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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

werkern Bestellungen machen, die Herren und Herrinnen über Dienstboten, die
Reisenden, die in Bergdörfern Landaufenthalt nehmen usw., das heißt doch
wohl so ziemlich wir alle. Und so könnten wir wirklich das Volk wohl
kennen, wenn es uns nicht fast immer nur bestimmte Seiten darböte, ge¬
wissermaßen in einer lwssua irg.mea, einer Vermittlungssprache, mit uns redete,
und wenn wir alle sehr gute Augen Hütten, Augen des Verstandes und des
Herzens, die Fähigkeit, uus wirklich in fremdes Leben hineinzuversetzen, das
Interesse, auch das Gewöhnliche zu beachte" und in Betracht zu ziehen, den
Ernst, aus eigner Beobachtung ein Bild zu gewinnen. Man braucht die
Menschen noch nicht zu schelten, wenn sie nicht das alles ausweisen und ver¬
wirkliche!:, welches Recht hätte man dazu? Aber man darf ja wohl seinerseits
und auf seine Weise nach Klarheit streben und sich davon auch Frucht ver¬
sprechen und andre einladen, sich el" wenig mit zu besinnen.

Aber meine Überschrift heißt: Volk und Jugend, und mein Gedanke dabei
war, wie man leicht erraten wird, der, daß das Verständnis der Jugend zum
Verständnis des Volkes hinleiten könne, wie übrigens auch das Umgekehrte
gelten könnte. Licht wird von dem einen herüber auf das andre fallen, fo
wie Erde und Mond einander Licht zusenden, wenn sie, der eine oder die andre,
von draußen, von der Sonne her erhellt werden.

Verständnis der Jugend -- ist es nicht jedem leicht zugänglich? Wir
berühren uns, wenn wir nicht Einsiedler oder Menschenfeinde sind, beständig
äußerlich und innerlich mit der Jugend, beobachten sie leicht, da sie sich ja nicht
versteckt, sondern unbefangen um uns herumwirbelt, und wir haben in eigner
Brust die Erinnerung und mehr oder minder stark das Nachleben der jugend¬
lichen Regungen: so weit diese Lebenswirklichkeit hinter uns liegt, so sehr
hegen wir sie mit Liebe. Aber daß uns die charakteristischen Erscheinungs¬
formen des jugendlichen Wesens vertraut sind, verbürgt nicht, daß wir hier
zusammenhängende Vorstellungen, klar geordnet, besäßen. Auch muß im
Grunde das hellste Auge immer wieder in neuer Weise sehen lernen.

Im ganzen hat die Gegenwart, hat unser Jahrhundert unverkennbar die
Jugend besser auffassen lernen als die vorhergehende Zeit. Eine Kinderdichtung,
so echt, wie sie uns Robert Reinick gab und manche seiner Genossen, war
früher nicht in der Welt; auch Kindergestalten zeichnerisch aufzufassen und
wiederzugeben hat man niemals so vermocht, wie es gegenwärtig von großen
und kleinen Künstlern allenthalben geübt wird, Kindernatur und -bewegung
in ihren echten, so freien und mannichfaltigen und immer anmutigen Linien.
An Jugendschriften wird ja neben Gutem auch heute sehr viel Mittelmäßiges
und Gemachtes geboten, aber der rechte Ton wird doch leichter und öfter ge¬
troffen, als in der Zeit der moralisirenden oder süßlichen Jugendschriftstellerei
von ehedem. Und wie die Wirklichkeit des Jugendlebens und seine innern Be¬
dürfnisse beobachtet und gewürdigt werden, so werden seine Rechte mehr als


Volk und Jugend

werkern Bestellungen machen, die Herren und Herrinnen über Dienstboten, die
Reisenden, die in Bergdörfern Landaufenthalt nehmen usw., das heißt doch
wohl so ziemlich wir alle. Und so könnten wir wirklich das Volk wohl
kennen, wenn es uns nicht fast immer nur bestimmte Seiten darböte, ge¬
wissermaßen in einer lwssua irg.mea, einer Vermittlungssprache, mit uns redete,
und wenn wir alle sehr gute Augen Hütten, Augen des Verstandes und des
Herzens, die Fähigkeit, uus wirklich in fremdes Leben hineinzuversetzen, das
Interesse, auch das Gewöhnliche zu beachte» und in Betracht zu ziehen, den
Ernst, aus eigner Beobachtung ein Bild zu gewinnen. Man braucht die
Menschen noch nicht zu schelten, wenn sie nicht das alles ausweisen und ver¬
wirkliche!:, welches Recht hätte man dazu? Aber man darf ja wohl seinerseits
und auf seine Weise nach Klarheit streben und sich davon auch Frucht ver¬
sprechen und andre einladen, sich el» wenig mit zu besinnen.

Aber meine Überschrift heißt: Volk und Jugend, und mein Gedanke dabei
war, wie man leicht erraten wird, der, daß das Verständnis der Jugend zum
Verständnis des Volkes hinleiten könne, wie übrigens auch das Umgekehrte
gelten könnte. Licht wird von dem einen herüber auf das andre fallen, fo
wie Erde und Mond einander Licht zusenden, wenn sie, der eine oder die andre,
von draußen, von der Sonne her erhellt werden.

Verständnis der Jugend — ist es nicht jedem leicht zugänglich? Wir
berühren uns, wenn wir nicht Einsiedler oder Menschenfeinde sind, beständig
äußerlich und innerlich mit der Jugend, beobachten sie leicht, da sie sich ja nicht
versteckt, sondern unbefangen um uns herumwirbelt, und wir haben in eigner
Brust die Erinnerung und mehr oder minder stark das Nachleben der jugend¬
lichen Regungen: so weit diese Lebenswirklichkeit hinter uns liegt, so sehr
hegen wir sie mit Liebe. Aber daß uns die charakteristischen Erscheinungs¬
formen des jugendlichen Wesens vertraut sind, verbürgt nicht, daß wir hier
zusammenhängende Vorstellungen, klar geordnet, besäßen. Auch muß im
Grunde das hellste Auge immer wieder in neuer Weise sehen lernen.

Im ganzen hat die Gegenwart, hat unser Jahrhundert unverkennbar die
Jugend besser auffassen lernen als die vorhergehende Zeit. Eine Kinderdichtung,
so echt, wie sie uns Robert Reinick gab und manche seiner Genossen, war
früher nicht in der Welt; auch Kindergestalten zeichnerisch aufzufassen und
wiederzugeben hat man niemals so vermocht, wie es gegenwärtig von großen
und kleinen Künstlern allenthalben geübt wird, Kindernatur und -bewegung
in ihren echten, so freien und mannichfaltigen und immer anmutigen Linien.
An Jugendschriften wird ja neben Gutem auch heute sehr viel Mittelmäßiges
und Gemachtes geboten, aber der rechte Ton wird doch leichter und öfter ge¬
troffen, als in der Zeit der moralisirenden oder süßlichen Jugendschriftstellerei
von ehedem. Und wie die Wirklichkeit des Jugendlebens und seine innern Be¬
dürfnisse beobachtet und gewürdigt werden, so werden seine Rechte mehr als


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[0318] Volk und Jugend werkern Bestellungen machen, die Herren und Herrinnen über Dienstboten, die Reisenden, die in Bergdörfern Landaufenthalt nehmen usw., das heißt doch wohl so ziemlich wir alle. Und so könnten wir wirklich das Volk wohl kennen, wenn es uns nicht fast immer nur bestimmte Seiten darböte, ge¬ wissermaßen in einer lwssua irg.mea, einer Vermittlungssprache, mit uns redete, und wenn wir alle sehr gute Augen Hütten, Augen des Verstandes und des Herzens, die Fähigkeit, uus wirklich in fremdes Leben hineinzuversetzen, das Interesse, auch das Gewöhnliche zu beachte» und in Betracht zu ziehen, den Ernst, aus eigner Beobachtung ein Bild zu gewinnen. Man braucht die Menschen noch nicht zu schelten, wenn sie nicht das alles ausweisen und ver¬ wirkliche!:, welches Recht hätte man dazu? Aber man darf ja wohl seinerseits und auf seine Weise nach Klarheit streben und sich davon auch Frucht ver¬ sprechen und andre einladen, sich el» wenig mit zu besinnen. Aber meine Überschrift heißt: Volk und Jugend, und mein Gedanke dabei war, wie man leicht erraten wird, der, daß das Verständnis der Jugend zum Verständnis des Volkes hinleiten könne, wie übrigens auch das Umgekehrte gelten könnte. Licht wird von dem einen herüber auf das andre fallen, fo wie Erde und Mond einander Licht zusenden, wenn sie, der eine oder die andre, von draußen, von der Sonne her erhellt werden. Verständnis der Jugend — ist es nicht jedem leicht zugänglich? Wir berühren uns, wenn wir nicht Einsiedler oder Menschenfeinde sind, beständig äußerlich und innerlich mit der Jugend, beobachten sie leicht, da sie sich ja nicht versteckt, sondern unbefangen um uns herumwirbelt, und wir haben in eigner Brust die Erinnerung und mehr oder minder stark das Nachleben der jugend¬ lichen Regungen: so weit diese Lebenswirklichkeit hinter uns liegt, so sehr hegen wir sie mit Liebe. Aber daß uns die charakteristischen Erscheinungs¬ formen des jugendlichen Wesens vertraut sind, verbürgt nicht, daß wir hier zusammenhängende Vorstellungen, klar geordnet, besäßen. Auch muß im Grunde das hellste Auge immer wieder in neuer Weise sehen lernen. Im ganzen hat die Gegenwart, hat unser Jahrhundert unverkennbar die Jugend besser auffassen lernen als die vorhergehende Zeit. Eine Kinderdichtung, so echt, wie sie uns Robert Reinick gab und manche seiner Genossen, war früher nicht in der Welt; auch Kindergestalten zeichnerisch aufzufassen und wiederzugeben hat man niemals so vermocht, wie es gegenwärtig von großen und kleinen Künstlern allenthalben geübt wird, Kindernatur und -bewegung in ihren echten, so freien und mannichfaltigen und immer anmutigen Linien. An Jugendschriften wird ja neben Gutem auch heute sehr viel Mittelmäßiges und Gemachtes geboten, aber der rechte Ton wird doch leichter und öfter ge¬ troffen, als in der Zeit der moralisirenden oder süßlichen Jugendschriftstellerei von ehedem. Und wie die Wirklichkeit des Jugendlebens und seine innern Be¬ dürfnisse beobachtet und gewürdigt werden, so werden seine Rechte mehr als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/318>, abgerufen am 24.07.2024.