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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

Märchenwelt die jugendlichen Seelen in ihrem Zauber gefangen nimmt, ist die,
wo die wirkliche Welt aufgehört hat, durch neue Eindrücke immer wieder neue
Welten aufzuschließen, und wo andrerseits das junge Herz soviel von Liebe
und Angst und vom Unterschied von gut und böse empfunden hat, daß es die
Gestalten und Geschicke aus der Märchenwelt mit einer unvergleichlich vollen,
reinen Teilnahme begleitet. Später entwickelt sich -- ihrerseits wieder in
verschiednen Formen, Tönen und Abstufungen -- die Phantasie des Willens:
es ist die Periode, wo nach einander Mythologisch-Heroisches, dann Rüuber-
und Jndianergeschichten und Sceabenteuer, schließlich aber die Größe geschicht¬
licher oder dichterischer Gestalten die Seele füllen und anregen, sodaß sie
ihnen nicht bloß beschauend folgt, sondern mit ihnen lebt und strebt und will
und wagt.

Wird es auch des Volkes Sache sein, soviel vom jugendlichen Wesen zu
bewahren? Was die himmlische Gabe für die Kindheitsjahre, die leuchtende
Kraft für das Jünglingsalter ist, das muß eben doch und wird zergehen,
wenn diese Jahre selbst entschwinden, und den Einfachen und Armen am
Geist bleibt davon wahrlich nicht mehr, als den durch Bildungsreife Bevor¬
zugten. Oder böte dort doch die gaukelnde Phantasie einen Ersatz für die
von allen Seiten einengendem Schranken der Wirklichkeit? Nein, der heitere
Schmelz bewahrt sich nicht, und die beglückende Beweglichkeit erstarrt; was
bleibt, was an die Stelle tritt, ist nur ein gelegentliches, roheres Walten jener
Phantasie der Sinne, darein sich vielfach Gefühlsantriebe nicht der reinsten
Art mischen. Man schwelgt wohl in der Vorstellung von den maßlosen Ge¬
nüssen, die man sich in der jenseitigen Welt der Vornehmen gestatten könne
und gestatte, von den Haufen und Scheffeln von Gold, in denen man dort
wühle, von den ungemischten und gehäuften Freuden, die der Tag dort bringe.
Das tritt an die Stelle der harmlosen Kindervorstellungen vom Zauberreich
der Feen. Allerdings nährt man sich noch gern von Geschichten, deren Vor¬
gänge außerhalb des Zusammenhangs der engen Wirklichkeit liegen: die Ge¬
spenster treten an die Stelle der Feen und Niesen; von Hexen und Hexerei
hört man immer wieder gläubig, was sich die Leute zuraunen. Ein heiteres
Angesicht hat diese Dichtung (wenn wir den Namen gebrauchen wollen) selten,
sie läßt das Herz erbeben in dem Bewußtsein der dunkeln Abgründe, die das
Menschendasein umspielen. Daß übrigens auch sonst noch ein schöner Vorrat
von Volkserzählungen und Liedern vorhanden sei, wer will das leugnen, wenn
man auf das Ganze sieht, das Ganze durchforscht! Aber eine große Rolle
für das innere Leben des Volkes spielen zur Zeit diese Geschichten schwerlich
Mehr; auch für das Volk ist die Gegenwart nicht mehr unbewegt genug, das
Bedürfnis des ruhigen Hinausträumens nahe zu legen, und die Phantasie des
Herzens ergeht sich nicht weit, die Zeit ist ihr nicht eben günstig. Das Edelste,
was diese Phantasie des Herzens überhaupt schafft, ist ja das Lied, ist die


Volk und Jugend

Märchenwelt die jugendlichen Seelen in ihrem Zauber gefangen nimmt, ist die,
wo die wirkliche Welt aufgehört hat, durch neue Eindrücke immer wieder neue
Welten aufzuschließen, und wo andrerseits das junge Herz soviel von Liebe
und Angst und vom Unterschied von gut und böse empfunden hat, daß es die
Gestalten und Geschicke aus der Märchenwelt mit einer unvergleichlich vollen,
reinen Teilnahme begleitet. Später entwickelt sich — ihrerseits wieder in
verschiednen Formen, Tönen und Abstufungen — die Phantasie des Willens:
es ist die Periode, wo nach einander Mythologisch-Heroisches, dann Rüuber-
und Jndianergeschichten und Sceabenteuer, schließlich aber die Größe geschicht¬
licher oder dichterischer Gestalten die Seele füllen und anregen, sodaß sie
ihnen nicht bloß beschauend folgt, sondern mit ihnen lebt und strebt und will
und wagt.

Wird es auch des Volkes Sache sein, soviel vom jugendlichen Wesen zu
bewahren? Was die himmlische Gabe für die Kindheitsjahre, die leuchtende
Kraft für das Jünglingsalter ist, das muß eben doch und wird zergehen,
wenn diese Jahre selbst entschwinden, und den Einfachen und Armen am
Geist bleibt davon wahrlich nicht mehr, als den durch Bildungsreife Bevor¬
zugten. Oder böte dort doch die gaukelnde Phantasie einen Ersatz für die
von allen Seiten einengendem Schranken der Wirklichkeit? Nein, der heitere
Schmelz bewahrt sich nicht, und die beglückende Beweglichkeit erstarrt; was
bleibt, was an die Stelle tritt, ist nur ein gelegentliches, roheres Walten jener
Phantasie der Sinne, darein sich vielfach Gefühlsantriebe nicht der reinsten
Art mischen. Man schwelgt wohl in der Vorstellung von den maßlosen Ge¬
nüssen, die man sich in der jenseitigen Welt der Vornehmen gestatten könne
und gestatte, von den Haufen und Scheffeln von Gold, in denen man dort
wühle, von den ungemischten und gehäuften Freuden, die der Tag dort bringe.
Das tritt an die Stelle der harmlosen Kindervorstellungen vom Zauberreich
der Feen. Allerdings nährt man sich noch gern von Geschichten, deren Vor¬
gänge außerhalb des Zusammenhangs der engen Wirklichkeit liegen: die Ge¬
spenster treten an die Stelle der Feen und Niesen; von Hexen und Hexerei
hört man immer wieder gläubig, was sich die Leute zuraunen. Ein heiteres
Angesicht hat diese Dichtung (wenn wir den Namen gebrauchen wollen) selten,
sie läßt das Herz erbeben in dem Bewußtsein der dunkeln Abgründe, die das
Menschendasein umspielen. Daß übrigens auch sonst noch ein schöner Vorrat
von Volkserzählungen und Liedern vorhanden sei, wer will das leugnen, wenn
man auf das Ganze sieht, das Ganze durchforscht! Aber eine große Rolle
für das innere Leben des Volkes spielen zur Zeit diese Geschichten schwerlich
Mehr; auch für das Volk ist die Gegenwart nicht mehr unbewegt genug, das
Bedürfnis des ruhigen Hinausträumens nahe zu legen, und die Phantasie des
Herzens ergeht sich nicht weit, die Zeit ist ihr nicht eben günstig. Das Edelste,
was diese Phantasie des Herzens überhaupt schafft, ist ja das Lied, ist die


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[0363] Volk und Jugend Märchenwelt die jugendlichen Seelen in ihrem Zauber gefangen nimmt, ist die, wo die wirkliche Welt aufgehört hat, durch neue Eindrücke immer wieder neue Welten aufzuschließen, und wo andrerseits das junge Herz soviel von Liebe und Angst und vom Unterschied von gut und böse empfunden hat, daß es die Gestalten und Geschicke aus der Märchenwelt mit einer unvergleichlich vollen, reinen Teilnahme begleitet. Später entwickelt sich — ihrerseits wieder in verschiednen Formen, Tönen und Abstufungen — die Phantasie des Willens: es ist die Periode, wo nach einander Mythologisch-Heroisches, dann Rüuber- und Jndianergeschichten und Sceabenteuer, schließlich aber die Größe geschicht¬ licher oder dichterischer Gestalten die Seele füllen und anregen, sodaß sie ihnen nicht bloß beschauend folgt, sondern mit ihnen lebt und strebt und will und wagt. Wird es auch des Volkes Sache sein, soviel vom jugendlichen Wesen zu bewahren? Was die himmlische Gabe für die Kindheitsjahre, die leuchtende Kraft für das Jünglingsalter ist, das muß eben doch und wird zergehen, wenn diese Jahre selbst entschwinden, und den Einfachen und Armen am Geist bleibt davon wahrlich nicht mehr, als den durch Bildungsreife Bevor¬ zugten. Oder böte dort doch die gaukelnde Phantasie einen Ersatz für die von allen Seiten einengendem Schranken der Wirklichkeit? Nein, der heitere Schmelz bewahrt sich nicht, und die beglückende Beweglichkeit erstarrt; was bleibt, was an die Stelle tritt, ist nur ein gelegentliches, roheres Walten jener Phantasie der Sinne, darein sich vielfach Gefühlsantriebe nicht der reinsten Art mischen. Man schwelgt wohl in der Vorstellung von den maßlosen Ge¬ nüssen, die man sich in der jenseitigen Welt der Vornehmen gestatten könne und gestatte, von den Haufen und Scheffeln von Gold, in denen man dort wühle, von den ungemischten und gehäuften Freuden, die der Tag dort bringe. Das tritt an die Stelle der harmlosen Kindervorstellungen vom Zauberreich der Feen. Allerdings nährt man sich noch gern von Geschichten, deren Vor¬ gänge außerhalb des Zusammenhangs der engen Wirklichkeit liegen: die Ge¬ spenster treten an die Stelle der Feen und Niesen; von Hexen und Hexerei hört man immer wieder gläubig, was sich die Leute zuraunen. Ein heiteres Angesicht hat diese Dichtung (wenn wir den Namen gebrauchen wollen) selten, sie läßt das Herz erbeben in dem Bewußtsein der dunkeln Abgründe, die das Menschendasein umspielen. Daß übrigens auch sonst noch ein schöner Vorrat von Volkserzählungen und Liedern vorhanden sei, wer will das leugnen, wenn man auf das Ganze sieht, das Ganze durchforscht! Aber eine große Rolle für das innere Leben des Volkes spielen zur Zeit diese Geschichten schwerlich Mehr; auch für das Volk ist die Gegenwart nicht mehr unbewegt genug, das Bedürfnis des ruhigen Hinausträumens nahe zu legen, und die Phantasie des Herzens ergeht sich nicht weit, die Zeit ist ihr nicht eben günstig. Das Edelste, was diese Phantasie des Herzens überhaupt schafft, ist ja das Lied, ist die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/363>, abgerufen am 29.12.2024.