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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

gegenüber keine feste Stellung. Sie ist eben noch nicht genug Person oder
gar Persönlichkeit. Sie wird bestimmt, beherrscht, gewandelt von den Einzel¬
eindrücken der Außenwelt, zu der namentlich auch die Welt der Mitmenschen
gehört, aber sie setzt auch wieder vielfach der Außenwelt eine spröde Unem-
pfänglichkeit gegenüber. Das Gesamtleben des Reifen und Gebildeten ist in
gewissem Sinne mehr von außen nach innen verlegt; jedenfalls ist die Ver¬
bindung zwischen außen und innen eine viel mannichfachere. Namentlich aber
ist sein Leben bewußter; die Bewußtheit, deren Dämmerstufe die Tierwelt von
der sonstigen organischen und der unorganischen Welt scheidet, und die denn
in reinerer Form, in größerer Helle der Vorzug des Menschen vor der Tier¬
welt ist, die Bewußtheit ist wieder der Entwicklung zu höhern Stufen fähig,
und ihre höhere Entwicklung ist eben eins der Unterscheidungsmerkmale oder
vielmehr ein unterscheidender Besitz der Gebildeten. Und zu allein, der feinern
und vollem Organisation, der festern Zentralisation und dem entwickeltem
Bewußtsein, deren gemeinsame Wirkung denn auch eine vollere, reichere und
reinere Spiegelung der Welt im Innern des Gebildeten ist, zu cilledem kommt
hinzu die sichrere und harmonischere Selbstdarstellung der Person.

Nicht als ob solche Vorzüge allen denen zuerkannt werden sollten, die
gegenwärtig bei der thatsächlichen, mehr äußern oder doch mehr nur sozialen
Scheidung auf die Seite der sogenannten Gebildeten zu stehen kommen oder
sich selbst stellen. Von ihnen hat ja ein großer Teil fast nur den Wert der
Volksstufe verloren und keinen nennenswerten andern dafür gewonnen. Und
das ist nicht etwa Folge einer mehr zufälligen Verkehrtheit unsrer Kulturein¬
richtungen und Wertabschätzungen, es kann nicht einfach gescholten und morgen
oder übermorgen abgestellt werden, obwohl man die Sache offenbar oft so
ansieht. Bildung nach dem vollen und echten Sinne des Worts ist etwas so
hohes, Bildung nämlich als Umbildung des bloß Natürlichen, als Heraus¬
bildung und Verwirklichung einer neuen, höhern Natur, daß eine gewisse Ver¬
fehlung des eigentlichen Zieles stets das Wahrscheinlichere bleibt. Wenn in
der Natur jede einzelne ausreifende Frucht geblieben und gewachsen ist zwischen
zahlreichen tauben und abgefallnen Blüten, wenn dort überall von vielen
Lebenskeimen nur einzelne zu wirklichem Leben gelangen, dann wird es in der
Kulturwelt der Menschen nicht gänzlich anders sein können. Ist also Bildung
-- es ist nicht übel, daß dies Wort nach seiner Form eigentlich einen Vor¬
gang ausdrückt, viel mehr als ein Ergebnis -- ein Ideal, das nur ein kleiner
Bruchteil von der immer rascher anschwellenden Schar der "Gebildeten" in
einem erträglichen Grade verwirklicht oder auch nur erstrebt, so giebt es doch
eben eine Welt der wirklich Gebildeten, die denn auch als Gegenstand ver¬
gleichender Beobachtung uns Licht geben kann für die Betrachtung der jen¬
seits liegenden Welt des Volkes wie der der Jugend. Aber auch der Blick
auf die nur sogenannten Gebildeten, die Halbgebildeten (wobei der Wert nicht


Volk und Jugend

gegenüber keine feste Stellung. Sie ist eben noch nicht genug Person oder
gar Persönlichkeit. Sie wird bestimmt, beherrscht, gewandelt von den Einzel¬
eindrücken der Außenwelt, zu der namentlich auch die Welt der Mitmenschen
gehört, aber sie setzt auch wieder vielfach der Außenwelt eine spröde Unem-
pfänglichkeit gegenüber. Das Gesamtleben des Reifen und Gebildeten ist in
gewissem Sinne mehr von außen nach innen verlegt; jedenfalls ist die Ver¬
bindung zwischen außen und innen eine viel mannichfachere. Namentlich aber
ist sein Leben bewußter; die Bewußtheit, deren Dämmerstufe die Tierwelt von
der sonstigen organischen und der unorganischen Welt scheidet, und die denn
in reinerer Form, in größerer Helle der Vorzug des Menschen vor der Tier¬
welt ist, die Bewußtheit ist wieder der Entwicklung zu höhern Stufen fähig,
und ihre höhere Entwicklung ist eben eins der Unterscheidungsmerkmale oder
vielmehr ein unterscheidender Besitz der Gebildeten. Und zu allein, der feinern
und vollem Organisation, der festern Zentralisation und dem entwickeltem
Bewußtsein, deren gemeinsame Wirkung denn auch eine vollere, reichere und
reinere Spiegelung der Welt im Innern des Gebildeten ist, zu cilledem kommt
hinzu die sichrere und harmonischere Selbstdarstellung der Person.

Nicht als ob solche Vorzüge allen denen zuerkannt werden sollten, die
gegenwärtig bei der thatsächlichen, mehr äußern oder doch mehr nur sozialen
Scheidung auf die Seite der sogenannten Gebildeten zu stehen kommen oder
sich selbst stellen. Von ihnen hat ja ein großer Teil fast nur den Wert der
Volksstufe verloren und keinen nennenswerten andern dafür gewonnen. Und
das ist nicht etwa Folge einer mehr zufälligen Verkehrtheit unsrer Kulturein¬
richtungen und Wertabschätzungen, es kann nicht einfach gescholten und morgen
oder übermorgen abgestellt werden, obwohl man die Sache offenbar oft so
ansieht. Bildung nach dem vollen und echten Sinne des Worts ist etwas so
hohes, Bildung nämlich als Umbildung des bloß Natürlichen, als Heraus¬
bildung und Verwirklichung einer neuen, höhern Natur, daß eine gewisse Ver¬
fehlung des eigentlichen Zieles stets das Wahrscheinlichere bleibt. Wenn in
der Natur jede einzelne ausreifende Frucht geblieben und gewachsen ist zwischen
zahlreichen tauben und abgefallnen Blüten, wenn dort überall von vielen
Lebenskeimen nur einzelne zu wirklichem Leben gelangen, dann wird es in der
Kulturwelt der Menschen nicht gänzlich anders sein können. Ist also Bildung
— es ist nicht übel, daß dies Wort nach seiner Form eigentlich einen Vor¬
gang ausdrückt, viel mehr als ein Ergebnis — ein Ideal, das nur ein kleiner
Bruchteil von der immer rascher anschwellenden Schar der „Gebildeten" in
einem erträglichen Grade verwirklicht oder auch nur erstrebt, so giebt es doch
eben eine Welt der wirklich Gebildeten, die denn auch als Gegenstand ver¬
gleichender Beobachtung uns Licht geben kann für die Betrachtung der jen¬
seits liegenden Welt des Volkes wie der der Jugend. Aber auch der Blick
auf die nur sogenannten Gebildeten, die Halbgebildeten (wobei der Wert nicht


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[0320] Volk und Jugend gegenüber keine feste Stellung. Sie ist eben noch nicht genug Person oder gar Persönlichkeit. Sie wird bestimmt, beherrscht, gewandelt von den Einzel¬ eindrücken der Außenwelt, zu der namentlich auch die Welt der Mitmenschen gehört, aber sie setzt auch wieder vielfach der Außenwelt eine spröde Unem- pfänglichkeit gegenüber. Das Gesamtleben des Reifen und Gebildeten ist in gewissem Sinne mehr von außen nach innen verlegt; jedenfalls ist die Ver¬ bindung zwischen außen und innen eine viel mannichfachere. Namentlich aber ist sein Leben bewußter; die Bewußtheit, deren Dämmerstufe die Tierwelt von der sonstigen organischen und der unorganischen Welt scheidet, und die denn in reinerer Form, in größerer Helle der Vorzug des Menschen vor der Tier¬ welt ist, die Bewußtheit ist wieder der Entwicklung zu höhern Stufen fähig, und ihre höhere Entwicklung ist eben eins der Unterscheidungsmerkmale oder vielmehr ein unterscheidender Besitz der Gebildeten. Und zu allein, der feinern und vollem Organisation, der festern Zentralisation und dem entwickeltem Bewußtsein, deren gemeinsame Wirkung denn auch eine vollere, reichere und reinere Spiegelung der Welt im Innern des Gebildeten ist, zu cilledem kommt hinzu die sichrere und harmonischere Selbstdarstellung der Person. Nicht als ob solche Vorzüge allen denen zuerkannt werden sollten, die gegenwärtig bei der thatsächlichen, mehr äußern oder doch mehr nur sozialen Scheidung auf die Seite der sogenannten Gebildeten zu stehen kommen oder sich selbst stellen. Von ihnen hat ja ein großer Teil fast nur den Wert der Volksstufe verloren und keinen nennenswerten andern dafür gewonnen. Und das ist nicht etwa Folge einer mehr zufälligen Verkehrtheit unsrer Kulturein¬ richtungen und Wertabschätzungen, es kann nicht einfach gescholten und morgen oder übermorgen abgestellt werden, obwohl man die Sache offenbar oft so ansieht. Bildung nach dem vollen und echten Sinne des Worts ist etwas so hohes, Bildung nämlich als Umbildung des bloß Natürlichen, als Heraus¬ bildung und Verwirklichung einer neuen, höhern Natur, daß eine gewisse Ver¬ fehlung des eigentlichen Zieles stets das Wahrscheinlichere bleibt. Wenn in der Natur jede einzelne ausreifende Frucht geblieben und gewachsen ist zwischen zahlreichen tauben und abgefallnen Blüten, wenn dort überall von vielen Lebenskeimen nur einzelne zu wirklichem Leben gelangen, dann wird es in der Kulturwelt der Menschen nicht gänzlich anders sein können. Ist also Bildung — es ist nicht übel, daß dies Wort nach seiner Form eigentlich einen Vor¬ gang ausdrückt, viel mehr als ein Ergebnis — ein Ideal, das nur ein kleiner Bruchteil von der immer rascher anschwellenden Schar der „Gebildeten" in einem erträglichen Grade verwirklicht oder auch nur erstrebt, so giebt es doch eben eine Welt der wirklich Gebildeten, die denn auch als Gegenstand ver¬ gleichender Beobachtung uns Licht geben kann für die Betrachtung der jen¬ seits liegenden Welt des Volkes wie der der Jugend. Aber auch der Blick auf die nur sogenannten Gebildeten, die Halbgebildeten (wobei der Wert nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/320>, abgerufen am 04.07.2024.