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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeicmias Gotthelf

Pfarrer, Pfarrersfrau, Pfarrerstochter, ein übereifriger Vikar, ein junger Arzt,
der Vertreter der Humanität ohne Religion, werden die Hauptpersonen, und
damit nimmt, so hübsch, ja bedeutend auch manche Einzelheiten noch sind, das
Gefallen an dem Werke ab, zumal auch immer mehr an Stelle der Erzählung
die Diskussion tritt. "Anne Bahl Jowüger" hat denn von Gotthelfs Er¬
zählungen auch wohl am wenigsten Glück gemacht, obwohl das Werk nach der
Seite der Menschendarstellung hinter den andern nicht zurücksteht. Aber es
enthält wie der "Schulmeister" vieles, was von außen hineingekommen und
jetzt nur noch kulturgeschichtlich merkwürdig ist.

In den ersten vierziger Jahren gab Vitzius auch einen Kalender heraus,
für den er manche kleinere Sachen schrieb, auch politisch-satirische. Da um
diese Zeit das politische Leben der Schweiz sehr lebhaft wurde und den Pfarrer
von Lützelflüh für immer in seine Kreise zog und alle seine spätern Werke
beeinflußte, so ist es hier wohl um Platze, seine politische Stellung etwas
näher zu betrachten. Sie hängt sehr eng mit seiner religiösen zusammen, über
die man sich fast ans allen seinen Werken, namentlich aus "Anne Badl
Jowäger" unterrichten kann. Viele von seinen Gegnern haben in ihm immer
den "Pfaffen" gesehen, selbst Gottfried Keller redet von der pfäffischen und
bösartigen Manier Gotthelfs, seiner frivolen und materialistischen Ader. Aber
man kann solche Behauptungen gar nicht kräftig genug bekämpfen, sie beruhen auf
einem vollständigen Verkennen der Eigenart des Mannes. Vitzius verleugnet
allerdings den Geistlichen nie, aber seine theologische Weltanschauung, an und
für sich gewiß ebenso berechtigt wie jede andre und auch nicht enger als andre,
hat ihn. um die drastischen Ausdrücke zu wühlen, weder dumm noch schlecht
gemacht, es ist nichts Pfäffisches in ihm. Sein Christentum ist ein Helles,
weltfreudiges Christentum, aber freilich geistiger, nicht materialistischer Natur.
Steht auch der Satz "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen" Gotthelf
seinem praktischen Wesen gemäß an der Spitze der christlichen Lehre, er ver¬
langt doch zuerst die vollständige Durchdringung des Lebens mit dem echten
christlichen Geiste, der ihm ebenso weit von Mystik und Asketik wie von sü߬
lichen Pietismus und seichtem Rationalismus entfernt ist. Will man seine
Stellung innerhalb des Christentums näher bezeichnen, so könnte man etwa
von einem "höhern Nationalismus" reden, der nicht rein verstandesgemäß ist,
sondern Herz und Gemüt einschließt, und dieser Rationalismus ist ja wohl in
der reformirten Kirche, der Bitzius angehört, immer herrschend gewesen, sodaß
der Pfarrer dann wieder als orthodox erscheint, wie er denn auch die Not¬
wendigkeit des Landeskirche stets betont hat. Aber alle diese Untersuchungen
haben bei ihm im Grunde wenig Zweck; wie sein Biograph mit Recht sagt:
die religiösen Parteibezeichnungen gelten ihm als ganz wertlos an sich, weil
er einen ganz andern Maßstab anlegt. Sein Christentum ist ein natür¬
liches Christentum, nicht aus dogmatischen Studien und philosophischen


Jeicmias Gotthelf

Pfarrer, Pfarrersfrau, Pfarrerstochter, ein übereifriger Vikar, ein junger Arzt,
der Vertreter der Humanität ohne Religion, werden die Hauptpersonen, und
damit nimmt, so hübsch, ja bedeutend auch manche Einzelheiten noch sind, das
Gefallen an dem Werke ab, zumal auch immer mehr an Stelle der Erzählung
die Diskussion tritt. „Anne Bahl Jowüger" hat denn von Gotthelfs Er¬
zählungen auch wohl am wenigsten Glück gemacht, obwohl das Werk nach der
Seite der Menschendarstellung hinter den andern nicht zurücksteht. Aber es
enthält wie der „Schulmeister" vieles, was von außen hineingekommen und
jetzt nur noch kulturgeschichtlich merkwürdig ist.

In den ersten vierziger Jahren gab Vitzius auch einen Kalender heraus,
für den er manche kleinere Sachen schrieb, auch politisch-satirische. Da um
diese Zeit das politische Leben der Schweiz sehr lebhaft wurde und den Pfarrer
von Lützelflüh für immer in seine Kreise zog und alle seine spätern Werke
beeinflußte, so ist es hier wohl um Platze, seine politische Stellung etwas
näher zu betrachten. Sie hängt sehr eng mit seiner religiösen zusammen, über
die man sich fast ans allen seinen Werken, namentlich aus „Anne Badl
Jowäger" unterrichten kann. Viele von seinen Gegnern haben in ihm immer
den „Pfaffen" gesehen, selbst Gottfried Keller redet von der pfäffischen und
bösartigen Manier Gotthelfs, seiner frivolen und materialistischen Ader. Aber
man kann solche Behauptungen gar nicht kräftig genug bekämpfen, sie beruhen auf
einem vollständigen Verkennen der Eigenart des Mannes. Vitzius verleugnet
allerdings den Geistlichen nie, aber seine theologische Weltanschauung, an und
für sich gewiß ebenso berechtigt wie jede andre und auch nicht enger als andre,
hat ihn. um die drastischen Ausdrücke zu wühlen, weder dumm noch schlecht
gemacht, es ist nichts Pfäffisches in ihm. Sein Christentum ist ein Helles,
weltfreudiges Christentum, aber freilich geistiger, nicht materialistischer Natur.
Steht auch der Satz „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen" Gotthelf
seinem praktischen Wesen gemäß an der Spitze der christlichen Lehre, er ver¬
langt doch zuerst die vollständige Durchdringung des Lebens mit dem echten
christlichen Geiste, der ihm ebenso weit von Mystik und Asketik wie von sü߬
lichen Pietismus und seichtem Rationalismus entfernt ist. Will man seine
Stellung innerhalb des Christentums näher bezeichnen, so könnte man etwa
von einem „höhern Nationalismus" reden, der nicht rein verstandesgemäß ist,
sondern Herz und Gemüt einschließt, und dieser Rationalismus ist ja wohl in
der reformirten Kirche, der Bitzius angehört, immer herrschend gewesen, sodaß
der Pfarrer dann wieder als orthodox erscheint, wie er denn auch die Not¬
wendigkeit des Landeskirche stets betont hat. Aber alle diese Untersuchungen
haben bei ihm im Grunde wenig Zweck; wie sein Biograph mit Recht sagt:
die religiösen Parteibezeichnungen gelten ihm als ganz wertlos an sich, weil
er einen ganz andern Maßstab anlegt. Sein Christentum ist ein natür¬
liches Christentum, nicht aus dogmatischen Studien und philosophischen


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[0333] Jeicmias Gotthelf Pfarrer, Pfarrersfrau, Pfarrerstochter, ein übereifriger Vikar, ein junger Arzt, der Vertreter der Humanität ohne Religion, werden die Hauptpersonen, und damit nimmt, so hübsch, ja bedeutend auch manche Einzelheiten noch sind, das Gefallen an dem Werke ab, zumal auch immer mehr an Stelle der Erzählung die Diskussion tritt. „Anne Bahl Jowüger" hat denn von Gotthelfs Er¬ zählungen auch wohl am wenigsten Glück gemacht, obwohl das Werk nach der Seite der Menschendarstellung hinter den andern nicht zurücksteht. Aber es enthält wie der „Schulmeister" vieles, was von außen hineingekommen und jetzt nur noch kulturgeschichtlich merkwürdig ist. In den ersten vierziger Jahren gab Vitzius auch einen Kalender heraus, für den er manche kleinere Sachen schrieb, auch politisch-satirische. Da um diese Zeit das politische Leben der Schweiz sehr lebhaft wurde und den Pfarrer von Lützelflüh für immer in seine Kreise zog und alle seine spätern Werke beeinflußte, so ist es hier wohl um Platze, seine politische Stellung etwas näher zu betrachten. Sie hängt sehr eng mit seiner religiösen zusammen, über die man sich fast ans allen seinen Werken, namentlich aus „Anne Badl Jowäger" unterrichten kann. Viele von seinen Gegnern haben in ihm immer den „Pfaffen" gesehen, selbst Gottfried Keller redet von der pfäffischen und bösartigen Manier Gotthelfs, seiner frivolen und materialistischen Ader. Aber man kann solche Behauptungen gar nicht kräftig genug bekämpfen, sie beruhen auf einem vollständigen Verkennen der Eigenart des Mannes. Vitzius verleugnet allerdings den Geistlichen nie, aber seine theologische Weltanschauung, an und für sich gewiß ebenso berechtigt wie jede andre und auch nicht enger als andre, hat ihn. um die drastischen Ausdrücke zu wühlen, weder dumm noch schlecht gemacht, es ist nichts Pfäffisches in ihm. Sein Christentum ist ein Helles, weltfreudiges Christentum, aber freilich geistiger, nicht materialistischer Natur. Steht auch der Satz „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen" Gotthelf seinem praktischen Wesen gemäß an der Spitze der christlichen Lehre, er ver¬ langt doch zuerst die vollständige Durchdringung des Lebens mit dem echten christlichen Geiste, der ihm ebenso weit von Mystik und Asketik wie von sü߬ lichen Pietismus und seichtem Rationalismus entfernt ist. Will man seine Stellung innerhalb des Christentums näher bezeichnen, so könnte man etwa von einem „höhern Nationalismus" reden, der nicht rein verstandesgemäß ist, sondern Herz und Gemüt einschließt, und dieser Rationalismus ist ja wohl in der reformirten Kirche, der Bitzius angehört, immer herrschend gewesen, sodaß der Pfarrer dann wieder als orthodox erscheint, wie er denn auch die Not¬ wendigkeit des Landeskirche stets betont hat. Aber alle diese Untersuchungen haben bei ihm im Grunde wenig Zweck; wie sein Biograph mit Recht sagt: die religiösen Parteibezeichnungen gelten ihm als ganz wertlos an sich, weil er einen ganz andern Maßstab anlegt. Sein Christentum ist ein natür¬ liches Christentum, nicht aus dogmatischen Studien und philosophischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/333>, abgerufen am 24.07.2024.