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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Uarl Vtfried Müller

die große Leistung verkleinern zu wollen, die besonders als Zusammenweben
von Einzelzügen zu einem gewaltigen Gesamtbilde ergreift, tritt man doch dem
Andenken des Verfassers nicht zu nahe, wenn man einige seiner Ergebnisse als
von der neuern Forschung überholt bezeichnet. Er sucht den Stamm der
Dorier von kleinen Anfängen bis zu der großartigen Ausbreitung zu verfolgen,
die er in geschichtlicher Zeit gewann, und die Einheitlichkeit des Charakters,
das unabänderliche Festhalten an denselben Idealen nachzuweisen. Auf dem
Gebiete der Religion sind ihm da Apollon und Herakles die Sinnbilder des
echten Doriertums. Apollon ist ihm der spezifisch dorische Gott, überall von
den Doriern verehrt, ihr Stammesgott, und als solcher später zu allgemeiner
Bedeutung ausgebildet. Aber freilich, so bewunderungswürdig diese An¬
schauung ist, die unter dem einen Gesichtspunkt alle erreichbaren Zeugnisse
zusammenfaßt, so kann doch nicht verschwiegen werden, daß dieses Bild der
Apollonreligion nicht das richtige ist. Apollon ist nicht ein ursprünglich
dorischer Gott; wir können sogar verfolgen, wie er erst im Verlauf der Ge¬
schichte dazu geworden ist. Wie sich der Name des Gottes, der hehrsten Er¬
scheinung der ganzen griechischen Götterwelt, noch bis heute einer sichern
Deutung entzieht, so sind anch die Ursprünge seiner Religion noch immer
dunkel. Wo man zuerst in urältester Zeit mit dem Namen Apollon den
Begriff der Gottheit verband, das ist für uns noch heute in Dunkel gehüllt.
Auch in Delphi, von wo ihn der Siegeszug der Dorier in den Peloponnes
mitnahm, scheint er nicht ursprünglich zu sein; und alte Kulte im Bereich des
ionischen Volksstammes zeigen, daß er auch dort seit alter Zeit Verehrung
genoß. Es gilt von Apollon in hervorragendem Maße, was auch von manchem
andern der großen Götter der Hellenen gilt: sie sind erst allmählich zu der
Große, zu dem Range emporgewachsen, die sie in klassischer Zeit behaupteten,
aber die älteste Form und Bedeutung ihrer Verehrung läßt sich nicht mehr
feststellen. Es würde hier zu weit führen, zu zeigen, wie die Apollonreligion
erst allmählich, Schritt für Schritt zu ihrer spätern umfassenden Bedeutung
kam und viele ältere Kulte aufsog. Dennoch bleibt Müllers Werk der erste
großartige Versuch, in das innere Wesen der Apollonreligion einzudringen.

Neben Apollon, dem dorischen Gott, steht für Müller Herakles, der
dorische Held. Noch neuerdings ist dieser dorische Gottmensch, wie ihn Müller
darstellt, mit den Mitteln einer hervorragenden Gelehrsamkeit durchgeführt
worden in einer Weise, daß der Widerspruch zunächst verstummen mußte.
Dennoch muß auch diese These als uoch nicht vollständig bewiesen gelten, und
es giebt Bedenken dagegen, die sich nicht so leicht aus der Welt schaffe" lassen.
Aber das stolze Bild des echten Doriertums, das Otfried Müller entrollt,
bleibt bei alledem bestehen, es ist mit seinem Namen auf alle Zeiten verknüpft.

Daß Müller noch weitere griechische Stämme in ähnlicher Weise zu be¬
handeln beabsichtigte, ist wahrscheinlich; zunächst verfaßte er zum Schutze seiner


Uarl Vtfried Müller

die große Leistung verkleinern zu wollen, die besonders als Zusammenweben
von Einzelzügen zu einem gewaltigen Gesamtbilde ergreift, tritt man doch dem
Andenken des Verfassers nicht zu nahe, wenn man einige seiner Ergebnisse als
von der neuern Forschung überholt bezeichnet. Er sucht den Stamm der
Dorier von kleinen Anfängen bis zu der großartigen Ausbreitung zu verfolgen,
die er in geschichtlicher Zeit gewann, und die Einheitlichkeit des Charakters,
das unabänderliche Festhalten an denselben Idealen nachzuweisen. Auf dem
Gebiete der Religion sind ihm da Apollon und Herakles die Sinnbilder des
echten Doriertums. Apollon ist ihm der spezifisch dorische Gott, überall von
den Doriern verehrt, ihr Stammesgott, und als solcher später zu allgemeiner
Bedeutung ausgebildet. Aber freilich, so bewunderungswürdig diese An¬
schauung ist, die unter dem einen Gesichtspunkt alle erreichbaren Zeugnisse
zusammenfaßt, so kann doch nicht verschwiegen werden, daß dieses Bild der
Apollonreligion nicht das richtige ist. Apollon ist nicht ein ursprünglich
dorischer Gott; wir können sogar verfolgen, wie er erst im Verlauf der Ge¬
schichte dazu geworden ist. Wie sich der Name des Gottes, der hehrsten Er¬
scheinung der ganzen griechischen Götterwelt, noch bis heute einer sichern
Deutung entzieht, so sind anch die Ursprünge seiner Religion noch immer
dunkel. Wo man zuerst in urältester Zeit mit dem Namen Apollon den
Begriff der Gottheit verband, das ist für uns noch heute in Dunkel gehüllt.
Auch in Delphi, von wo ihn der Siegeszug der Dorier in den Peloponnes
mitnahm, scheint er nicht ursprünglich zu sein; und alte Kulte im Bereich des
ionischen Volksstammes zeigen, daß er auch dort seit alter Zeit Verehrung
genoß. Es gilt von Apollon in hervorragendem Maße, was auch von manchem
andern der großen Götter der Hellenen gilt: sie sind erst allmählich zu der
Große, zu dem Range emporgewachsen, die sie in klassischer Zeit behaupteten,
aber die älteste Form und Bedeutung ihrer Verehrung läßt sich nicht mehr
feststellen. Es würde hier zu weit führen, zu zeigen, wie die Apollonreligion
erst allmählich, Schritt für Schritt zu ihrer spätern umfassenden Bedeutung
kam und viele ältere Kulte aufsog. Dennoch bleibt Müllers Werk der erste
großartige Versuch, in das innere Wesen der Apollonreligion einzudringen.

Neben Apollon, dem dorischen Gott, steht für Müller Herakles, der
dorische Held. Noch neuerdings ist dieser dorische Gottmensch, wie ihn Müller
darstellt, mit den Mitteln einer hervorragenden Gelehrsamkeit durchgeführt
worden in einer Weise, daß der Widerspruch zunächst verstummen mußte.
Dennoch muß auch diese These als uoch nicht vollständig bewiesen gelten, und
es giebt Bedenken dagegen, die sich nicht so leicht aus der Welt schaffe» lassen.
Aber das stolze Bild des echten Doriertums, das Otfried Müller entrollt,
bleibt bei alledem bestehen, es ist mit seinem Namen auf alle Zeiten verknüpft.

Daß Müller noch weitere griechische Stämme in ähnlicher Weise zu be¬
handeln beabsichtigte, ist wahrscheinlich; zunächst verfaßte er zum Schutze seiner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/381>, abgerufen am 24.07.2024.