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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

die Wucht der Masse drückt auf den Einzelnen; die Gemeinschaft, deren Leben
wir mit leben, bildet gewissermaßen eine zweite Körperlichkeit für uns, die uns
umschränkt und mit bestimmt. Da wo die Einzelnen weniger oder fast gar
nicht zu selbständiger Art durchgedrungen sind, gilt das Gesetz von der Wucht
und der Strömungskraft der Gesamtheit für den Einzelnen natürlich um so
mehr. Also wiederum für das Volk und für die Jugend.

Was die Jugend betrifft, so ist es ja allerdings nicht etwa die frühe
Kindheitsstufe, wo von dem Einfluß der Gemeinschaft viel die Rede fein
kann: das Kind entwickelt sich zunächst im Gegensatz zu seiner Umgebung, es
wird ein Ich gegenüber den andern, mit seinem naiven Egoismus, seinen
animalischen Trieben, und man begrüßt die werdende kleine Persönlichkeit auf den
einzelnen Stufen dieser ihrer Entwicklung mit Genugthuung. Aber bald wird
sür die junge Seele der Geschwisterkreis eine Macht, und weiterhin mehr und
mehr der Kreis der Spielgenossen. Nach dem ersten Anlauf der Besonderheit
wird man dann eine Zeit lang ausdrücklich Gemeinschaftsmensch, man löst sich
von der Familie los; nicht der gütige und verständige Wille der Eltern oder
der sonstigen Erzieher wirkt dann als die stärkste Macht, sondern die An¬
schauungsweise der Alters- und Spielgenossen. "Alle Jungen" oder -- bei
Mädchen -- "alle Kinder" sagen oder machen es so: das bedeutet die mächtigste
Instanz (wie beim Volke das, was "alle Leute" thun oder sagen). Es ist,
als ob man die Rolle als Gemeinschaftsmensch zunächst durchgespielt haben
müßte, ehe man, um mit dem Dichter zu reden, "selber ein Ganzes werden"
kann, ehe man wirklicher und selbständiger Einzelmensch werden, und ehe
man als solcher späterhin in den bewußten Dienst des Ganzen, als ein orga¬
nisches Glied, zu treten vermag.

Die innere Abhängigkeit des Einzelnen von der Lebensgemeinschaft mit
seinesgleichen nehmen wir beinahe als selbstverständlich mit an, wo wir vom
Volke sprechen: sie bildet eben eins der Stücke, die das Volk als solches kenn¬
zeichnen. Nicht als ob es nicht auch dort, in der Nähe besehen, Unterschiede
der Einzelnen gäbe; sie mögen um so bestimmter oder doch starrer entwickelt
sein oder doch einander gegenübertreten und zusammenstoße", je weniger durch
Bildung gemildert die Leidenschaften, je weniger gemäßigt ihr Ausdruck ist, je
weniger der Einzelne durch Rücksicht auf seiue Stellung zum Ganzen beeinflußt
und gelenkt wird. Aber die Anschauungsweise ist darum doch im ganzen viel
gleichartiger und abhängiger, und auch die Empfindungsweise, sofern es nicht
rein Persönliches gilt. Man ist namentlich auch den Empfindungsströmuugen,
den zähen wie den stillen, mehr unterworfen, nimmt leicht an der allgemeinen
Angst teil, an der berechtigten oder unberechtigten allgemeinen Entrüstung, an
der öffentlichen Leidenschaft, an Abneigungen und Zuneigungen, auch an dem
allgemeinen Rausch, der Fröhlichkeit, der Illusion, wie denn zur Kirchweihzeit
selbst die Bettler nicht grollend zur Seite stehen, sondern verhältnismäßig


Volk und Jugend

die Wucht der Masse drückt auf den Einzelnen; die Gemeinschaft, deren Leben
wir mit leben, bildet gewissermaßen eine zweite Körperlichkeit für uns, die uns
umschränkt und mit bestimmt. Da wo die Einzelnen weniger oder fast gar
nicht zu selbständiger Art durchgedrungen sind, gilt das Gesetz von der Wucht
und der Strömungskraft der Gesamtheit für den Einzelnen natürlich um so
mehr. Also wiederum für das Volk und für die Jugend.

Was die Jugend betrifft, so ist es ja allerdings nicht etwa die frühe
Kindheitsstufe, wo von dem Einfluß der Gemeinschaft viel die Rede fein
kann: das Kind entwickelt sich zunächst im Gegensatz zu seiner Umgebung, es
wird ein Ich gegenüber den andern, mit seinem naiven Egoismus, seinen
animalischen Trieben, und man begrüßt die werdende kleine Persönlichkeit auf den
einzelnen Stufen dieser ihrer Entwicklung mit Genugthuung. Aber bald wird
sür die junge Seele der Geschwisterkreis eine Macht, und weiterhin mehr und
mehr der Kreis der Spielgenossen. Nach dem ersten Anlauf der Besonderheit
wird man dann eine Zeit lang ausdrücklich Gemeinschaftsmensch, man löst sich
von der Familie los; nicht der gütige und verständige Wille der Eltern oder
der sonstigen Erzieher wirkt dann als die stärkste Macht, sondern die An¬
schauungsweise der Alters- und Spielgenossen. „Alle Jungen" oder — bei
Mädchen — „alle Kinder" sagen oder machen es so: das bedeutet die mächtigste
Instanz (wie beim Volke das, was „alle Leute" thun oder sagen). Es ist,
als ob man die Rolle als Gemeinschaftsmensch zunächst durchgespielt haben
müßte, ehe man, um mit dem Dichter zu reden, „selber ein Ganzes werden"
kann, ehe man wirklicher und selbständiger Einzelmensch werden, und ehe
man als solcher späterhin in den bewußten Dienst des Ganzen, als ein orga¬
nisches Glied, zu treten vermag.

Die innere Abhängigkeit des Einzelnen von der Lebensgemeinschaft mit
seinesgleichen nehmen wir beinahe als selbstverständlich mit an, wo wir vom
Volke sprechen: sie bildet eben eins der Stücke, die das Volk als solches kenn¬
zeichnen. Nicht als ob es nicht auch dort, in der Nähe besehen, Unterschiede
der Einzelnen gäbe; sie mögen um so bestimmter oder doch starrer entwickelt
sein oder doch einander gegenübertreten und zusammenstoße», je weniger durch
Bildung gemildert die Leidenschaften, je weniger gemäßigt ihr Ausdruck ist, je
weniger der Einzelne durch Rücksicht auf seiue Stellung zum Ganzen beeinflußt
und gelenkt wird. Aber die Anschauungsweise ist darum doch im ganzen viel
gleichartiger und abhängiger, und auch die Empfindungsweise, sofern es nicht
rein Persönliches gilt. Man ist namentlich auch den Empfindungsströmuugen,
den zähen wie den stillen, mehr unterworfen, nimmt leicht an der allgemeinen
Angst teil, an der berechtigten oder unberechtigten allgemeinen Entrüstung, an
der öffentlichen Leidenschaft, an Abneigungen und Zuneigungen, auch an dem
allgemeinen Rausch, der Fröhlichkeit, der Illusion, wie denn zur Kirchweihzeit
selbst die Bettler nicht grollend zur Seite stehen, sondern verhältnismäßig


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[0366] Volk und Jugend die Wucht der Masse drückt auf den Einzelnen; die Gemeinschaft, deren Leben wir mit leben, bildet gewissermaßen eine zweite Körperlichkeit für uns, die uns umschränkt und mit bestimmt. Da wo die Einzelnen weniger oder fast gar nicht zu selbständiger Art durchgedrungen sind, gilt das Gesetz von der Wucht und der Strömungskraft der Gesamtheit für den Einzelnen natürlich um so mehr. Also wiederum für das Volk und für die Jugend. Was die Jugend betrifft, so ist es ja allerdings nicht etwa die frühe Kindheitsstufe, wo von dem Einfluß der Gemeinschaft viel die Rede fein kann: das Kind entwickelt sich zunächst im Gegensatz zu seiner Umgebung, es wird ein Ich gegenüber den andern, mit seinem naiven Egoismus, seinen animalischen Trieben, und man begrüßt die werdende kleine Persönlichkeit auf den einzelnen Stufen dieser ihrer Entwicklung mit Genugthuung. Aber bald wird sür die junge Seele der Geschwisterkreis eine Macht, und weiterhin mehr und mehr der Kreis der Spielgenossen. Nach dem ersten Anlauf der Besonderheit wird man dann eine Zeit lang ausdrücklich Gemeinschaftsmensch, man löst sich von der Familie los; nicht der gütige und verständige Wille der Eltern oder der sonstigen Erzieher wirkt dann als die stärkste Macht, sondern die An¬ schauungsweise der Alters- und Spielgenossen. „Alle Jungen" oder — bei Mädchen — „alle Kinder" sagen oder machen es so: das bedeutet die mächtigste Instanz (wie beim Volke das, was „alle Leute" thun oder sagen). Es ist, als ob man die Rolle als Gemeinschaftsmensch zunächst durchgespielt haben müßte, ehe man, um mit dem Dichter zu reden, „selber ein Ganzes werden" kann, ehe man wirklicher und selbständiger Einzelmensch werden, und ehe man als solcher späterhin in den bewußten Dienst des Ganzen, als ein orga¬ nisches Glied, zu treten vermag. Die innere Abhängigkeit des Einzelnen von der Lebensgemeinschaft mit seinesgleichen nehmen wir beinahe als selbstverständlich mit an, wo wir vom Volke sprechen: sie bildet eben eins der Stücke, die das Volk als solches kenn¬ zeichnen. Nicht als ob es nicht auch dort, in der Nähe besehen, Unterschiede der Einzelnen gäbe; sie mögen um so bestimmter oder doch starrer entwickelt sein oder doch einander gegenübertreten und zusammenstoße», je weniger durch Bildung gemildert die Leidenschaften, je weniger gemäßigt ihr Ausdruck ist, je weniger der Einzelne durch Rücksicht auf seiue Stellung zum Ganzen beeinflußt und gelenkt wird. Aber die Anschauungsweise ist darum doch im ganzen viel gleichartiger und abhängiger, und auch die Empfindungsweise, sofern es nicht rein Persönliches gilt. Man ist namentlich auch den Empfindungsströmuugen, den zähen wie den stillen, mehr unterworfen, nimmt leicht an der allgemeinen Angst teil, an der berechtigten oder unberechtigten allgemeinen Entrüstung, an der öffentlichen Leidenschaft, an Abneigungen und Zuneigungen, auch an dem allgemeinen Rausch, der Fröhlichkeit, der Illusion, wie denn zur Kirchweihzeit selbst die Bettler nicht grollend zur Seite stehen, sondern verhältnismäßig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/366>, abgerufen am 24.07.2024.