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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

geradezu an, die Natur ist ihr damit nur um so viel belebter, es imponirt
ihr da eine neue Kraft; die Hitze hindert sie nicht am Toben, die Kälte bleibt
ungefühlt, wo sie Eis- und Schneevergnügen beschert; und das Volk, auch die,
die von der Feindseligkeit des Wetters bitter leiden, sie machen nicht viel Wesens
davon, das Wetter ist ihnen ein Stück des gemeinen Menschenschicksals, das
der Einzelne hinnimmt, wie es über die Gesamtheit verhängt wird.

Bleiben wir bei dieser Ergebung in das Schicksal stehen. Sie darf in
der That als ein weiterer Zug in dem Charakterbilde des Volkes angesehen
werden. Nicht als ob hier nicht gelegentlich der Ordnung der Dinge, in die
man sich fügen soll, besondrer Trotz entgegengestellt würde: das corriger 1a
tnrwllö ist ein Wunsch, der manches ungestüm begehrliche Herz zu jäher Unthat
hinreißt; aber im ganzen ist das Hinnehmen (das wir nicht gleich Resignation
setzen wollen oder gleich frommer Ergebung) mehr die Regel, weit mehr als
in den höhern Schichten. Weder ist der Wille des Einzelnen geklärt und
gefestigt genug und seine Ziele begeisternd genug, um die Schranken des ein¬
engendem Geschicks durchbrechen zu wollen, noch hat er die äußern Mittel und
Hilfen, die dem Unabhängigen zur Verfügung stehen. Man sühlt sich frühzeitig
alt werden, man spricht es aus ohne viel Gethue, und dabei hat es sein
Bewenden. Man leidet Krankheit, die sich hindehnt und verschlimmert, aber
man kann ja nicht daran denken, alle Hilfsmittel der Wissenschaft in Anspruch
zu nehmen, alle Geldsummen springen zu lassen, alle Koryphäen anzugehen,
alle Kurorte durchzukosten.") Man erfährt schwerwiegenden Undank von den
Nächsten, und trägt es doch nicht mit der tiefen Bitterkeit, wie wir es thun
würden; der Mensch bäumt sich nicht so empfindlich auf gegen Unbill und
Unrecht, er fühlt sich nicht genug dazu. Mau erleidet den schwersten Herzens¬
verlust und muß doch rennen und ringen und schaffen vom Morgen bis zur
Nacht um das Dasein. Das Volk kann sich seinen Gefühlen selten recht hin¬
geben, auch die schmerzlichsten nicht voll ausleben, und so graben sich die
Rinnen nicht so tief; es ist darum nicht oberflächlich zu nennen, denn es muß
mit seinem Maße gemessen werden, und dieses Maß ergiebt sich aus seinen
wirklichen Lebensbedingungen.

Was aber die Jugend betrifft, fo ist es ja ihr Recht und ihr Vorzug,
leicht zu verschmerzen, den Wert der Verluste uoch uicht nach seinem vollen
Gewicht zu messen, sich in veränderte und auch in sehr verschlechterte Umstände
leicht hineinzuleben, das Dasein in der Gegenwart hoch genug zu schätzen
und von Vergangenheit und Zukunft nicht allzusehr bedrängt zu werden. Auch
hier haben sich die Rinnen noch nicht tief gegraben, und die Jugend darf



") Dabei ist die Furcht vor dem Eingriff des Arztes und namentlich den: körperlichen
Schmerz, den dieser Eingriff bringen könnte, ein Stück Kinderei, der das Volk nicht zu ent¬
wachsen pflegt, wie denn überhaupt körperlicher Schmerz da über die Maßen hoch angeschlagen
wird, wo die seelischen Schmerzen noch zu keiner rechten Ausbildung kommen.
Volk und Jugend

geradezu an, die Natur ist ihr damit nur um so viel belebter, es imponirt
ihr da eine neue Kraft; die Hitze hindert sie nicht am Toben, die Kälte bleibt
ungefühlt, wo sie Eis- und Schneevergnügen beschert; und das Volk, auch die,
die von der Feindseligkeit des Wetters bitter leiden, sie machen nicht viel Wesens
davon, das Wetter ist ihnen ein Stück des gemeinen Menschenschicksals, das
der Einzelne hinnimmt, wie es über die Gesamtheit verhängt wird.

Bleiben wir bei dieser Ergebung in das Schicksal stehen. Sie darf in
der That als ein weiterer Zug in dem Charakterbilde des Volkes angesehen
werden. Nicht als ob hier nicht gelegentlich der Ordnung der Dinge, in die
man sich fügen soll, besondrer Trotz entgegengestellt würde: das corriger 1a
tnrwllö ist ein Wunsch, der manches ungestüm begehrliche Herz zu jäher Unthat
hinreißt; aber im ganzen ist das Hinnehmen (das wir nicht gleich Resignation
setzen wollen oder gleich frommer Ergebung) mehr die Regel, weit mehr als
in den höhern Schichten. Weder ist der Wille des Einzelnen geklärt und
gefestigt genug und seine Ziele begeisternd genug, um die Schranken des ein¬
engendem Geschicks durchbrechen zu wollen, noch hat er die äußern Mittel und
Hilfen, die dem Unabhängigen zur Verfügung stehen. Man sühlt sich frühzeitig
alt werden, man spricht es aus ohne viel Gethue, und dabei hat es sein
Bewenden. Man leidet Krankheit, die sich hindehnt und verschlimmert, aber
man kann ja nicht daran denken, alle Hilfsmittel der Wissenschaft in Anspruch
zu nehmen, alle Geldsummen springen zu lassen, alle Koryphäen anzugehen,
alle Kurorte durchzukosten.") Man erfährt schwerwiegenden Undank von den
Nächsten, und trägt es doch nicht mit der tiefen Bitterkeit, wie wir es thun
würden; der Mensch bäumt sich nicht so empfindlich auf gegen Unbill und
Unrecht, er fühlt sich nicht genug dazu. Mau erleidet den schwersten Herzens¬
verlust und muß doch rennen und ringen und schaffen vom Morgen bis zur
Nacht um das Dasein. Das Volk kann sich seinen Gefühlen selten recht hin¬
geben, auch die schmerzlichsten nicht voll ausleben, und so graben sich die
Rinnen nicht so tief; es ist darum nicht oberflächlich zu nennen, denn es muß
mit seinem Maße gemessen werden, und dieses Maß ergiebt sich aus seinen
wirklichen Lebensbedingungen.

Was aber die Jugend betrifft, fo ist es ja ihr Recht und ihr Vorzug,
leicht zu verschmerzen, den Wert der Verluste uoch uicht nach seinem vollen
Gewicht zu messen, sich in veränderte und auch in sehr verschlechterte Umstände
leicht hineinzuleben, das Dasein in der Gegenwart hoch genug zu schätzen
und von Vergangenheit und Zukunft nicht allzusehr bedrängt zu werden. Auch
hier haben sich die Rinnen noch nicht tief gegraben, und die Jugend darf



") Dabei ist die Furcht vor dem Eingriff des Arztes und namentlich den: körperlichen
Schmerz, den dieser Eingriff bringen könnte, ein Stück Kinderei, der das Volk nicht zu ent¬
wachsen pflegt, wie denn überhaupt körperlicher Schmerz da über die Maßen hoch angeschlagen
wird, wo die seelischen Schmerzen noch zu keiner rechten Ausbildung kommen.
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[0416] Volk und Jugend geradezu an, die Natur ist ihr damit nur um so viel belebter, es imponirt ihr da eine neue Kraft; die Hitze hindert sie nicht am Toben, die Kälte bleibt ungefühlt, wo sie Eis- und Schneevergnügen beschert; und das Volk, auch die, die von der Feindseligkeit des Wetters bitter leiden, sie machen nicht viel Wesens davon, das Wetter ist ihnen ein Stück des gemeinen Menschenschicksals, das der Einzelne hinnimmt, wie es über die Gesamtheit verhängt wird. Bleiben wir bei dieser Ergebung in das Schicksal stehen. Sie darf in der That als ein weiterer Zug in dem Charakterbilde des Volkes angesehen werden. Nicht als ob hier nicht gelegentlich der Ordnung der Dinge, in die man sich fügen soll, besondrer Trotz entgegengestellt würde: das corriger 1a tnrwllö ist ein Wunsch, der manches ungestüm begehrliche Herz zu jäher Unthat hinreißt; aber im ganzen ist das Hinnehmen (das wir nicht gleich Resignation setzen wollen oder gleich frommer Ergebung) mehr die Regel, weit mehr als in den höhern Schichten. Weder ist der Wille des Einzelnen geklärt und gefestigt genug und seine Ziele begeisternd genug, um die Schranken des ein¬ engendem Geschicks durchbrechen zu wollen, noch hat er die äußern Mittel und Hilfen, die dem Unabhängigen zur Verfügung stehen. Man sühlt sich frühzeitig alt werden, man spricht es aus ohne viel Gethue, und dabei hat es sein Bewenden. Man leidet Krankheit, die sich hindehnt und verschlimmert, aber man kann ja nicht daran denken, alle Hilfsmittel der Wissenschaft in Anspruch zu nehmen, alle Geldsummen springen zu lassen, alle Koryphäen anzugehen, alle Kurorte durchzukosten.") Man erfährt schwerwiegenden Undank von den Nächsten, und trägt es doch nicht mit der tiefen Bitterkeit, wie wir es thun würden; der Mensch bäumt sich nicht so empfindlich auf gegen Unbill und Unrecht, er fühlt sich nicht genug dazu. Mau erleidet den schwersten Herzens¬ verlust und muß doch rennen und ringen und schaffen vom Morgen bis zur Nacht um das Dasein. Das Volk kann sich seinen Gefühlen selten recht hin¬ geben, auch die schmerzlichsten nicht voll ausleben, und so graben sich die Rinnen nicht so tief; es ist darum nicht oberflächlich zu nennen, denn es muß mit seinem Maße gemessen werden, und dieses Maß ergiebt sich aus seinen wirklichen Lebensbedingungen. Was aber die Jugend betrifft, fo ist es ja ihr Recht und ihr Vorzug, leicht zu verschmerzen, den Wert der Verluste uoch uicht nach seinem vollen Gewicht zu messen, sich in veränderte und auch in sehr verschlechterte Umstände leicht hineinzuleben, das Dasein in der Gegenwart hoch genug zu schätzen und von Vergangenheit und Zukunft nicht allzusehr bedrängt zu werden. Auch hier haben sich die Rinnen noch nicht tief gegraben, und die Jugend darf ") Dabei ist die Furcht vor dem Eingriff des Arztes und namentlich den: körperlichen Schmerz, den dieser Eingriff bringen könnte, ein Stück Kinderei, der das Volk nicht zu ent¬ wachsen pflegt, wie denn überhaupt körperlicher Schmerz da über die Maßen hoch angeschlagen wird, wo die seelischen Schmerzen noch zu keiner rechten Ausbildung kommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/416>, abgerufen am 24.07.2024.