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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

unserm eigentlichen, wirklichen Leben und Erleben quellen, sondern die uns
mit der Illusion des Spiels beherrschen. Wir denken daran freilich kaum
noch, wenn wir vom Schauspiel (englisch einfach xlli^) reden oder von dem
Klavierspiel. Übrigens spielen wir in der That sogar selbst mit, indem wir
im Zuhörerraum sitzen; wir lassen uns nicht bloß Vorspielen, sondern mit uns
spielen, wir sind an dem, was sich abspielt, entschieden beteiligt. Diese höchste
Art des Spiels fehlt dem Volke, wie auch der Jugend; nur ausnahmsweise
dringt etwas aus diesem Gebiet in ihren Lebenskreis, aber es wirkt dann doch
nicht harmonisch erfassend und emporhebend, es wirkt für die Sinne (von der
Schaulust des Volkes war schon die Rede) und für die Gefühle des Staunens,
des Mitleids, des Abscheus. Und das ist dann wieder im wesentlichen gleich bei
der Jugend und dem Volke -- wenigstens wenn wir die erwachsene und
schon früh ästhetisch durchtränkte Jugend der obern Stände, vor allem der
großen Städte, ausnehmen.

Beim Spiel ist es auch, wo sich die Jugend selbst am echtesten "darstellt,"
dem Auge des Beobachters am deutlichsten ihre charakteristischen Eigenschaften
bietet. Es muß freilich nicht nur an - das wilde, jagende, aufgeregte Spiel
der halbwüchsigen Knaben oder der umherspringenden Mädchen gedacht werden,
sondern an das stille, sinnigere Spiel der Kinderstube. Und wer ein wenig
Von dem Auge des Malers hat," der wird finden, daß die spielende Kinderwelt
immer schön, immer anmutig ist; diesem Alter ist gegeben, daß seine Anmut
unverwüstlich ist, daß kein Kollern oder Kriechen oder Rennen, Lungern
oder Schaukeln ihm die natürliche Wohlgestalt der Linien raubt. Und etwas
ähnliches kann doch auch vom Volke gelten, wenn wir freilich eine wesentliche
Änderung machen, wenn wir statt Spiel einsetzen: Arbeit. Beobachtet in ihrer
echten und rechten Bethätigung, stellen sich die Menschen aus dem Volke dem
Auge fast immer wohlthuend dar: sei es das lehrende Hausmädchen oder der
hämmernde Schmied, der Schiffer im Boot, der Sciemann oder der Schnitter
im Feld, der Mann am Sägebock, die Wäscherin am Waschfaß oder wer sonst,
und selbst den nadelhebenden magern Schneider auf seinem Tische und den
Schuster "bei seinem Leisten" würde ich nicht ausschließen, ganz zu schweigen
von der Poesie der Spinnerin am Rade (wenn es die noch giebt), oder des
Gebirgsjägers auf dem Beutegang. Auch bei seinen Festen sieht man das Volk
gern, in seinem Gewimmel und seiner unbefangnen Fröhlichkeit und seinem
bunten Putz -- soweit dergleichen noch da ist und nicht durch triviale Genu߬
begierde und mißlingende städtische Formen ersetzt ist. Im steifen, halb oder
ganz städtischen Sonntagsstaat verzichtet das Volk auf seine natürlichen Vor¬
teile und wirkt oft nicht viel besser als in ihrer Art die Kinder, wenn sie
sich einmal Vaters Hut und Stock zulegen oder der Großmutter Haube und
Brille aufsetzen.

Dieser letzte Seitenblick veranlaßt uns einen Augenblick bei dem Nach-


Volk und Jugend

unserm eigentlichen, wirklichen Leben und Erleben quellen, sondern die uns
mit der Illusion des Spiels beherrschen. Wir denken daran freilich kaum
noch, wenn wir vom Schauspiel (englisch einfach xlli^) reden oder von dem
Klavierspiel. Übrigens spielen wir in der That sogar selbst mit, indem wir
im Zuhörerraum sitzen; wir lassen uns nicht bloß Vorspielen, sondern mit uns
spielen, wir sind an dem, was sich abspielt, entschieden beteiligt. Diese höchste
Art des Spiels fehlt dem Volke, wie auch der Jugend; nur ausnahmsweise
dringt etwas aus diesem Gebiet in ihren Lebenskreis, aber es wirkt dann doch
nicht harmonisch erfassend und emporhebend, es wirkt für die Sinne (von der
Schaulust des Volkes war schon die Rede) und für die Gefühle des Staunens,
des Mitleids, des Abscheus. Und das ist dann wieder im wesentlichen gleich bei
der Jugend und dem Volke — wenigstens wenn wir die erwachsene und
schon früh ästhetisch durchtränkte Jugend der obern Stände, vor allem der
großen Städte, ausnehmen.

Beim Spiel ist es auch, wo sich die Jugend selbst am echtesten „darstellt,"
dem Auge des Beobachters am deutlichsten ihre charakteristischen Eigenschaften
bietet. Es muß freilich nicht nur an - das wilde, jagende, aufgeregte Spiel
der halbwüchsigen Knaben oder der umherspringenden Mädchen gedacht werden,
sondern an das stille, sinnigere Spiel der Kinderstube. Und wer ein wenig
Von dem Auge des Malers hat," der wird finden, daß die spielende Kinderwelt
immer schön, immer anmutig ist; diesem Alter ist gegeben, daß seine Anmut
unverwüstlich ist, daß kein Kollern oder Kriechen oder Rennen, Lungern
oder Schaukeln ihm die natürliche Wohlgestalt der Linien raubt. Und etwas
ähnliches kann doch auch vom Volke gelten, wenn wir freilich eine wesentliche
Änderung machen, wenn wir statt Spiel einsetzen: Arbeit. Beobachtet in ihrer
echten und rechten Bethätigung, stellen sich die Menschen aus dem Volke dem
Auge fast immer wohlthuend dar: sei es das lehrende Hausmädchen oder der
hämmernde Schmied, der Schiffer im Boot, der Sciemann oder der Schnitter
im Feld, der Mann am Sägebock, die Wäscherin am Waschfaß oder wer sonst,
und selbst den nadelhebenden magern Schneider auf seinem Tische und den
Schuster „bei seinem Leisten" würde ich nicht ausschließen, ganz zu schweigen
von der Poesie der Spinnerin am Rade (wenn es die noch giebt), oder des
Gebirgsjägers auf dem Beutegang. Auch bei seinen Festen sieht man das Volk
gern, in seinem Gewimmel und seiner unbefangnen Fröhlichkeit und seinem
bunten Putz — soweit dergleichen noch da ist und nicht durch triviale Genu߬
begierde und mißlingende städtische Formen ersetzt ist. Im steifen, halb oder
ganz städtischen Sonntagsstaat verzichtet das Volk auf seine natürlichen Vor¬
teile und wirkt oft nicht viel besser als in ihrer Art die Kinder, wenn sie
sich einmal Vaters Hut und Stock zulegen oder der Großmutter Haube und
Brille aufsetzen.

Dieser letzte Seitenblick veranlaßt uns einen Augenblick bei dem Nach-


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[0371] Volk und Jugend unserm eigentlichen, wirklichen Leben und Erleben quellen, sondern die uns mit der Illusion des Spiels beherrschen. Wir denken daran freilich kaum noch, wenn wir vom Schauspiel (englisch einfach xlli^) reden oder von dem Klavierspiel. Übrigens spielen wir in der That sogar selbst mit, indem wir im Zuhörerraum sitzen; wir lassen uns nicht bloß Vorspielen, sondern mit uns spielen, wir sind an dem, was sich abspielt, entschieden beteiligt. Diese höchste Art des Spiels fehlt dem Volke, wie auch der Jugend; nur ausnahmsweise dringt etwas aus diesem Gebiet in ihren Lebenskreis, aber es wirkt dann doch nicht harmonisch erfassend und emporhebend, es wirkt für die Sinne (von der Schaulust des Volkes war schon die Rede) und für die Gefühle des Staunens, des Mitleids, des Abscheus. Und das ist dann wieder im wesentlichen gleich bei der Jugend und dem Volke — wenigstens wenn wir die erwachsene und schon früh ästhetisch durchtränkte Jugend der obern Stände, vor allem der großen Städte, ausnehmen. Beim Spiel ist es auch, wo sich die Jugend selbst am echtesten „darstellt," dem Auge des Beobachters am deutlichsten ihre charakteristischen Eigenschaften bietet. Es muß freilich nicht nur an - das wilde, jagende, aufgeregte Spiel der halbwüchsigen Knaben oder der umherspringenden Mädchen gedacht werden, sondern an das stille, sinnigere Spiel der Kinderstube. Und wer ein wenig Von dem Auge des Malers hat," der wird finden, daß die spielende Kinderwelt immer schön, immer anmutig ist; diesem Alter ist gegeben, daß seine Anmut unverwüstlich ist, daß kein Kollern oder Kriechen oder Rennen, Lungern oder Schaukeln ihm die natürliche Wohlgestalt der Linien raubt. Und etwas ähnliches kann doch auch vom Volke gelten, wenn wir freilich eine wesentliche Änderung machen, wenn wir statt Spiel einsetzen: Arbeit. Beobachtet in ihrer echten und rechten Bethätigung, stellen sich die Menschen aus dem Volke dem Auge fast immer wohlthuend dar: sei es das lehrende Hausmädchen oder der hämmernde Schmied, der Schiffer im Boot, der Sciemann oder der Schnitter im Feld, der Mann am Sägebock, die Wäscherin am Waschfaß oder wer sonst, und selbst den nadelhebenden magern Schneider auf seinem Tische und den Schuster „bei seinem Leisten" würde ich nicht ausschließen, ganz zu schweigen von der Poesie der Spinnerin am Rade (wenn es die noch giebt), oder des Gebirgsjägers auf dem Beutegang. Auch bei seinen Festen sieht man das Volk gern, in seinem Gewimmel und seiner unbefangnen Fröhlichkeit und seinem bunten Putz — soweit dergleichen noch da ist und nicht durch triviale Genu߬ begierde und mißlingende städtische Formen ersetzt ist. Im steifen, halb oder ganz städtischen Sonntagsstaat verzichtet das Volk auf seine natürlichen Vor¬ teile und wirkt oft nicht viel besser als in ihrer Art die Kinder, wenn sie sich einmal Vaters Hut und Stock zulegen oder der Großmutter Haube und Brille aufsetzen. Dieser letzte Seitenblick veranlaßt uns einen Augenblick bei dem Nach-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/371>, abgerufen am 24.07.2024.