Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Volk und Jugend

das regelmäßige Menschenleib oder eine Krisis natürlichen Menschenglücks ein¬
kehren sieht, den Tod eines einzigen Kindes, die Mutterschmerzen oder das
Mutterglück einer hohen Frau, ängstigende und zehrende Krankheit eines statt¬
lichen Mannes, dann blickt es, wenn es seine Gutartigkeit bewahrt hat, gerührt
darauf hin, es findet die Verbindung hergestellt, die sonst seinem Gefühle fehlen
würde.

Aber es ist nicht bloß jene fremde, jenseitige Lebensregion der Höher¬
stehenden, die sich dem eigentlichen Verständnis verschließt. Unverständlich
bleiben dem Volke wie der Jngend überhaupt eigentliche, entwickelte Persönlich¬
keiten in ihrer Organisation, in dem Zusammenhang ihrer Eigenschaften, denn
man muß eben selbst Persönlichkeit sein, um dies Verständnis für andre zu
haben. So bleibt beim Volke, wie die Gesichtspunkte für die Beurteilung
der Dinge überhaupt wenig zahlreich sind, auch die Einteilung menschlicher
Eigenschaften oder Handlungen höchst einfach; wohl reicht das Gefühl oft
weiter, viel weiter mit seiner Unterscheidung, aber die bewußte Einordnung
und sprachliche Bezeichnung ist auf wenige Rubriken beschränkt. Gut und
böse, das stellt lange Zeit die Einteilung bei den Kindern dar, "lieb" und
"garstig" (oder wie sonst der Ausdruck der Kinderstube je nach Gegend und
Mundart lautet) sällt in eine noch frühere Lebenszeit. Und beim Volke steht
das einfache Adjektiv "schlecht" den Bezeichnungen wie brav, ordentlich, ehrlich
gegenüber, wobei übrigens der Tadel weit häufiger in den Mund genommen
wird als das Lob, denn erst die Abweichung von der Ordnung wird ins
Bewußtsein gefaßt; man kommt auf die Eigenschaften der Menschen erst zu
sprechen, wenn sie einem gefährlich werden oder geworden sind, theoretisch ist
die Beurteilung überhaupt nicht. Wo aber immer nur eine Eigenschaft em¬
pfunden und aufgefaßt und die Persönlichkeit mit dieser Eigenschaft erschöpft
wird, da ist es dann natürlich, daß das Urteil über die Person oder die Em¬
pfindung ihr gegenüber auch rasch wechselt, je nach dem ein gewinnender oder ein
abstoßender, ein willkommner oder ein unbequemer Zug zum Vorschein kommt.
Daß man diese Eindrücke auch höchst rückhaltlos in Worte kleidet, wurde schon
berührt; nicht bloß von je zwei jungen Schwestern bezeichnet die eine ohne
großen Anlaß die andre als eine falsche Katze, oder der Bruder den Bruder
als einen Erzlügner, die Schwester als ein Schaf, auch im Volke ist man be¬
kanntlich rasch damit bei der Hand, seinen Nächsten für grundschlecht zu er¬
klären, wenn er den eignen Wünschen in die Quere kommt oder im einzelnen
Falle in einem zweifellosen Unrecht erfunden worden ist- Man ist dann immer
gleich erstaunt, daß die Menschen so schlecht sein können! Man fühlt sich in
der Enge des Lebens gewissermaßen immer in Verteidigung der eignen Person
gegen die Mitmenschen, trotz aller guten Kameradschaft oder Gevatterschaft, der
Umschlag erfolgt jeden Augenblick mit Leichtigkeit, weil sich eben nicht ent¬
wickelte Personen gegenübertreten, nicht wirklich persönliche Freundschaften


Volk und Jugend

das regelmäßige Menschenleib oder eine Krisis natürlichen Menschenglücks ein¬
kehren sieht, den Tod eines einzigen Kindes, die Mutterschmerzen oder das
Mutterglück einer hohen Frau, ängstigende und zehrende Krankheit eines statt¬
lichen Mannes, dann blickt es, wenn es seine Gutartigkeit bewahrt hat, gerührt
darauf hin, es findet die Verbindung hergestellt, die sonst seinem Gefühle fehlen
würde.

Aber es ist nicht bloß jene fremde, jenseitige Lebensregion der Höher¬
stehenden, die sich dem eigentlichen Verständnis verschließt. Unverständlich
bleiben dem Volke wie der Jngend überhaupt eigentliche, entwickelte Persönlich¬
keiten in ihrer Organisation, in dem Zusammenhang ihrer Eigenschaften, denn
man muß eben selbst Persönlichkeit sein, um dies Verständnis für andre zu
haben. So bleibt beim Volke, wie die Gesichtspunkte für die Beurteilung
der Dinge überhaupt wenig zahlreich sind, auch die Einteilung menschlicher
Eigenschaften oder Handlungen höchst einfach; wohl reicht das Gefühl oft
weiter, viel weiter mit seiner Unterscheidung, aber die bewußte Einordnung
und sprachliche Bezeichnung ist auf wenige Rubriken beschränkt. Gut und
böse, das stellt lange Zeit die Einteilung bei den Kindern dar, „lieb" und
„garstig" (oder wie sonst der Ausdruck der Kinderstube je nach Gegend und
Mundart lautet) sällt in eine noch frühere Lebenszeit. Und beim Volke steht
das einfache Adjektiv „schlecht" den Bezeichnungen wie brav, ordentlich, ehrlich
gegenüber, wobei übrigens der Tadel weit häufiger in den Mund genommen
wird als das Lob, denn erst die Abweichung von der Ordnung wird ins
Bewußtsein gefaßt; man kommt auf die Eigenschaften der Menschen erst zu
sprechen, wenn sie einem gefährlich werden oder geworden sind, theoretisch ist
die Beurteilung überhaupt nicht. Wo aber immer nur eine Eigenschaft em¬
pfunden und aufgefaßt und die Persönlichkeit mit dieser Eigenschaft erschöpft
wird, da ist es dann natürlich, daß das Urteil über die Person oder die Em¬
pfindung ihr gegenüber auch rasch wechselt, je nach dem ein gewinnender oder ein
abstoßender, ein willkommner oder ein unbequemer Zug zum Vorschein kommt.
Daß man diese Eindrücke auch höchst rückhaltlos in Worte kleidet, wurde schon
berührt; nicht bloß von je zwei jungen Schwestern bezeichnet die eine ohne
großen Anlaß die andre als eine falsche Katze, oder der Bruder den Bruder
als einen Erzlügner, die Schwester als ein Schaf, auch im Volke ist man be¬
kanntlich rasch damit bei der Hand, seinen Nächsten für grundschlecht zu er¬
klären, wenn er den eignen Wünschen in die Quere kommt oder im einzelnen
Falle in einem zweifellosen Unrecht erfunden worden ist- Man ist dann immer
gleich erstaunt, daß die Menschen so schlecht sein können! Man fühlt sich in
der Enge des Lebens gewissermaßen immer in Verteidigung der eignen Person
gegen die Mitmenschen, trotz aller guten Kameradschaft oder Gevatterschaft, der
Umschlag erfolgt jeden Augenblick mit Leichtigkeit, weil sich eben nicht ent¬
wickelte Personen gegenübertreten, nicht wirklich persönliche Freundschaften


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0373" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225959"/>
          <fw type="header" place="top"> Volk und Jugend</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_930" prev="#ID_929"> das regelmäßige Menschenleib oder eine Krisis natürlichen Menschenglücks ein¬<lb/>
kehren sieht, den Tod eines einzigen Kindes, die Mutterschmerzen oder das<lb/>
Mutterglück einer hohen Frau, ängstigende und zehrende Krankheit eines statt¬<lb/>
lichen Mannes, dann blickt es, wenn es seine Gutartigkeit bewahrt hat, gerührt<lb/>
darauf hin, es findet die Verbindung hergestellt, die sonst seinem Gefühle fehlen<lb/>
würde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_931" next="#ID_932"> Aber es ist nicht bloß jene fremde, jenseitige Lebensregion der Höher¬<lb/>
stehenden, die sich dem eigentlichen Verständnis verschließt. Unverständlich<lb/>
bleiben dem Volke wie der Jngend überhaupt eigentliche, entwickelte Persönlich¬<lb/>
keiten in ihrer Organisation, in dem Zusammenhang ihrer Eigenschaften, denn<lb/>
man muß eben selbst Persönlichkeit sein, um dies Verständnis für andre zu<lb/>
haben. So bleibt beim Volke, wie die Gesichtspunkte für die Beurteilung<lb/>
der Dinge überhaupt wenig zahlreich sind, auch die Einteilung menschlicher<lb/>
Eigenschaften oder Handlungen höchst einfach; wohl reicht das Gefühl oft<lb/>
weiter, viel weiter mit seiner Unterscheidung, aber die bewußte Einordnung<lb/>
und sprachliche Bezeichnung ist auf wenige Rubriken beschränkt. Gut und<lb/>
böse, das stellt lange Zeit die Einteilung bei den Kindern dar, &#x201E;lieb" und<lb/>
&#x201E;garstig" (oder wie sonst der Ausdruck der Kinderstube je nach Gegend und<lb/>
Mundart lautet) sällt in eine noch frühere Lebenszeit. Und beim Volke steht<lb/>
das einfache Adjektiv &#x201E;schlecht" den Bezeichnungen wie brav, ordentlich, ehrlich<lb/>
gegenüber, wobei übrigens der Tadel weit häufiger in den Mund genommen<lb/>
wird als das Lob, denn erst die Abweichung von der Ordnung wird ins<lb/>
Bewußtsein gefaßt; man kommt auf die Eigenschaften der Menschen erst zu<lb/>
sprechen, wenn sie einem gefährlich werden oder geworden sind, theoretisch ist<lb/>
die Beurteilung überhaupt nicht. Wo aber immer nur eine Eigenschaft em¬<lb/>
pfunden und aufgefaßt und die Persönlichkeit mit dieser Eigenschaft erschöpft<lb/>
wird, da ist es dann natürlich, daß das Urteil über die Person oder die Em¬<lb/>
pfindung ihr gegenüber auch rasch wechselt, je nach dem ein gewinnender oder ein<lb/>
abstoßender, ein willkommner oder ein unbequemer Zug zum Vorschein kommt.<lb/>
Daß man diese Eindrücke auch höchst rückhaltlos in Worte kleidet, wurde schon<lb/>
berührt; nicht bloß von je zwei jungen Schwestern bezeichnet die eine ohne<lb/>
großen Anlaß die andre als eine falsche Katze, oder der Bruder den Bruder<lb/>
als einen Erzlügner, die Schwester als ein Schaf, auch im Volke ist man be¬<lb/>
kanntlich rasch damit bei der Hand, seinen Nächsten für grundschlecht zu er¬<lb/>
klären, wenn er den eignen Wünschen in die Quere kommt oder im einzelnen<lb/>
Falle in einem zweifellosen Unrecht erfunden worden ist- Man ist dann immer<lb/>
gleich erstaunt, daß die Menschen so schlecht sein können! Man fühlt sich in<lb/>
der Enge des Lebens gewissermaßen immer in Verteidigung der eignen Person<lb/>
gegen die Mitmenschen, trotz aller guten Kameradschaft oder Gevatterschaft, der<lb/>
Umschlag erfolgt jeden Augenblick mit Leichtigkeit, weil sich eben nicht ent¬<lb/>
wickelte Personen gegenübertreten, nicht wirklich persönliche Freundschaften</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0373] Volk und Jugend das regelmäßige Menschenleib oder eine Krisis natürlichen Menschenglücks ein¬ kehren sieht, den Tod eines einzigen Kindes, die Mutterschmerzen oder das Mutterglück einer hohen Frau, ängstigende und zehrende Krankheit eines statt¬ lichen Mannes, dann blickt es, wenn es seine Gutartigkeit bewahrt hat, gerührt darauf hin, es findet die Verbindung hergestellt, die sonst seinem Gefühle fehlen würde. Aber es ist nicht bloß jene fremde, jenseitige Lebensregion der Höher¬ stehenden, die sich dem eigentlichen Verständnis verschließt. Unverständlich bleiben dem Volke wie der Jngend überhaupt eigentliche, entwickelte Persönlich¬ keiten in ihrer Organisation, in dem Zusammenhang ihrer Eigenschaften, denn man muß eben selbst Persönlichkeit sein, um dies Verständnis für andre zu haben. So bleibt beim Volke, wie die Gesichtspunkte für die Beurteilung der Dinge überhaupt wenig zahlreich sind, auch die Einteilung menschlicher Eigenschaften oder Handlungen höchst einfach; wohl reicht das Gefühl oft weiter, viel weiter mit seiner Unterscheidung, aber die bewußte Einordnung und sprachliche Bezeichnung ist auf wenige Rubriken beschränkt. Gut und böse, das stellt lange Zeit die Einteilung bei den Kindern dar, „lieb" und „garstig" (oder wie sonst der Ausdruck der Kinderstube je nach Gegend und Mundart lautet) sällt in eine noch frühere Lebenszeit. Und beim Volke steht das einfache Adjektiv „schlecht" den Bezeichnungen wie brav, ordentlich, ehrlich gegenüber, wobei übrigens der Tadel weit häufiger in den Mund genommen wird als das Lob, denn erst die Abweichung von der Ordnung wird ins Bewußtsein gefaßt; man kommt auf die Eigenschaften der Menschen erst zu sprechen, wenn sie einem gefährlich werden oder geworden sind, theoretisch ist die Beurteilung überhaupt nicht. Wo aber immer nur eine Eigenschaft em¬ pfunden und aufgefaßt und die Persönlichkeit mit dieser Eigenschaft erschöpft wird, da ist es dann natürlich, daß das Urteil über die Person oder die Em¬ pfindung ihr gegenüber auch rasch wechselt, je nach dem ein gewinnender oder ein abstoßender, ein willkommner oder ein unbequemer Zug zum Vorschein kommt. Daß man diese Eindrücke auch höchst rückhaltlos in Worte kleidet, wurde schon berührt; nicht bloß von je zwei jungen Schwestern bezeichnet die eine ohne großen Anlaß die andre als eine falsche Katze, oder der Bruder den Bruder als einen Erzlügner, die Schwester als ein Schaf, auch im Volke ist man be¬ kanntlich rasch damit bei der Hand, seinen Nächsten für grundschlecht zu er¬ klären, wenn er den eignen Wünschen in die Quere kommt oder im einzelnen Falle in einem zweifellosen Unrecht erfunden worden ist- Man ist dann immer gleich erstaunt, daß die Menschen so schlecht sein können! Man fühlt sich in der Enge des Lebens gewissermaßen immer in Verteidigung der eignen Person gegen die Mitmenschen, trotz aller guten Kameradschaft oder Gevatterschaft, der Umschlag erfolgt jeden Augenblick mit Leichtigkeit, weil sich eben nicht ent¬ wickelte Personen gegenübertreten, nicht wirklich persönliche Freundschaften

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/373
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/373>, abgerufen am 24.07.2024.