen noch hinzu¬ thun zu wollen zu dem, was ihm sei» Gott gegeben hatte, und alles künstle¬ rische Bestreben für eine weltliche Zuthat zu halten, welche weniger in die Kirche als vor die heidnische Orchestra führe. Aber der gleiche Gott, der den Menschen die Poesie gab, gab ihnen ohne Zweifel auch den künstlerischen Trieb und das Bedürfnis der Vollendung, und wenn er schon in der Blume, die er zunächst selbst machte, Symmetrie und Wohlgeruch liebt, warum sollte er sie uicht auch im Menschenwcrke lieben?" Ganz recht, gegen die feinere künstle¬ rische Ausgestaltung ist gewiß nichts zu sagen, aber nicht jeder, der die ge¬ staltende Kraft hat, ist auch für sie beanlagt, Gotthelf aber mußte es seiner Natur uach um unmittelbare sittliche und soziale Wirkung zu thun sein, und es fragt sich, ob künstlerische Durchbildung die nicht vielleicht stört. Ein bischen bäurische „Protzerei" mag man in dem Ablehnen der Kunst auch finden, wie er denn einmal Goethe in nicht schöner Weise verspottet, aber andrerseits darf man auch das Treiben der vormärzlichen, meist jungdeutschen „Belletristen" nicht vergessen, wenn man sich Gotthelfs Abneigung gegen die „künstlerische" Nomauschreiberei erklären will. So ward und blieb er Naturalist. Technik, Kritik, Litteraturgeschichte und Ästhetik siud schöne Dinge, aber es kann ihrer auch zu viel werden, daher ist ja in unsern Tagen der Naturalismus zum künstlerischen Prinzip erhoben worden. Gotthelf war aber ein natürlicher Naturalist, während unsre modernen Naturalisten, obwohl sich auch bei ihnen das Streben nach unmittelbarer moralischer und sozialer Wirkuug findet, Litteraten, wie sie meistens sind, als künstliche Naturalisten zu bezeichnen sein dürften und daher weder seine Naturwahrheit noch seine Wirkung erreichten, wenn man die Wirkung nach der Tiefe, nicht nach der Breite bemißt. Das erste Werk Gotthelfs, das von der offnen Tendenz gegen den Zeitgeist erfüllt erscheint, ist der „Geltstag" oder „Die Wirtschaft nach der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/418>, abgerufen am 24.07.2024.