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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

fröhlich mit dreinschauen, sich am Scherz beteiligen und die allgemeinen Ge¬
nüsse infolge eines Sieges jener Gesamtstimmung über die persönliche Lage,
wenn auch mehr platonisch, mit durchkosten. In feinerer und vollerer Weise
deutet man die Gleichartigkeit und Gemeinsamkeit und den durchgehenden Zu¬
sammenhang der Empfindungen mit dem gegenwärtig so gern gebrauchten
Wort "Volksseele" an, man denkt dabei an einen besonders sichern und klaren
Bestand von Gefühlen und Strebungen, vielleicht auch an eine besondre Zart¬
heit und Empfindlichkeit dieser Gefühle und an Tiefgründigkeit bei großer
Durchsichtigkeit -- im Unterschied von der so viel unsteter" und undurch¬
sichtigem, vom Mannichfaltigsten und auch Widersprechendsten durchströmte",
unberechenbaren Seele des Einzelnen und namentlich des der echten Volkssphäre
Entwachsenen. Und damit wäre denn die Volksseele wieder der Kinderseele
ähnlich, der man genau dieselben Eigenschaften -- einen besonders klaren Be¬
stand von Empfindungen, Zartheit und empfindliche Beweglichkeit, Ursprüng¬
lichkeit und Durchsichtigkeit -- zuschreiben kann. Natürlich versagt die Analogie
insofern, als für das Volk die Überlieferung eine fast unwiderstehlich bestimmende
und beschränkende Macht -- auch für die Art zu fühlen und zu sehen -- ist,
die Überlieferung, die die nachwachsenden mit den Ehemaligen verbindet und
das Volk auch durch die Räume der Zeiten hindurch als einheitliches zu¬
sammenhält. Freilich ist die Gleichartigkeit des jugendlichen Seelenlebens
innerhalb der sich folgenden Geschlechter noch auf viel festere Weise gesichert,
nämlich dnrch Gesetze der Natur, da die Jugend ja eben der schaffenden und
bestimmenden Natur um so viel näher ist.

Dieses Walten der ursprünglichen Natur zeigt sich uun im jugendlichen
Alter namentlich noch in der Stärke der unmittelbaren und augenblicklichen
innern Antriebe, die einen der Grundzüge des kindlich-jugendlichen Menschen
bilden. Es sind die ersten, die ursprünglichsten, die niedersten Äußerungen
eines Willens, diese Antriebe. Und sie sind darum nicht etwa schwächer als
die Willensregungen der spätern Entwicklungsstufen. Im Gegenteil: schwäch¬
liche Anläufe gehören spätern Jahren und kultivirtern Stufen an, wo der
Wille gezähmt ist und koutrollirt und niedergehalten wird von Erwägung,
Erfahrung, Gewöhnung. In der Jugend kommt das eigne Wollen, der
Wunsch, die Begierde plötzlich über den Menschen, erfüllt ihn ganz, reißt ihn
sort, nichts hat neben ihm in der Seele Raum -- das Glück des Augenblicks
hängt ganz an der Erfüllung. Jede Berührung mit Kindern der frühen
Lebensjahre lehrt uns das kennen. Der zwei- bis dreijährige kleine Trotzkopf,
^er freilich als solcher bezeichnet und behandelt werden muß, der aus seinem
Wunsch und seinem Weinen nicht herauskann, der nun einmal nach links
laufen wollte, während ihn die Wärterin nach rechts führt, er ist damit eben
doch nur in hilfloser Abhängigkeit von seinem eignen Wunsch und Triebe.
Hier ist die Macht des Triebes'am deutlichsten. Aber sie durchzieht das ganze


Volk und Jugend

fröhlich mit dreinschauen, sich am Scherz beteiligen und die allgemeinen Ge¬
nüsse infolge eines Sieges jener Gesamtstimmung über die persönliche Lage,
wenn auch mehr platonisch, mit durchkosten. In feinerer und vollerer Weise
deutet man die Gleichartigkeit und Gemeinsamkeit und den durchgehenden Zu¬
sammenhang der Empfindungen mit dem gegenwärtig so gern gebrauchten
Wort „Volksseele" an, man denkt dabei an einen besonders sichern und klaren
Bestand von Gefühlen und Strebungen, vielleicht auch an eine besondre Zart¬
heit und Empfindlichkeit dieser Gefühle und an Tiefgründigkeit bei großer
Durchsichtigkeit — im Unterschied von der so viel unsteter» und undurch¬
sichtigem, vom Mannichfaltigsten und auch Widersprechendsten durchströmte»,
unberechenbaren Seele des Einzelnen und namentlich des der echten Volkssphäre
Entwachsenen. Und damit wäre denn die Volksseele wieder der Kinderseele
ähnlich, der man genau dieselben Eigenschaften — einen besonders klaren Be¬
stand von Empfindungen, Zartheit und empfindliche Beweglichkeit, Ursprüng¬
lichkeit und Durchsichtigkeit — zuschreiben kann. Natürlich versagt die Analogie
insofern, als für das Volk die Überlieferung eine fast unwiderstehlich bestimmende
und beschränkende Macht — auch für die Art zu fühlen und zu sehen — ist,
die Überlieferung, die die nachwachsenden mit den Ehemaligen verbindet und
das Volk auch durch die Räume der Zeiten hindurch als einheitliches zu¬
sammenhält. Freilich ist die Gleichartigkeit des jugendlichen Seelenlebens
innerhalb der sich folgenden Geschlechter noch auf viel festere Weise gesichert,
nämlich dnrch Gesetze der Natur, da die Jugend ja eben der schaffenden und
bestimmenden Natur um so viel näher ist.

Dieses Walten der ursprünglichen Natur zeigt sich uun im jugendlichen
Alter namentlich noch in der Stärke der unmittelbaren und augenblicklichen
innern Antriebe, die einen der Grundzüge des kindlich-jugendlichen Menschen
bilden. Es sind die ersten, die ursprünglichsten, die niedersten Äußerungen
eines Willens, diese Antriebe. Und sie sind darum nicht etwa schwächer als
die Willensregungen der spätern Entwicklungsstufen. Im Gegenteil: schwäch¬
liche Anläufe gehören spätern Jahren und kultivirtern Stufen an, wo der
Wille gezähmt ist und koutrollirt und niedergehalten wird von Erwägung,
Erfahrung, Gewöhnung. In der Jugend kommt das eigne Wollen, der
Wunsch, die Begierde plötzlich über den Menschen, erfüllt ihn ganz, reißt ihn
sort, nichts hat neben ihm in der Seele Raum — das Glück des Augenblicks
hängt ganz an der Erfüllung. Jede Berührung mit Kindern der frühen
Lebensjahre lehrt uns das kennen. Der zwei- bis dreijährige kleine Trotzkopf,
^er freilich als solcher bezeichnet und behandelt werden muß, der aus seinem
Wunsch und seinem Weinen nicht herauskann, der nun einmal nach links
laufen wollte, während ihn die Wärterin nach rechts führt, er ist damit eben
doch nur in hilfloser Abhängigkeit von seinem eignen Wunsch und Triebe.
Hier ist die Macht des Triebes'am deutlichsten. Aber sie durchzieht das ganze


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[0367] Volk und Jugend fröhlich mit dreinschauen, sich am Scherz beteiligen und die allgemeinen Ge¬ nüsse infolge eines Sieges jener Gesamtstimmung über die persönliche Lage, wenn auch mehr platonisch, mit durchkosten. In feinerer und vollerer Weise deutet man die Gleichartigkeit und Gemeinsamkeit und den durchgehenden Zu¬ sammenhang der Empfindungen mit dem gegenwärtig so gern gebrauchten Wort „Volksseele" an, man denkt dabei an einen besonders sichern und klaren Bestand von Gefühlen und Strebungen, vielleicht auch an eine besondre Zart¬ heit und Empfindlichkeit dieser Gefühle und an Tiefgründigkeit bei großer Durchsichtigkeit — im Unterschied von der so viel unsteter» und undurch¬ sichtigem, vom Mannichfaltigsten und auch Widersprechendsten durchströmte», unberechenbaren Seele des Einzelnen und namentlich des der echten Volkssphäre Entwachsenen. Und damit wäre denn die Volksseele wieder der Kinderseele ähnlich, der man genau dieselben Eigenschaften — einen besonders klaren Be¬ stand von Empfindungen, Zartheit und empfindliche Beweglichkeit, Ursprüng¬ lichkeit und Durchsichtigkeit — zuschreiben kann. Natürlich versagt die Analogie insofern, als für das Volk die Überlieferung eine fast unwiderstehlich bestimmende und beschränkende Macht — auch für die Art zu fühlen und zu sehen — ist, die Überlieferung, die die nachwachsenden mit den Ehemaligen verbindet und das Volk auch durch die Räume der Zeiten hindurch als einheitliches zu¬ sammenhält. Freilich ist die Gleichartigkeit des jugendlichen Seelenlebens innerhalb der sich folgenden Geschlechter noch auf viel festere Weise gesichert, nämlich dnrch Gesetze der Natur, da die Jugend ja eben der schaffenden und bestimmenden Natur um so viel näher ist. Dieses Walten der ursprünglichen Natur zeigt sich uun im jugendlichen Alter namentlich noch in der Stärke der unmittelbaren und augenblicklichen innern Antriebe, die einen der Grundzüge des kindlich-jugendlichen Menschen bilden. Es sind die ersten, die ursprünglichsten, die niedersten Äußerungen eines Willens, diese Antriebe. Und sie sind darum nicht etwa schwächer als die Willensregungen der spätern Entwicklungsstufen. Im Gegenteil: schwäch¬ liche Anläufe gehören spätern Jahren und kultivirtern Stufen an, wo der Wille gezähmt ist und koutrollirt und niedergehalten wird von Erwägung, Erfahrung, Gewöhnung. In der Jugend kommt das eigne Wollen, der Wunsch, die Begierde plötzlich über den Menschen, erfüllt ihn ganz, reißt ihn sort, nichts hat neben ihm in der Seele Raum — das Glück des Augenblicks hängt ganz an der Erfüllung. Jede Berührung mit Kindern der frühen Lebensjahre lehrt uns das kennen. Der zwei- bis dreijährige kleine Trotzkopf, ^er freilich als solcher bezeichnet und behandelt werden muß, der aus seinem Wunsch und seinem Weinen nicht herauskann, der nun einmal nach links laufen wollte, während ihn die Wärterin nach rechts führt, er ist damit eben doch nur in hilfloser Abhängigkeit von seinem eignen Wunsch und Triebe. Hier ist die Macht des Triebes'am deutlichsten. Aber sie durchzieht das ganze

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/367>, abgerufen am 24.07.2024.